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# taz.de -- Russischer Journalismus: Die dunkle Seite der Arktis
> Die NGO Arctida macht auf Probleme in Russlands Polarregion aufmerksam:
> Klima, Korruption, Rechte Indigener – und hat sich mächtige Feinde
> geschaffen.
Bild: Norilsk, no fun: Eine Straße führt von Norilsk, der nördlichsten Groß…
Sie mögen unsere Arbeit nicht. Weil wir Probleme ansprechen“, sagt Ilia
Shumanov, Co-Gründer der Nichtregierungsorganisation Arctida. Von der
russischen Regierung wird Shumanov als „ausländischer Agent“ geführt.
Shumanov ist mit der taz am Telefon verbunden, seine Stimme hallt etwas,
das Büro in Tbilisi, Georgien, von wo aus er derzeit im Exil arbeitet, ist
eher spartanisch eingerichtet. Shumanov erzählt davon, wie er die
Aufmerksamkeit der russischen Behörden erregt hat. Und er fügt ironisch
hinzu: „Vielleicht sollten wir im Rahmen unserer Arbeit mehr über Eisbären
veröffentlichen. Aber wir sprechen eben über die dunkle Seite der Arktis.“
Die russische Arktis ist eine abgeschottete Region, die durch die
Auswirkungen des Klimawandels, verstärkte strategische und kommerzielle
Aktivitäten der Regierung und eine strenge Kontrolle der lokalen
Gemeinschaften gekennzeichnet ist. Shumanov und sein Team haben sich zum
Ziel gesetzt, aufzudecken, was nicht an die Öffentlichkeit dringt:
Kleptokratie, Umweltschäden und die Unterdrückung der indigenen Völker im
hohen Norden. Doch die Berichterstattung ist mit Online-Angriffen
verbunden, die darauf abzielen, die Arbeit von Shumanov und Arctida zu
diskreditieren und zu verleumden.
Einerseits [1][leidet die Arktis zunehmend unter den Auswirkungen des
Klimawandels] und der Umweltzerstörung. Doch unbenommen davon steigt das
wirtschaftliche Interesse, das die russische Regierung wie auch Unternehmen
in dieser Region haben. Die Verlierer in diesem Spiel sind die Menschen und
Ökosysteme vor Ort.
Der russische Antikorruptionsexperte und Journalist Shumanov erlebte dies
aus erster Hand, als er im Jahr 2020 zum ersten Mal mit einigen Freunden zu
einer Expedition in die russische Arktis aufbrach. Während dieser Reise war
Shumanov, so berichtet er selbst, tief berührt von dem krassen Unterschied
zu den europäischen arktischen Gemeinden, die er zuvor besucht hatte. Die
Dörfer seien oftmals verlassen gewesen, die Infrastruktur unterentwickelt
und die Hoffnung auf eine bessere Zukunft fehlte.
„Wenn man nach Norwegen reist, gibt es Hoffnung, und die Menschen sind
gerne dort. Sie sehen es als ihr Zuhause an, sie wollen diese Orte nicht
verlassen. Sie wollen sie weiterentwickeln und sehen dort eine Zukunft“,
sagt Shumanov. „Aber als ich in die russische Arktis kam, fehlte es an
Hoffnung und an einer Zukunft für diese Orte.“
In der Region leben derzeit 2,4 Millionen Menschen, was einem Rückgang um
ein Drittel der Bevölkerung seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion
entspricht, da viele die Region aufgrund der sich verschlechternden
sozialen Infrastruktur, des rauen Klimas und der schlechten Lebensqualität
verlassen haben.
