| # taz.de -- Schriftstellerin Inger-Maria Mahlke: Schreiben als Widerspruch | |
| > Die Autorin Inger-Maria Mahlke wuchs in Lübeck und auf Teneriffa auf. Ihr | |
| > Roman „Unsereins“ antwortet auf Thomas Manns „Buddenbrooks“ und dess… | |
| > Antisemitismus. | |
| Bild: Hebt Frauenschicksale ins Rampenlicht: Inger-Maria Mahlke | |
| Hündin Elise wohnt im 3. Stock. Da ist sie eigentlich sicher und ihr Revier | |
| unangefochten. Trotzdem bellt sie, wenn drunten ein Artgenosse vorbeigeht, | |
| vorsichtshalber. „Sie wissen ja, wie Hunde sind“, sagt Inger-Maria Mahlke | |
| munter. Sie wohnt mit Elise zusammen und hat den Terrier angeschafft, als | |
| sie von Berlin-Neukölln ins beschaulichere Lübeck zog. Das Mietshaus steht | |
| in einem öffentlichen Park, ideal für Mensch mit Hund. | |
| In Lübeck ist sie aufgewachsen, die 1977 geborene Autorin Inger-Maria | |
| Mahlke. Mit 18 ging zum Studium nach Berlin. Jetzt ist sie zurück, um die | |
| Eltern zu pflegen. Von Lübeck handelt auch ihr jüngster Roman „Unsereins“, | |
| und gern hätte sie ihn irgendwo weit weg geschrieben, mit Abstand. Ihren | |
| vorigen Roman „[1][Archipel]“ über ihre zweite Heimat Teneriffa, 2018 mit | |
| dem Deutschen Buchpreis geehrt, hatte sie als Stadtschreiberin von | |
| Magdeburg verfasst. Aber während der Arbeit an „Unsereins“ war Pandemie, | |
| und sie kam nicht weg. | |
| Also ist Mahlke an die alten Orte gegangen, um die Selbstverständlichkeiten | |
| der Kindheit mit neuen Augen zu sehen. Sie hat bemerkt, „dass Lübeck schön | |
| ist – was ich damals spontan nicht so gesagt hätte“. Auch nicht, das Lübe… | |
| ein politisch interessanter Ort ist, der eine Kehrtwende vollzog. „Noch in | |
| den 1990ern, als ich wegging, war Lübeck eine sehr konservative | |
| Veranstaltung, von Dynastien, ja: Oligarchen geprägt“, erzählt sie. Dazu | |
| gehörte auch das Pochen auf den Ruhm der [2][Hansezeit:] „Ich fand es immer | |
| befremdlich, sich auf den Glanz einer lange vergangenen Ära zu berufen“, | |
| sagt sie. | |
| Das Standesdenken der in der Hansezeit entstandenen Kaufmannsschicht habe | |
| sich lange gehalten. „1920 war Lübeck der erste deutsche Teilstaat mit | |
| faschistischem Bürgermeister“, erzählt Mahlke. „Den hatten die Oligarchen | |
| installiert, um ihre Macht zu sichern, als die Sozialdemokratie erstarkte“. | |
| ## In beiden Welten fremd | |
| Langfristig funktionierte das nicht. „Heute ist Lübeck eine liberale, | |
| weltoffene Stadt“, sagt die Autorin. Aber während ihrer Schulzeit auf dem | |
| konservativen Katharineum, wo offensiv für Schülerverbindungen geworben | |
| wurde – Vorläufer der Studentenverbindungen –, war das anders. | |
| Mahlkes Elternhaus indes war ambivalent. Ihre von Teneriffa stammende | |
| Mutter, die sich aus dem katholischen, patriarchal geprägten Spanien | |
| herausgekämpft hatte, dachte liberal. Der Vater, Jurist, drang bei den | |
| beiden Töchtern schon eher auf die Einhaltung von Regeln. | |
| Die Ferienaufenthalte bei den Großeltern auf Teneriffa boten das Gegenteil. | |
| „Dort sind Regeln nicht das Wichtigste, sondern man guckt: Was passt | |
| gerade?“, erzählt Mahlke. Das fand sie mal wunderbar, mal nervte es, in | |
| Deutschland war es umgekehrt. „Ein bisschen fühle ich mich in beiden Welten | |
| fremd.“ | |
| Aber nicht emotional: Auch die Großeltern auf Teneriffa „waren wahnsinnig | |
| liebevolle Menschen“, die Dorfgemeinschaft warm und solidarisch, mit allen | |
| Ecken und Kanten: Der Großvater, im Hauptberuf Steinmetz, züchtete zum | |
| Beispiel Kampfhähne. Klingt bedenklich, „und das war es auch“, so Mahlke. | |
| „Einmal mussten wir Schwestern einen Hahn, den mein Großvater nicht einem | |
| zu starken Gegner ausliefern wollte, in einer Truhe verstecken“, erinnert | |
| sie sich. Dazu gab es dort Katzen, Hunde, Hasen. Die Kinder liebten sie, | |
| gaben ihnen Namen. „Aber wenn jemand Appetit auf Hasenbraten hatte, wurde | |
| das Tier geschlachtet.“ | |
| Mahlke erzählt das so sachlich, dass man nachfragt: War es nicht schlimm | |
| für sie, damals? „Natürlich war das schrecklich“, sagt sie. „Ich erzäh… | |
| es, um zu bebildern, wie verschieden die beiden Welten waren. Unser | |
| Lübecker Hase zum Beispiel saß in seinem Käfig und man ging egelmäßig zum | |
| Tierarzt. Will sagen: Jede der beiden Welten hatte eigene Regeln und | |
| hinterfragte sich nicht.“ Vermutlich rühre daher ihre Neigung, Systeme und | |
