| # taz.de -- Zwei Dostojewski-Opern in Salzburg: Mitgefühl und Schönheit | |
| > Die Oper „Der Idiot“ nach Dostojewski hat den Salzburger Festspielen | |
| > einen überraschenden Erfolg beschert. Etwas hölzern war dagegen „Der | |
| > Spieler“. | |
| Bild: Weinbergs letzte Oper „Der Idiot“ wird zum Überraschungserfolg der S… | |
| Salzburg taz | Die ganz große Bühne gehört in diesem Jahr den Russen: Die | |
| Felsenreitschule mit ihrer vierzig Meter breiten Bühne und ihren | |
| archaischen Arkaden bietet den grandiosen Rahmen für zwei Raritäten, die | |
| den sperrigen Schwerpunkt des Opernprogramms bilden. Der seit 2016 | |
| amtierende Intendant Markus Hinterhäuser beharrt mit Mieczysław Weinbergs | |
| nahezu unbekannter Oper „Der Idiot“ und Sergej Prokofjews Frühwerk „Der | |
| Spieler“ stoisch auf seiner Linie, russische Kultur nicht auszugrenzen – | |
| auch der umstrittene Dirigent Teodor Currentzis ist nach wie vor gut | |
| beschäftigt in Salzburg –, sondern offensiv zur Diskussion zu stellen. | |
| So las etwa Burg-Schauspieler Michael Maertens aus den satirischen Briefen | |
| von [1][Alexej Nawalny] und Putin-Kritikerin Nina Chruschtschowa, die | |
| Urenkelin des einstigen sowjetischen Parteichefs Nikita Chruschtschow, | |
| hielt die Eröffnungsrede. | |
| Unbeirrt hält Hinterhäuser auch an seinen Lieblingsregisseuren fest, die in | |
| diesem Jahr für die Raritäten zuständig sind: [2][Peter Sellars] für „Der | |
| Spieler“ und [3][Krzysztof Warlikowski] für „Der Idiot“. [4][Mieczysław | |
| Weinberg]s letzte Oper wird zum Triumph und Überraschungserfolg des | |
| Festspieljahrgangs. Die posthum 2013 uraufgeführte Oper entstand 1986/87, | |
| der polnisch-russische Komponist jüdischer Herkunft gehörte lange zu den | |
| großen Unbekannten des 20. Jahrhunderts. | |
| Małgorzata Szczęśniak hat die Steinwände der Felsenreitschule mit | |
| nussbraunen Holzpaneelen verkleidet, die auch als Videoprojektionsflächen | |
| dienen, außerdem gibt es einen fahrbaren Raum und eine rote Sitzgruppe, die | |
| zu Beginn ein Zugabteil vorstellt. | |
| ## Naiver Mensch und Gottesnarr | |
| Darin sitzt der Titelheld, Fürst Myschkin, auf dem Weg zurück von einem | |
| Sanatoriumsaufenthalt in der Schweiz nach St. Petersburg. Im Zug lernt er, | |
| während per Video die endlosen russischen Landschaften vorbeiziehen, | |
| Rogoschin und Lebedjew kennen. Letzterer fungiert in der Folge als | |
| Kommentator und Erzähler des Fortgangs der Geschichte, während Rogoschin | |
| ihm von seiner Passion für die schlecht beleumundete Nastassja Filippowna | |
| erzählt. | |
| In Russland angekommen, merkt Myschkin, der als naiver Mensch und | |
| Gottesnarr geschildert wird, dass ihm Russland und sein raues Klima fremd | |
| geworden sind. Dennoch mischt er sich in die von Neid, Geldgier und | |
| Nihilismus zerfressene Petersburger Gesellschaft, schwankt zwischen | |
| Rogoschins Geliebter und Aglaja, einer der drei unverheirateten Töchter der | |
| entfernt verwandten Familie Jepantschin, macht eine erhebliche Erbschaft | |
| und verstrickt sich immer tiefer in den Konflikt zwischen dem Drang, | |
| Nastassja aus mitleidiger Liebe zu retten oder sich für Aglaia zu | |
| entscheiden. | |
| Am Ende ersticht Rogoschin Nastassja, die Oper endet damit, dass beide | |
