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# taz.de -- Thomas Manns 150. Geburtstag: Vom Reaktionär zum Antifaschisten
> Zum 150. Geburtstag Thomas Manns sind seine Radioansprachen an die
> „Deutschen Hörer“ neu erschienen. Darin zeigt er sich als
> antifaschistischer Kämpfer.
Bild: Den Sommer 1933 verbringt Thomas Mann im französischen Exil in Sanary-su…
Es sollten nicht nur seine Worte, es sollte unbedingt auch seine Stimme
sein, die den Deutschen ins Gewissen redet und sie aufrüttelt. Seine eigene
Stimme. Kein Sprecher, der seinen Text vorliest. Das war ihm wichtig. Also
lässt sich Thomas Mann, der damals wahrscheinlich berühmteste lebende
Schriftsteller der Welt, vom März des Jahres 1941 an einmal im Monat in ein
Tonstudio in Hollywood fahren; er selbst fährt kein Auto, zeit seines
Lebens hat er keinen Führerschein gemacht, seine Frau Katia fährt ihn oder
seine Tochter Erika, zeitweise hat er auch einen Chauffeur.
In dem Tonstudio setzt er sich, ein Schriftsteller in seinen Sechzigern,
selbstverständlich auch im lockeren Kalifornien korrekt gekleidet, vor ein
Mikrofon und spricht seinen vorbereiteten Text ein. Das macht er den ganzen
weiteren Zweiten Weltkrieg so und noch ein paar Monate darüber hinaus, bis
zum November 1945. Fünf Minuten wollte der Fremdsprachendienst der BBC
jeweils von ihm haben, er hat den britischen Sender auf acht Minuten
hochgehandelt und sich alle inhaltlichen Freiheiten versichern lassen.
Dabei wird es bleiben.
Die Ansprache wird auf eine Schallplatte aufgenommen. Und während Thomas
Mann in sein Haus zurückgefahren wird, erst in ein gemietetes Anwesen, dann
ab dem Jahr 1942 nach 1550 San Remo Drive, Pacific Palisades, Los Angeles,
in die Villa, die er sich im Exil hat bauen lassen, wird die Schallplatte
per Boten zum Flughafen gebracht. Mit der nächsten Maschine geht sie nach
New York.
## Das Hören des Feindsenders stand unter Strafe
Dort wird sie vom Flughafen abgeholt. Eine Telefonverbindung zur BBC nach
London wird hergestellt. Die Schallplatte wird abgespielt und das
gesprochene Wort auf der anderen Seite des Atlantiks wieder auf
Schallplatte aufgenommen. Und schließlich werden die Ansprachen, wird
Thomas Manns Stimme nach Deutschland ausgestrahlt, wo das Hören des
Feindsenders unter Strafe steht und von Störsendern behindert wird. Wie
viele Menschen Thomas Mann tatsächlich zugehört haben, ist unklar.
Diese Rundfunkansprachen sind vom Fischer-Verlag in diesem Frühjahr unter
dem Titel „Deutsche Hörer!“ neu herausgebracht worden, mit aufrüttelnden
Begleittexten der Autorin Mely Kiyak und dem Vorwort zur allerersten
Ausgabe, in dem Thomas Mann mit erkennbarem Stolz auch von der technischen
Umsetzung dieser Ansprachen berichtet.
Der Weg dieser Schallplatte in all seinen Stationen vom sonnenbeschienenen
Kalifornien bis hin zum von der deutschen Luftwaffe bombardierten London
wäre übrigens ein guter Anfang für eine historische Miniserie. Der Kampf
gegen Nazideutschland vom Exil aus, überhaupt mal die Exilzeit in
Kalifornien, neben Thomas Mann waren auch Bertolt Brecht, Theodor W. Adorno
und viele andere da – vielleicht geht ja mal jemand so eine Serie an.
## Die Radioansprachen fügen dem Bild des Schriftstellers eine neue Facette
hinzu
Die Ansprachen, 59 sind es insgesamt, waren nun keineswegs unbekannt. Aber
sie sind lange Zeit nicht gewürdigt worden, als Gebrauchs- und Nebentexte
wurden sie abgetan. Dabei können sie, jetzt zum 150. Geburtstag Thomas
Manns am 6. Juni, seinem Bild nicht nur eine neue Facette hinzugeben, sie
können das Bild dieses Schriftstellers insgesamt verschieben oder
vielleicht eher wachrütteln. Und sie sind ein wahrer Fund in unser
Gegenwart mit ihrer erstarkten AfD und ihren weiteren politischen
Bedrängnissen.