„Ich habe angefangen, über den Klimawandel und seine globalen Auswirkungen
nachzudenken“, fährt Shumanov fort. „Alle schreiben über den Krieg, aber
die Menschen, die in Regionen wie Tschukotka leben, sollten auch Teil des
Interesses der Medien sein. Wir müssen auch verstehen, was dort passiert.“
Die Geschichten dieser Gemeinden und die Umweltzerstörung will Shumanov
erzählen. Aus diesem Grund gründete er 2022 zusammen mit Marina Guryeva die
gemeinnützige Organisation Arctida, die nur ein Jahr später eine wichtige
Lücke füllen sollte: 2023 mussten Organisationen wie Greenpeace und WWF das
Land verlassen, da sie nach dem „Ausländische Agenten“-Gesetz als
„unerwünscht“ eingestuft wurden und ihre Arbeit verboten wurde.
Shumanov und Guryeva recherchieren seitdem zu Themen, die sich in den
nördlichen Regionen fernab der Öffentlichkeit abspielen und publizieren sie
online auf ihrer Website und liefern somit auch wertvolle Recherchedaten
für andere Medien, die sich mit der Region befassen.
„Das war eine neue Art, über Russland nachzudenken“, sagt Shumanov und
betont, dass die Arktis vorwiegend im Zusammenhang mit wirtschaftlichen
oder strategischen Interessen verstanden wird. Regierungsangelegenheiten
und den Umgang mit indigenen Gemeinschaften in der russischen Arktis unter
die Lupe zu nehmen, geschieht jedoch nicht ohne Risiko.
Während das Eis schmilzt, nehmen die geopolitischen Spannungen in der
Arktis zu, und nationale Regierungen wie die Kanadas, der [2][USA, Chinas
und Russlands versuchen, die natürlichen Ressourcen in der Region
auszubeuten], neue Schifffahrtsrouten zu erobern und strategische Standorte
für militärische und geopolitische Zwecke zu nutzen. Die jüngste Äußerung
des [3][US-Präsidenten, er wolle Grönland „kaufen“], ist nur ein Beispiel
für die zunehmende Bedeutung der Region. Russland hält 53 Prozent an der
Arktis, was das Gebiet für den Kreml aus vielen Gründen besonders wertvoll
macht.
In den vergangenen zehn Jahren hat Russlands Präsident Wladimir Putin seine
militärische und industrielle Präsenz in der Arktis ausgebaut. Dazu gehören
die Wiedereröffnung von militärischen Stützpunkten aus der Sowjetzeit und
der Bau neuer Stützpunkte, die Stärkung der Nordflotte mit ihrem
Hauptquartier in Seweromorsk und der Aufbau von Infrastruktur in dem
riesigen arktischen Gebiet. Der Kreml stellt seine militärische Aufrüstung
als Antwort auf die zunehmenden Aktivitäten der Nato in der Region dar.
Wirtschaftlich gesehen verfügt die Arktis über riesige unerschlossene
Reserven an Öl, Gas und wichtigen Mineralien sowie an Fischerei und Holz –
Ressourcen, die der Kreml als lebenswichtig für die Wirtschaft und die
nationale Sicherheit des Landes ansieht, insbesondere angesichts von
Sanktionen des Westens. Dies hat häufig zu Konflikten mit den zahlreichen
indigenen Völkern geführt, die diese Gebiete bewohnen.
Das kleine Team von Arctida, das aus 15 Mitgliedern besteht, berichtet über
diese Themen, oft in Zusammenarbeit mit internationalen Medien, und hat
kürzlich recherchiert, wie der Kohleabbau die lokalen Gemeinschaften in
der russischen Arktis beeinträchtigt und gleichzeitig die Rechte der
indigenen Bevölkerung verletzt. „Die arktische Zone steht unter der totalen
Kontrolle halbstaatlicher und staatlicher Akteure, was bedeutet, dass sie
nicht nur alle Ressourcen, sondern auch die Gebiete und die Menschen in
diesen Gebieten kontrollieren“, betont Shumanov.
