# taz.de -- Lazzaretto nuovo und San Servolo: Insel der Ausgegrenzten | |
> Einst Quarantänestationen, heute grüne Rückzugsorte: Zwei venezianische | |
> Inseln erzählen von Seuchenangst, Gewalt und einem langsamen | |
> medizinischen Umdenken. | |
Bild: Venezianische Insel San Servolo: früher ein Puffer gegen die Bedrohungen… | |
Man streift durch Alleen mit Maulbeerbäumen, entdeckt einen alten Brunnen | |
mit dem [1][venezianischen Löwenwappen], kann Kormorane beobachten und die | |
langschnabeligen Stelzenläufer, die hier Cavalieri d’Italia genannt werden. | |
Auf der nur neun Hektar großen Insel Lazzaretto nuovo wirkt Venedig, die | |
wuselige und ganzjährig überfüllte Serenissima, ganz ländlich und | |
provinziell. | |
Vor Jahrhunderten hatten sich hier Einsiedler und Mönche niedergelassen, | |
bis der venezianische Senat die kleineren Inseln in der Lagune als Puffer | |
gegen allfällige Bedrohungen der Stadt entdeckte. Ende des 16. Jahrhunderts | |
richtete er auf Lazzaretto nuovo eine Quarantänestation ein, für Reisende | |
aus dem Osmanischen Reich und Zypern, bei denen man ansteckende Krankheiten | |
wie die Pest vermutete. | |
Unter österreichischer Herrschaft wurde Lazzaretto nuovo zum | |
Militärstützpunkt ausgebaut und als solcher von der italienischen Marine | |
noch bis 1975 genutzt. Die Bauwerke zerfielen, doch neuerdings haben | |
zivilgesellschaftliche Initiativen das langgezogene Haupthaus restauriert | |
und naturkundliche Lehrpfade eingerichtet. Von einer alten Mauer überblickt | |
man die bunten Sträucher der Salzmarschen, am Horizont zeichnet sich die | |
ikonische Silhouette des historischen Zentrums gegen die untergehende Sonne | |
ab. | |
Ebenso lohnend ist ein Ausflug auf die nur halb so große San Servolo, deren | |
gemauerten Umrisse wie mit dem Lineal gezogen sind. Heute wird San Servolo | |
von der Venice International University als Treffpunkt von | |
Universitätsangehörigen aus aller Welt genutzt. Auch diese Insel durchlief | |
die Karriere vom Kloster zum Militärhospital, um dann in der | |
österreichisch-habsburgischen Ära unter Leitung eines „Alienistas“ | |
(Psychiaters) „Geisteskrankheiten“ wie Hysterie, Melancholie und Demenz von | |
Venedig fernzuhalten. Das sehr feine Museo di Manicomio di San Servolo | |
erinnert an das Schicksal dieser „Irren“, die auf der kleinen Insel seit | |
Ende des 19. Jahrhunderts eingesperrt wurden. | |
Die ausgestellten apparativen Überreste demonstrieren den Weg von den | |
frühen Behandlungsmethoden – wie 12- bis 15-stündigen Bädern in über 30 | |
Grad warmem Wasser, Insulinkuren, Zwangsjacken und Elektroschocks – zum | |
„gemäßigten“ Vorgehen mit dosierter Elektrizität und Psychopharmaka. | |
## Als psychiatrische Forschungsobjekte betrachtet | |
Die Patientinnen und Patienten stammten in der Zeit der | |
Habsburgerherrschaft aus ganz Venetien, aus Dalmatien und Tirol. Sie wurden | |
stets auch als psychiatrische Forschungsobjekte betrachtet, bis hin zu | |
anatomischen Übungen an ihren Leichen, in einer Kapelle befindet sich noch | |
der Seziertisch. Ein langer Fries zeigt die Konterfeis der unglücklichen | |
Patienten, deren Leidensminen im scharfen Gegensatz zur idyllischen | |
Umgebung stehen. | |
In einem einladenden Garten setzen sich heute Arbeitsgruppen zusammen, | |
werden Hochzeitspartys ausgerichtet. Auf dem Gelände findet sich auch das | |
Restaurant Roba da matti, was wörtlich „Zeug für Wahnsinnige“ bedeutet und | |
umgangssprachlich für „unglaublich!“ oder „Das ist ja Wahnsinn!“ verwe… | |
wird. | |
Im Garten von San Servolo wurden auch Beschäftigungstherapien angeboten, | |
genau wie in einer Schneiderei, einer Schmiede, einer Druckerei und einer | |
Möbelwerkstatt, später gab es Musik- und Gruppentherapien. Die Methoden | |
wurden humaner, doch es kam auch zu Missbrauch an den Schutzbefohlenen. Die | |
Exponate der Ausstellung gleichen Folterinstrumenten, in der | |
angeschlossenen Anstaltsapotheke sind Gefäße mit Pflanzen, Pillen und | |
Pasten zu besichtigen, die Patienten beiderlei Geschlechts verordnet | |
wurden. | |
## Radikales Umdenken der Psychiatrie | |
Der radikale Umschwung erfolgte mit der Antipsychiatriebewegung um den | |
damals in Triest praktizierenden Franco Basaglia, die im Mai 1978 in | |
Italien das berühmte Gesetz 178 durchsetzte, das geschlossene Anstalten | |
weitgehend auflöste. Hilfreich war außerdem die breite gesellschaftliche | |
Empörung gegen die Zustände in geschlossenen Anstalten, ausgelöst durch den | |
Film [2][„Einer flog über das Kuckucksnest“] aus dem Jahr 1975. | |
Basaglia und Kollegen wie Thomas Szasz, David Cooper und R. D. Laing | |
forderten ein radikales Umdenken: Während die klassische | |
Anstaltspsychiatrie, wie eben in San Servolo, das Wohlverhalten der | |
Patienten mit exklusiver Verwahrung und hierarchischer Verwaltung erzwingen | |
wollte, startete nun der Versuch, sie als Gleichberechtigte wahrzunehmen. | |
Anstelle der in San Servolo dokumentierten brachialen Methoden werden nun | |
Psychopharmaka genutzt, weiter werden auch schwächere Elektrotherapien | |
verschrieben, gegen Depression, Schizophrenie, drogeninduzierte Psychosen, | |
Zwangsstörungen und neuroleptische Vorfälle. | |
Das Museo di Manicomio präsentiert im kleinen Maßstab somit einen | |
medizinisch-therapeutischen Fortschritt im 20. Jahrhundert. Gleichzeitig | |
spricht es die aktuelle Warnung aus, nicht allein auf Medikalisierung zu | |
setzen, also nicht alle menschlichen Zustände als medizinische Probleme zu | |
betrachten – oder, wie es in Diktaturen immer noch geschieht, unliebsame | |
Oppositionelle gar in psychiatrische Anstalten zu verbannen. | |
13 Jul 2025 | |
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## AUTOREN | |
Claus Leggewie | |
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