In den Ansprachen zieht Thomas Mann alle Register. Er redet vom
„Teufelsdreck“ des Nationalsozialismus und seinem „Hass“ auf ihn. Hitler
bezeichnet er als „kümmerlichen Geschichtsschwindler und Falschsieger“, als
„stupiden Völkermörder“, „widerwärtig“, „eine hohle Nuss“, „id…
obszön“, die „abstoßendste Figur, auf die je das Licht der Geschichte
fiel“. Deutschland beschreibt er als „Amokläufer unter den Völkern“.
Manchmal spürt man, wie es ihm, der in seinen Texten sonst jedes Wort auf
die Goldwaage legt, schlicht ein Bedürfnis ist, in diesen Ansprachen seinem
Abscheu freien Lauf lassen zu können.
Hier spricht also nicht der Ironiker Thomas Mann. Auch nicht der Autor
brillanter Szenen aus dem Lübecker Großbürgertum oder der Vorkriegszeit in
einem Sanatorium im Gebirge. Und auch nicht der Schriftsteller, der sich in
vielen Andeutungen und komplizierten Formulierungen um seine Homosexualität
herumwindet. Hier spricht ein Autor im Kampfmodus. Spätestens ab 1930, als
die NSDAP in Deutschland bei den Reichstagswahlen auf 18,3 Prozent der
Stimmen kam, waren die Nazis nicht einfach mehr politische Gegner für ihn,
sie waren seine Feinde, so beschreibt es der Literaturwissenschaftler Kai
Sina in seiner erhellenden Studie „Was gut ist und was böse – Thomas Mann
als politischer Aktivist“.
Aber es bleibt in diesen Radioansprachen nicht bei dieser „Rhetorik des
entflammten Zorns“ (so der Mann-Forscher Dieter Borchmeyer). Thomas Mann
informiert die Deutschen auch über den Kriegsverlauf. Als die Wehrmacht
noch auf dem Vormarsch ist, fragt er, ob sie, die Deutschen, wirklich so
siegen wollen: „Die Welt, die das Ergebnis wäre vom Siege des Hitler, wäre
nicht nur eine Welt universeller Sklaverei, sondern auch eine Welt des
absoluten Zynismus.“ Später, als der Lauf des Krieges sich gewendet hat,
ermahnt er die Deutschen, dass ein Frieden unter diesem verbrecherischen
Regime nicht möglich sein wird.
## Thomas Mann konfrontiert seine Hörerinnen und Hörer früh mit dem
Holocaust
Er konfrontiert seine Hörerinnen und Hörer auch früh mit dem Holocaust. Im
November 1941 spricht er das „Unaussprechliche“ an, „das in Russland, mit
den Polen und Juden geschehen ist und geschieht“. Und als er im Verlauf des
Krieges die Opferzahlen immer höher setzen muss, fragt er seine Hörer
direkt: „Weißt du, der mich jetzt hört, von Hitlers Vernichtungslager? Aus
Knochenmehl wird Kunstdünger.“ Dass Auschwitz zum Signum der Epoche wird,
scheint ihm bereits klar zu sein.
Aber warum sollte es unbedingt seine eigene Stimme sein, die da spricht?
Zunächst waren noch die Manuskripte der Ansprachen nach London verschickt
und dort von einem Sprecher verlesen worden. In der Ansprache vom Februar
1941, der letzten der nur vorgelesenen, beschreibt Thomas Mann seine
Eindrücke von einer Rede Adolf Hitlers im Berliner Sportpalast und spart
dabei nicht mit Ausdrücken des Abscheus. Von „Hassgebrüll“ schreibt er, v…
einer „Verhunzung der deutschen Sprache“.
Das kann er nicht dulden. Dass die deutsche Sprache mit der lärmenden, sich
in seinen Ansprachen regelmäßig überschlagenden Stimme Adolf Hitlers
assoziiert wird, kann er nicht stehen lassen. Also spricht er gleich im
nächsten Monat die Ansprache selbst ins Mikrofon. „Diesmal hört ihr meine
eigene Stimme. Es ist die Stimme eines Freundes, eine deutsche Stimme“,
heißt es zu Beginn der Rede.