„Unsere letzte Expedition nach Tschukotka hat beispielsweise die Probleme
in diesem Zusammenhang offengelegt, da wir feststellen konnten, wie ein
großes Unternehmen die Ökologie in diesem Gebiet zerstören und Druck auf
indigene Gemeinschaften ausüben kann, während gleichzeitig Oligarchen
profitieren.“
Kleptokratie und Korruption, das seien die beiden grundsätzlichen Probleme,
mit denen die Menschen in der russischen Arktis zu kämpfen hätten, fährt er
fort, „denn der Großteil der russischen Infrastrukturprojekte,
einschließlich Öl, Gas und Kohlenwasserstoff, gehört russischen Oligarchen
oder staatlichen Unternehmen wie Rosatom und Rostec“.
Die kritische Berichterstattung von Shumanov und seinem Team blieb
allerdings nicht lange unbemerkt. Bald wurde das Team zum Ziel von
Desinformationsattacken.
Die Repression unabhängiger Berichterstattung in Russland hat sich nach dem
Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 noch verschärft. Die Unterdrückung
unabhängiger Medien und die Verfolgung von Journalisten sind weiter
eskaliert und haben viele von ihnen ins Exil getrieben, während die
Berichterstattung aus dem Inneren Russlands immer schwieriger und
gefährlicher geworden ist.
Die lokalen Medien in der Region sind entweder staatlich kontrolliert oder
im Besitz russischer Konzerne und dienen in erster Linie dazu, die
Darstellung des Kremls zu verstärken. Für unabhängige Journalisten ist die
Reise in die nördlichen Regionen mit Herausforderungen verbunden. Es ist
nicht nur teuer, sondern ein Großteil des Archipels und mehrere Städte sind
aufgrund ihrer militärischen oder industriellen Bedeutung Sperrgebiete. Für
den Zugang zu Großstädten wie Norilsk ist eine spezielle Reisegenehmigung
erforderlich, die kritischen oder unabhängigen Stimmen in der Regel
verweigert wird.
Eine auf Fakten basierende Klimaberichterstattung ist von Russland aus fast
unmöglich. Ein Mitarbeiter der NGO International Work Group for Indigenous
Affairs (IWGIA), der anonym bleiben möchte, sagt: „Die russische Regierung
hat dieses komplexe Netz repressiver Gesetzgebung geschaffen, das es sehr
schwer macht, überhaupt noch an unabhängige Berichterstattung heran zu
kommen. Die einzige Quelle unabhängiger Information in Russland ist
Telegram, wo es viele unabhängige Kanäle gibt, die nicht von der Regierung
gesteuert werden.“
Arctida sei gleich ins Exil gegangen, erzählt Shumanov. Ihre Recherchen
machen sie vor allem mit Hilfe von Satellitenbildern, und man habe
„Quellen“ in Russland selbst, auf die er zu deren Schutz nicht näher
eingehen könne.
Schon bevor er die Idee zu Arctida hatte, geriet Shumanov als Leiter von
Transparency International Russland ins Visier der Behörden. Die NGO widmet
sich der Aufdeckung und Bekämpfung von Korruption auf der ganzen Welt. Die
russische Organisation wurde 2015 als „ausländischer Agent“ eingestuft und
löste sich 2023 selbst auf, um eine strafrechtliche Verfolgung ihrer
Mitarbeiter zu vermeiden.
Shumanov traf auf Anraten seines Anwalts die Entscheidung, nach Georgien zu
gehen. Als Exekutivdirektor von Transparency International Russland wurde
er bereits auf einem kremlfreundlichen Telegram-Kanal diskreditiert, aber
eine koordiniertere Desinformationskampagne gegen ihn sollte erst noch
folgen.
Fünf Tage nach der Gründung von Arctida aus dem georgischen Exil heraus
wurde Shumanov selbst offiziell als „ausländischer Agent“ bezeichnet, und
im Juli und August 2023 wurde er von einem Moskauer Gericht zweimal in
Abwesenheit zu einer Geldstrafe verurteilt, weil er seine Telegram-Posts
nicht wie vorgeschrieben mit dem Hinweis „ausländischer Agent“ versehen
hatte.