| Regeln als ortsgebunden, also relativ zu betrachten. | |
| Die Brücke zwischen den Welten hatte ihre Mutter geschlagen: Das Mädchen | |
| aus einem kleinen spanischen Dorf hätte üblicherweise die Klosterschule | |
| besuchen und mit 18 heiraten sollen. Aber sie wollte mehr, glaubte früh, | |
| dass Bildung ein frei bestimmtes Leben ermögliche. Ganz allein lernte sie | |
| für die Gymnasial-Aufnahmeprüfung, schaffte es und machte Abitur. Studieren | |
| konnte sie nicht; das Geld reichte nur für den Bruder. „Also suchte sie den | |
| kompliziertesten Beruf, der ohne Studium möglich war, und wurde | |
| Buchhalterin“, erzählt Inger-Maria Mahlke. „Sie wollte unbedingt aus dieser | |
| Enge raus.“ Mit Ende 20 ging die Mutter als Au-pair nach Hamburg, lernte | |
| Deutsch, heiratete und blieb. | |
| [3][Inger-Maria Mahlke] hat, wie ihr Vater, erst mal Jura studiert, „weil | |
| ich nicht genau wusste, was ich studieren sollte“. Aber der Zwang zu | |
| werten, schreckte sie ab. Sie hielt durch, um einen Abschluss zu haben; | |
| rettete sich in das Wahlfach Kriminologie. „Da war viel Soziologie und | |
| Psychologie dabei, das interessierte mich.“ 2005 nahm Mahlke an ersten | |
| Schreibwettbewerben teil, jobbte als Kellnerin, führte jahrelang ein | |
| prekäres Leben. | |
| Aber das war es ihr wert. „Schon als Kind hatte ich das Bedürfnis, | |
| Teneriffa sprachlich zu fassen“, sagt sie. „Ich musste 30 werden, um es zu | |
| können.“ Mit „Archipel“, die letzten 100 Jahre der Insel, auch die Folgen | |
| des spanischen Bürgerkriegs erzählend, hat sie es geschafft. Das darin | |
| beschriebene „Asilo“ steht übrigens für das Altenheim der Großmutter, de… | |
| letzte Lebensjahre Mahlke begleitete. | |
| ## Übergriffe seit Jahrhunderten | |
| Sie selbst bezeichnet sich sehr nachdrücklich als Feministin. „Ich kann gar | |
| nicht anders.“ Das fing 2010 an mit ihrem Debütroman „Silberfischchen“ �… | |
| einen pensionierten Polizisten, der eine polnische Putzfrau aufnimmt. Es | |
| folgte der Tudor-Roman „Wie ihr wollt“ über die kleinwüchsige Mary Grey, | |
| Kusine von Elisabeth I., die gegen ihr Ausgestoßensein bei Hof rebelliert. | |
| Auch der jüngste Roman „Unsereins“, angesiedelt Ende des 19. Jahrhunderts, | |
| beleuchtet eingekeiltes weibliches Leben. „Die einzig erträgliche Rolle für | |
| eine Frau damals war die der reichen Witwe jenseits des heiratsfähigen | |
| Alters“, erklärt Mahlke. „Dann konnte sie am Geschäftsleben teilnehmen, | |
| allein ausgehen, hinter den Kulissen politische Macht ausüben.“ | |
| Für weibliche Bedienstete dagegen sei das Leben katastrophal gewesen. | |
| [4][MeToo] habe ja nur ans Licht gebracht, was seit Jahrhunderten passiert. | |
| „Im engen Kontext des Haushalts muss es massenhaft Übergriffe gegeben | |
| haben“, sagt sie. Im Roman kommt ein vom Hausherrn [5][geschwängertes | |
| Dienstmädchen] vor. Sie ertränkt sich und wird dann nie mehr erwähnt. Als | |
| Leserin vermisst man sie, wundert sich, will mehr wissen. Dieser Effekt ist | |
| gewollt: „Das Problem wurde damals marginalisiert und totgeschwiegen.“ | |
| ## Wider den Antisemitismus der „Buddenbrooks“ | |
| Aber „Unsereins“ ist nicht nur ein Roman über die Bediensteten zur Zeit von | |
| [6][Thomas Manns] „Buddenbrooks“. Mahlkes Familienepos rechnet auch ab mit | |
| dem Antisemitismus der „Buddenbrooks“. „Auslöser für mein Buch war der | |
| Nachlass der Lübecker Kaufmannsfamilie Fehling“, erzählt Mahlke. Fehlings, | |
| jüdischstämmig und seit drei Generationen protestantisch, sind Vorbild für | |
| die Familie Hagenström in „Buddenbrooks“ und deren Gegenspieler. Mit | |
| Erscheinen des Buch und den antisemitischen Zuschreibungen der Hagenströms, | |
| die jeder als Fehlings identifizierte, begriffen sie, dass sie immer noch | |
| als „die Jüdischen“ galten. | |
| Dagegen wollte Mahlke anschreiben, damit der Antisemitismus des jungen | |
| Thomas Mann nicht in Vergessenheit gerät. „Allerdings bewundere ich ihn für | |
| sein Verhalten in der Weimarer Republik“, stellt sie klar. Dass er | |
| öffentlich seine Ablehnung der Demokratie und seine reaktionären | |
| Einstellungen einschließlich des politischen Antisemitismus [7][als Irrtum | |
| bezeichnete], sei bewundernswert. „Das schaffen nicht viele öffentliche | |
| Intellektuelle.“ | |
| 2 Sep 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Petra Schellen | |
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