## Die Stimme Thomas Manns gegen die Stimme Hitlers
Die Stimme Thomas Manns gegen die Stimme Hitlers: ein Showdown für sich.
Dass man mit Worten allein gegen die deutsche Kriegsmaschinerie nicht
ankommt, weiß er selbst. Aber er legt Zeugnis ab. Indem er selbst in den
Ring steigt und seine Stimme gegen die Stimme Hitlers hält, bestreitet er
ganz konkret die Legitimation der Nazis, Deutschland als Ganzes zu
repräsentieren.
Beim Nachdenken darüber, wie es so weit kommen konnte, schont er
Deutschland allerdings keineswegs. Der Nationalsozialismus habe „lange
Wurzeln im deutschen Leben“, sagt er und meint damit den deutschen
Sonderweg der Romantik, deren Entartungsformen „den Keim mörderischer
Verderbnis immer in sich trugen“. Und weiter: „Zusammen mit Deutschlands
hervorragender Angepasstheit an das technische Zeitalter bilden sie heute
eine Sprengmischung, die die ganze Zivilisation bedroht.“
In gewisser Weise nimmt er auch die Westbindung voraus. Nicht in ihrem
Wortlaut, aber in der Art und Weise seiner Radioansprachen hat er sich, wie
Kai Sina herausgearbeitet hat, die Ansprachen des amerikanischen
Präsidenten Theodor Roosevelt und des britischen Premiers Winston Churchill
zum Vorbild genommen. Den Fake News und den auf Massensuggestion
ausgerichteten Inszenierungen der Nazis hält er ein Setzen auf Demokratie
und eine kämpferische Vernunft entgegen.
## „Das Recht, deutsch zu sein“
Es lohnt sich unbedingt, auch heute noch tiefer in diese Radioansprachen
einzusteigen. Man wird viele Argumente finden, die sich auch in der
gegenwärtigen Lage mit einer erstarkten AfD gut verwenden lassen. Vollends
aktuell klingt etwa, was Thomas Mann über Freiheit schreibt: „Der deutsche
Freiheitsbegriff war immer nur nach außen gerichtet; er meinte das Recht,
deutsch zu sein, nur deutsch und nichts anderes.“
Und weiter: „Er war ein protestierender Begriff selbstzentrierter Abwehr
gegen alles, was den völkischen Egoismus bedingen und einschränken, ihn
zähmen […] wollte.“ Und noch weiter: „Ein vertrotzter Individualismus na…
außen, im Verhältnis zur Welt, zu Europa, zur Zivilisation, vertrug er sich
im Inneren mit einem befremdenden Maß von Unfreiheit, Unmündigkeit, dumpfer
Untertänigkeit.“
Vertrotzter Individualismus und Unmündigkeit – was für Sätze! Von
Kulturpolitikern der AfD ist gelegentlich die Forderung zu hören, es
sollten wieder mehr deutsche Klassiker in den Schulen gelesen werden.
Verbunden ist das mit irgendwie antiwoken Hoffnungen, dann werde wieder
mehr Zucht und Ordnung (was immer das sein soll) in der Gesellschaft
einkehren. Im Falle des reifen Thomas Mann – der jüngere, der der
„Betrachtungen eines Unpolitischen“, hatte sich tatsächlich ins Reaktionä…
verrannt – braucht man sich da aber gar nicht Angst und Bange machen
lassen, wie bei vielen anderen deutschen Klassikern ja auch nicht. Es kommt
eben drauf an, wie man sie liest. Für völkisches Denken, überhaupt für
Autoritarismus vereinnahmen lässt sich Thomas Mann keineswegs.
## „Als verklemmter Homosexueller wurde er verspottet“
Wie konnte es geschehen, dass diese Ansprachen bislang so wenig in das
allgemeine Bild dieses Schriftstellers eingeflossen sind? In ihrem Nachwort
der Neuausgabe mutmaßt Mely Kiyak, es sei für die Deutschen halt bequemer
gewesen, sie zu vergessen. Sonst hätte „die große Deutschlanderzählung vom
Nichtwissen und Nichtmitgemachthaben nicht mehr gestimmt“. Und im Vorwort
des Bandes kommt sie grundsätzlich auf das Bild dieses Autors zu sprechen.