| Männer neben der Leiche auf dem Bett liegen. | |
| Warlikowski deutet den Titelhelden als Menschen, der anfangs weltfern | |
| Formeln von Einstein und Newton an eine Tafel schreibt. Myschkin ist von | |
| zarter Statur, ein rätselhafter Typ, der stets die Wahrheit sagt, ein Don | |
| Quixote oder doch eher ein Wiedergänger Christi? Beständig wiederholt er | |
| seine Glaubenssätze: „Mitgefühl ist das einzige Gesetz des Menschseins“ u… | |
| „Schönheit rettet die Welt“. | |
| ## Eigene Körpersprache für jede Figur | |
| Im dritten Akt stellt Warlikowski eine Parallele her zu Holbeins | |
| schockierend realistischem Bild „Der tote Christus im Grab“, das | |
| Dostojewski mehrfach im Basler Museum besuchte: Nach einem epileptischen | |
| Anfall bettet er Myschkin fast nackt in derselben Pose unter das Bild. | |
| Warlikowskis analytisch ansetzende Regiepranke verzettelt sich diesmal | |
| nicht in übercodierten Rätselbildern, sondern findet für jede Figur eine | |
| eigene Körpersprache, einen subtil ausbalancierten Ausdruck, sodass | |
| packende Konstellationen entstehen, an deren psychologischer Tiefenschärfe | |
| man sich kaum sattsehen kann. Es gibt auch simultane Szenen, aber alles | |
| macht Sinn und fügt sich zu bannenden Tableaus, fast vier Stunden herrscht | |
| atemlose Spannung auf der Bühne. | |
| Auch deshalb, weil im Graben die junge litauische Dirigentin Mirga | |
| Gražinytė-Tyla die Zügel fest in der Hand hält und Weinbergs hoch komplexe | |
| Partitur sensibel auslotet und ihren extremen Härten keineswegs ausweicht. | |
| Weinbergs Tonsprache ist ungemein dicht gewirkt, steht Schostakowitsch | |
| nahe, kennt Ironie, integriert elegant Jazzelemente und klassizistische | |
| Passagen und ist ungeheuer dynamisch, farbig, packend. | |
| ## Großartiges Ensemble | |
| Die Wiener Philharmoniker sitzen hörbar auf der Stuhlkante und bieten ihren | |
| ganzen Schönklang auf, aber auch zuschlagende Wucht. Das stilprägend | |
| besetzte Ensemble wird überstrahlt vom Myschkin des Bogdan Volkov. Der an | |
| Mozart geschulte Tenor ist eine Spur zu schlank für Weinbergs riesigen | |
| Orchesterapparat, aber gerade die lyrische Zartheit und seine | |
| darstellerische Intensität ergeben ein zutiefst berührendes Rollenporträt. | |
| Gewohnt großartig Ausrine Stundyte als gefallene Nastassja, famos Vladislav | |
| Sulminsky als Rogoschin, Iurii Samoilov als Lebedjew, Xenia Puskarz Thomas | |
| als Aglaja und eigentlich alle weiteren kleineren Rollen. Großer, | |
| verdienter Jubel für eine Pioniertat. | |
| Zehn Tage später schweben über der Bühne für [5][Prokofjews] „Der Spieler… | |
| seltsame Gebilde, die auf den ersten Blick wie Ufos wirken, die | |
| Steinarkaden sind nun verspiegelt, moosige Flechten wachsen über Gestein | |
| und Bühnenboden. Die Ufos fahren immer wieder blinkend herab und entpuppen | |
| sich als monströse Roulettekessel, die auf der ansonsten leeren Bühne | |
| (George Tsypin) Las-Vegas-Atmosphäre verbreiten sollen. | |
| Denn Peter Sellars verlegt die Handlung aus dem 19. Jahrhundert, als die | |
| Upperclass ihrer feudalen Spielneigung nachging, in eine nicht näher | |
| bestimmte Gegenwart. In heutigem Prekariatsdress bevölkern abgerockte | |
| Normalos die Bühne und tippen auf ihren Smartphones. | |
| Neben der Hauptfigur, dem spielsüchtigen Hauslehrer Alexsej, geht es um | |
