| # taz.de -- „Zauberberg“ bei Salzburger Festspielen: Die Bestie Mensch | |
| > Fünfstündige Theaterséance in Salzburg: Krystian Lupa liest Thomas Manns | |
| > „Zauberberg“ als Prophetie der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. | |
| Bild: 100 Jahre „Zauberberg“ bei den Salzburger Festspielen | |
| Wirklich Ahnung hatte der Hamburger Kaufmannssohn Hans Castorp (Donatas | |
| Želvys) nur von Schiffen. Sie zu bauen hatte der junge Ingenieur gerade | |
| erst gelernt, zumindest theoretisch. Auf dem Trockendock des noblen | |
| Lungensanatoriums in den Schweizer Bergen, das er anno 1907 besucht, nützt | |
| ihm das wenig. Aber das Morbide dort fesselt ihn, ebenso der moribunde | |
| Schatten auf seiner Lunge. | |
| Sieben Jahre und über tausend Romanseiten später hat Castorp unter | |
| Sterbenden dann doch etwas vom Leben gelernt, um sogleich in den | |
| Stahlgewittern des Ersten Weltkriegs außer Sicht zu geraten. Ob er da heil | |
| wieder herausgekommen ist, bleibt unerheblich. Das bürgerliche Subjekt, wie | |
| [1][Thomas Mann es in seinem Bildungsroman „Der Zauberberg“] mit | |
| umgekehrten Vorzeichen so präzise herauspräpariert hat, steht in den | |
| Kriegen und Genoziden des 20. Jahrhunderts ohnehin zur Disposition. | |
| Es bleiben Abbrucharbeiten an einer verflossenen bürgerlichen Kultur, die | |
| unentwegt darüber redet, wie die Welt zu gestalten sei, und doch nur ihren | |
| anonymen Kräften ausgeliefert ist. Im Malstrom des Erzählens wird der | |
| Autor, der von 1912 bis 1924 daran schrieb, ein anderer. Mann befreit sich | |
| darin vom 19. Jahrhundert, wird vom wilhelminischen Hurrapatrioten zum | |
| Demokraten und Weltbürger, der später der Auslöschung der Demokratie nur | |
| weichen kann. | |
| Ein Jahrhundert nach Erscheinen des Romans, entwickelt der polnische | |
| Regisseur Krystian Lupa seine Lesart des „Zauberbergs“ in einer | |
| Koproduktion [2][der Salzburger Festspiele] mit dem Jaunimo Teatras in | |
| Vilnius/Litauen. An Stoffanleihen des Romans für Film und Theater ist kein | |
| Mangel. Was kommt bei Lupa hinzu? Seine Sicht auf Manns Roman ist die des | |
| Futur II. | |
| Er befragt den „Zauberberg“ nach den Gründen für das, was nach ihm gewesen | |
| sein wird. Schon in der Anfangsszene mischt sich eine Person in der | |
| gestreiften Häftlingskleidung der Konzentrationslager unter das Ensemble, | |
| als Castorp noch, ganz 19. Jahrhundert, von romantischer Todesfaszination | |
| eingelullt ist. | |
| Lupas Interesse gilt dabei eher der anthropologischen Reflexion als der | |
| materiellen Geschichte. Er fragt nach der Affektkontrolle der Bestie Mensch | |
| unter der brüchigen Sedimentschicht einer Zivilisation. Der nicht sehr | |
| freudianische Analytiker Dr. Krokowski (Ignas Ciplijauskas) führt in das | |
| dunkle Land des Unbewussten. | |
| Seine Quacksalberei einer spiritistischen Sitzung, die Castorps | |
| verstorbenen Verwandten kontaktieren soll, eskaliert, bis die Projektion | |
| verstümmelter Leichen der Schlachtfelder der Weltkriege sie überlagert. | |
| Nicht Castorps Verwandter erscheint, sondern der Mann in | |
| Sträflingskleidung. Freeze! Die Aufführung ist nach fünf Stunden zu Ende. | |
| Über dieses Ende fällt es schwer, glücklich zu sein. Das Bild bedeutet | |
| offenbar an anderen Orten anderes. In einem Land der Täter gerät es leicht | |
| zum nachträglichen Antifaschismus, der nichts kostet. | |
| Ein weiteres Moment in Lupas Annäherung ist nach wie vor die | |
| Wiedereroberung einer europäischen Perspektive auf die Literatur. Von | |
| Vilnius aus betrachtet hat man noch immer genug von der kulturellen | |
| Unterfütterung imperialer Ansprüche – aus Deutschland wie aus Russland. | |
| ## Expressive Bildwelten beim Künstler Lupa | |
| Entgegen einst deutschtümelnder Germanisten ist „Der Zauberberg“ sehr wohl | |
| zu übersetzen, wenn auch nicht ohne Schwierigkeiten, ins Englische wurde es | |
| fünfmal versucht. Das Problem scheint darin zu bestehen, nicht all zu viel | |
| vom Witz verloren gehen zu lassen, von dem Manns Sprache in ihrem Wohlklang | |
| wie in ihrer buchhalterischen Präzision nur so schwelgt. Gelegentlich kommt | |
| im Salzburger Landestheater eine vor Schönheit sterben wollende | |
| Tschechow-Atmosphäre auf, wo man sie nicht vermutet hatte. | |
| Daran kranken vor allem Castorps unter aller Förmlichkeit verborgene | |
| Entdeckung [3][einer queeren Identität] und das aufflackernde Begehren nach | |
| der geheimnisvollen Madame Chauchat (Alvydė Pikturnaitė). Sonst ist alles | |
| da: die philosophischen Debatten zwischen dem fortschrittlichen | |
| Settembrini und Naphta, dem Reaktionär, Mynheer Peeperkorns allzu | |
| pathetischer Suizid, Castorps Schneetraum. | |
| Lupa, der bildender Künstler ebenso wie Regisseur ist, „übermalt“ den | |
| Tisch-und-Stuhl-Realismus der Bühne mit der Projektion expressiver | |
| Bildwelten. Dabei gelingt dann doch nicht in vollem Umfang, was der Roman | |
| so trefflich vermag, mit den Mitteln des Realismus den größtmöglichen | |
| Wahnsinn zu erzeugen. | |
| 21 Aug 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Uwe Mattheiß | |
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