Porträts, Literaturbetrachtungen, Spielfilme und Biopics hätten ihn zu
„einer neurotischen Witzfigur karikiert und degradiert“, sagt sie da. „Als
verklemmter Homosexueller wurde er verspottet, als hypochondrisch,
wehleidig, verwöhnt, hartherzig zu seinen Kindern, bourgeois und so weiter
und so weiter. Man lachte sich über ihn in Deutschland kaputt.“
Das ist überpointiert. Außerdem hat es in Deutschland immer auch die Spur
einer unkritischen Würdigung dieses Autors gegeben: Geniekult, Feier der
Sublimierungskraft seiner artistischen Prosa einerseits, kostümfilmhaftes
Ausbeuten seiner Prominenz und pittoresken Szenerien rund um das Meer, die
Bürgerlichkeit, zerquälte Künstlerfiguren andererseits.
Doch es stimmt wahrscheinlich, dass das allgemeine Bild dieses Autors dazu
beigetragen hat, etwa seine antifaschistische Kämpferseite wegzudimmen.
Dieses Bild ist tatsächlich verstaubt. Und so lobenswert es sein mag, dass
die Wendung vom Reaktionär zum überzeugten Demokraten inzwischen in die
offizielle Selbstbeschreibung der Bundesrepublik aufgenommen wurde – auf
der Feier zum 150. Geburtstag in Lübeck wird der Bundespräsident sprechen
–, haftet dem in etwa die Sexiness von humanistischer Bildung an.
Thomas-Mann-Jubiläen haben leicht die Anmutung von Sekundarstufe II.
## Von antisemitischen Klischees lange keineswegs frei
Die Neuausgabe der „Deutschen Hörer!“ wirkt dagegen, als würde frischer
Wind durch dieses Leben und literarische Werk wehen. Passend dazu zeichnet
der Literaturwissenschaftler Kai Sina in seinem Buch die Wandlung des
reaktionären Thomas Mann des Ersten Weltkrieg erst zum aktivistischen
Verteidiger der Demokratie in der Weimarer Republik, dann zum
antifaschistischen Kämpfer in allen Ambivalenzen nach. Diese Wandlung
verlief nicht gradlinig. Dabei spart Sina auch die fragwürdigen Seiten
Thomas Manns nicht aus, der etwa von antisemitischen Klischees lange
keineswegs frei war.
Man kann es anders akzentuieren als Mely Kiyak: Was in
Thomas-Mann-Jubiläen zuletzt Pfeffer gebracht hatte, waren gerade die
skeptischen und anklagenden Blicke auf seine fragwürdigen Seiten als
Patriarch in all seiner emotionalen Distanziertheit – als würde die
Nachwelt so ablehnend auf ihn schauen wie seine Figur Hanno auf die
protestantische Leistungsethik seines Vaters Thomas Buddenbrook.
Doch bei diesem 150. Geburtstag ist etwas anders: Thomas Mann selbst
beginnt noch einmal interessant zu glänzen. Von den Radioansprachen aus
lässt sich jedenfalls auch wieder neugierig auf sein literarisches Spätwerk
blicken: Warum hat er sich für die Sprachakrobatik seiner Joseph-Romane
eine jüdische Vorlage gesucht? Zu welchen Anteilen arbeitet er im „Doktor
Faustus“ die zum Nationalsozialismus führende deutsche Kulturgeschichte
auf, und zu welchen Anteilen verbrämt er sie als ins Nationale gewendetes
Außenseitertum?
## „Hunde im Souterrain“
Auch sonst gewinnt Thomas Manns Leben derzeit noch einmal neu Kontur. Denn
so viel über ihn schon geschrieben worden ist – ganze Bibliotheken voll –,
nicht nur über seinen politischen Aktivismus, auch über seine
Homosexualität war noch nicht alles gesagt worden. Oder eher: waren die
biografischen Tatsachen noch nicht deutlich genug berücksichtigt worden.
Das unternimmt jetzt der Autor Tilmann Lahme in seiner soeben erschienenen
Biografie „Thomas Mann. Ein Leben“. Lahme beschreibt Thomas Mann als
eindeutig homosexuellen Mann, der seine Homosexualität, die „Hunde im
Souterrain“, wie es bei Mann heißt, aber nicht auslebt – ein, so Lahme,
„lebenslanger Kampf, der im Leben, im Tagebuch und in der Literatur
ausgetragen wird“. Dabei stützt sich Lahme auf Briefe, die bislang noch
nicht gedruckt, und auf Stellen des Tagebuchs, die bislang in den
Druckfassungen weggelassen worden sind.