| einen abgewirtschafteten General, der auf die Erbschaft seiner reichen | |
| Großtante Babulenka aus Moskau spekuliert. Doch statt zu sterben, taucht | |
| die Tante putzmunter auf und verzockt innerhalb kürzester Zeit ihr gesamtes | |
| Geld. Dann erspielt Alexej sich ein kleines Vermögen, mit dem er seine | |
| Angebetete Polina beeindrucken will. Doch die Sucht treibt ihn immer | |
| weiter. | |
| ## Tempo des Sprechtheaters | |
| „Der Spieler“ ist über weite Strecken ein personell groß besetztes | |
| Kammerspiel, das ohne Arien sich in knapper, rezitativischer | |
| Wort-für-Wort-Vertonung dem Tempo des Sprechtheaters nähert. Das verliert | |
| sich phasenweise auf der großen Bühne, zumal man häufig suchen muss, wer | |
| denn nun gerade singt. Nur die große Rouletteszene, als der Chor der Wiener | |
| Staatsoper die Bühne stürmt, nimmt Fahrt auf und hat Spannung. Den | |
| holzschnittartig gezeichneten Figuren Prokofjews gibt Sellars kaum mehr | |
| Profil. Was nicht ganz falsch ist, wollte doch Prokofjew eher in | |
| objektivierender Weise gesellschaftliche Selbstzerstörungsprozesse und | |
| Tableaus zeigen. | |
| Im Graben weicht Timur Zangiev dem ruhelosen Hämmern und den explosiven | |
| Entladungen der durchlaufenen Rhythmen Prokofjews nicht aus, sondern spitzt | |
| sie zu, die Wiener sind erneut grandios, aus dem festspielwürdig besetzten | |
| Ensemble ragen heraus Sean Panikkars intensiver Alexej, Asmik Grigorians | |
| mit glühendem Sopran gesungene Polina und Violeta Urmanas flammende | |
| Babulenka. Erneut großer Jubel | |
| 13 Aug 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] /Beerdigung-von-Alexej-Nawalny/!5993312 | |
| [2] /Bremer-Oppenheimer-Oper-Doctor-Atomic/!5958446 | |
| [3] /Salzburger-Festspiele-trotz-Corona/!5700039 | |
| [4] /Konzert-wuerdigt-Mieczysaw-Weinberg/!6004570 | |
| [5] /Prokofjew-Oper-in-Bremen/!6012704 | |
| ## AUTOREN | |
| Regine Müller | |
| ## TAGS | |
| Salzburger Festspiele | |
| Musiktheater | |
| Oper | |
| Roman | |
| Oper | |
| Theater | |
| Bayreuther Festspiele | |
| Theater | |
| Komische Oper Berlin | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Opernprogramm der Salzburger Festspiele: Qualvoll durchleben sie die Handlung w… | |
| Die Opern der Salzburger Festspiele erzählen von Macht, Krieg und Tod. Der | |
| große Wurf gelingt mit Evgeny Titovs Inszenierung von Eötvös’ „Drei | |
| Schwestern“. | |
| „Zauberberg“ bei Salzburger Festspielen: Die Bestie Mensch | |
| Fünfstündige Theaterséance in Salzburg: Krystian Lupa liest Thomas Manns | |
| „Zauberberg“ als Prophetie der Katastrophen des 20. Jahrhunderts. | |
| Eröffnung der Bayreuther Festspiele 2024: Tod in der Rumpelkammer | |
| „Tristan und Isolde“ machen den Auftakt in Bayreuth. Düster inszeniert der | |
| isländischen Regisseurs Thorleifur Örn Arnarsson die Wagner-Oper. | |
| „Jedermann“-Premiere in Salzburg: Goldjunge mit großer Klappe | |
| Mit Philipp Hochmair in der Hauptrolle packt Robert Carsen den „Jedermann“ | |
| bei den Hörnern. Beim Publikum der Salzburger Festspiele kommt das an. | |
| Komische Oper Berlin bedroht: Nicht mehr komisch | |
| Dem Musiktheater droht das Aus der Sanierung seines Stammsitzes. Der | |
| ehemalige Intendant Barrie Kosky schlägt in einem offenen Brief Alarm. |