Mit der zunehmenden Bekanntheit von Arctida wuchs auch der Druck des
russischen Staates. Im August 2024 veröffentlichte das Portal Recherchen,
wie Raipon, der Verband indigener Völker, von kremlnahen Akteuren als
Instrument für Klimalobbyarbeit genutzt wird. Außerdem berichtete Arctida
über die ökologischen und menschlichen Kosten des Kohleabbaus in
Tschukotka – und wurde bald zum Ziel von Desinformationskampagnen, die
darauf abzielten, die Arbeit der Organisation zu diskreditieren und ihren
Gründer noch weiter zu diffamieren. Shumanov wurde als politische Bedrohung
angesehen.
Staatlich finanzierte Medien wie RT (früher Russia today) und
kremlfreundliche Telegram-Kanäle veröffentlichten online Inhalte, in denen
Shumanov beschuldigt wurde, antirussische Propaganda zu verbreiten und
westliche Beziehungen zu pflegen. Kurz nach der Veröffentlichung von zwei
der Artikel verschärften die Behörden ihre Bemühungen: Gegen Shumanov wurde
ein Strafverfahren eingeleitet, weil er erneut gegen das Gesetz über
„ausländische Agenten“ verstoßen habe, und er wurde Ende August 2024 auf
die föderale Fahndungsliste gesetzt.
Im November 2024 beschuldigte eine vermeintliche Nachrichtenseite Shumanov
des Krypto-Betrugs und der Korruption und veröffentlichte außerdem eine
Kopie der Registrierungsunterlagen von Arctida und Shumanovs Reisepass.
Solche sensiblen persönlichen Informationen sind nicht öffentlich
zugänglich und ihre Weitergabe ist auch nach russischem Recht eigentlich
strafbar.
Shumanov erklärt: „Es ist unmöglich, dieses Material in den offiziellen
staatlichen Medien zu veröffentlichen, selbst sie müssen sich an gewisse
Regeln halten.“ Er fährt fort: „Es kümmert niemanden, wenn diese Website
gesperrt wird, der Autor ist unbekannt, er ist wahrscheinlich nicht einmal
in Russland ansässig.“ Der mutmaßliche Auftrag, Desinformationen zu
verbreiten und Shumanovs persönliche Sicherheit zu bedrohen, ist dennoch
erfüllt.
Für Shumanov ist seine Arbeit, auch wenn er sich unbeeindruckt gibt,
zunehmend ein Sicherheitsrisiko geworden, auch im Exil. Das Arctida-Team
bemühte sich sehr, den Artikel aus den Suchmaschinen zu löschen, was
teilweise auch gelang. „Sie wollen dich in eine sehr unangenehme Situation
bringen“, sagt er. „Die Botschaft ist klar: Wir wissen, wo du bist und was
du tust.“
Shumanov versuchte, bei der russischen Botschaft in Georgien einen neuen
Reisepass zu bekommen, aber sein Antrag wurde abgelehnt.
Im Dezember dann der nächste Angriff auf die NGO: Der pro-russische
militärische Telegram-Kanal Rybar, der fast 1,3 Millionen Anhänger hat,
publizierte einen Artikel in seinem Netzwerk in mehreren Sprachen und
Ländern. In dem Beitrag wurde behauptet, dass Arctida und Shumanov im
Besonderen „Sprachrohre westlicher Propaganda“ seien, ein üblicher Vorwurf
im russischen Spielbuch der Desinformation. Der Artikel erreichte
mindestens 1,4 Millionen Follower auf verschiedenen Kanälen.
Danach gab es keine weiteren Angriffe auf die Arbeit von Ilia Shumanov und
Arctida, die trotz der Herausforderungen und Drohungen weiterhin die
Rohstoffindustrie in der russischen Arktis und ihre Auswirkungen auf die
Menschen vor Ort untersuchen.
Denn wer macht es sonst, an diesem unwirtlichen Ort?
10 Jun 2025
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## AUTOREN
Hannah Thulé
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