Die ganze Tragik eines solchen Lebens wird so deutlich – mit
Kollateralschäden etwa auch für die Ehefrau Katia Mann, auf die Tilmann
Lahme auch zu sprechen kommt. Das Besondere daran, was mit dem schlimmen
Wort „verkniffen“ auch so wahnsinnig schlecht beschrieben ist: Das alles
war Thomas Mann selbst bewusst. Er panzert sich nicht gegen sein
eigentliches Begehren – oder jedenfalls tut er es nicht die ganze Zeit über
–, er hat Zugang zu seinen Gefühlen, formuliert sie auch, wenn auch auf
seine Weise, verliebt sich auch immer wieder, wenn auch stets unglücklich.
Die restriktiven Kältelehren, mit denen er aufgewachsen ist, waren zu
stark. Das alles beschreibt Lahme in all seinen Ambivalenzen.
So nah uns Thomas Mann in seinem politischen Aktivismus kommen kann, so
weit entrückt er sich von der Gegenwart wiederum in seinem Gefühlsleben.
Man kann nur froh sein, dass es zwischen Thomas Manns Lebenszeit und der
heutigen Zeit die sexuelle Revolution gegeben hat und in ihrem Gefolge
viele sexuelle Liberalisierungen gesellschaftlich umgesetzt worden sind.
Bei aller Bewunderung für seine schriftstellerischen Fähigkeiten lässt
Lahme auch in der literarischen Einschätzung Thomas Manns Ambivalenzen zu.
Madame Chauchat wird, da hat Lahme recht, in der zweiten Hälfte des
„Zauberbergs“ von der aufregenden Femme fatale der ersten Hälfte zur
Begleiterin eines reichen Mannes, Mynheer Peeperkorns, degradiert. Außer in
den „Buddenbrooks“ (Tony!) sind Frauenfiguren sowieso nicht Thomas Manns
Stärke. Und viele Beschreibungen in den Joseph-Romanen sind ihm dann doch
zu ornamental und ausufernd geraten.
An einer Stelle seiner Biografie wundert sich Tilmann Lahme darüber, warum
sich ausgerechnet der „Tod in Venedig“ so lange auf den gymnasialen
Lehrplänen gehalten hat. Tatsächlich werden heutige Schüler*innen nur
noch mit Verwunderung lesen, wie gewunden diese Novelle das Thema
Homosexualität angeht. Und sie werden das Stalking des 14-jährigen Tadzio
durch einen alternden Mann eher in MeToo-Kontexte einordnen als unter
„tragisches Künstlerschicksal“. Überhaupt sind die pathetischen Subtöne …
Künstler-Bürger-Gegensatzes, die sein Werk durchziehen, inzwischen eher
historisch geworden (auch wenn das zu akzeptieren Menschen wie mir, die
damit teilweise literarisch sozialisiert worden sind, schwerfällt).
Aber andere Aspekte seines Werkes glänzen weiterhin oder sogar neu.
Elektrisierend bei Tilmann Lahme etwa die Abschnitte über den „Zauberberg“.
Man gewinnt den Eindruck, dass unsere gegenwärtige Gesellschaft in ihrem
Kampf um die Mitte und mit der Neuen Rechten den Bildungsroman zwischen
Antipolitik und Verantwortungsübernahme, den Thomas Mann beschreibt,
derzeit in der Wirklichkeit nachholen muss. Ausgang noch offen. Und
entlastet von Sublimierungsgedanken, kann man sich auch der schieren
Sprachartistik, an vielen Stellen auch des Sprachrausches seiner Bücher
hingeben. Irgendwo ist es schlicht beeindruckend, welche Mühe er sich damit
gegeben hat.
Vorschlag: Statt den „Tod in Venedig“ könnte man in der Schule einige
Radioansprachen des „Deutsche Hörer!“-Bandes lesen und von ihnen ausgehend
über deutsche Geschichte und heutige Politik reden. Und wer mag und einen
Sinn dafür hat, kann im Laufe seines Leselebens aus dem „Tod in Venedig“
oder auch aus „Tonio Kröger“, wie etwa aus manchen steinernen
Heiligendarstellungen an Kathedralen oder manchen Entsagungsarien in der
klassischen Oper, den Schmerz herausfühlen, den Thomas Mann in diese Texte
hineingepackt hat.
5 Jun 2025
## AUTOREN
Dirk Knipphals
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