# taz.de -- Zum Verhältnis von Kunst und Blindheit: Wenn man das Bild nicht se… | |
> Wie können auch Nichtsehende einen Zugang zu bildender Kunst erhalten? | |
> Dieser Frage geht die Kunsthalle Bremen in der Schau „Kunst fühlen“ auch | |
> nach. | |
Bild: Auch Edgar Degas litt unter einer Augenerkrankung. Hier zu sehen: ein Aus… | |
Berlin taz | Peter Schloss klebt Punkte an die Wand. Punkte, die etwas | |
bedeuten. Aber entziffern wird ihre Botschaft nur können, wer sich mit dem | |
Braille-Code vertraut gemacht hat, also der Blindenschrift. „Der Text wird | |
auf keiner Hinweistafel in der Ausstellung in lateinischen Schriftzeichen | |
wiedergegeben“, hatte der Kölner Künstler bei einem Treffen in der Bremer | |
Kunsthalle versprochen. Mittlerweile ist dort die Ausstellung „Kunst | |
fühlen“ eröffnet. | |
Das Schildchen neben Peter Schloss’ Fries aus dunklen Punkten informiert | |
jetzt darüber, dass die Arbeit den Titel „How To Do Things With Words“ | |
trägt und 2024 entstanden ist. Schloss verwendet Punkte aus Moosgummi, | |
Filz, auch Sandpapier, manche sind glatt, andere rau, wieder andere | |
knubbelig. „Das ermöglicht typografische Effekte, die es vorher in Braille | |
so nicht gab“, so Schloss. Aber das erkennt, wer das Kunstwerk berührt. Wer | |
es nur anschauen will, den schließt es aus, so wie blinde und sehbehinderte | |
Menschen von Museen und Galerien meistens ausgeschlossen sind. | |
Mit vollem Titel heißt die Bremer Ausstellung: „Kunst fühlen. Wir. Alle. | |
Zusammen.“ Der Zusammenhang von Kunst und Sehverlust ist nur eines der | |
Themen, die in ihr aufkommen. Sie lässt 16 Werke der Gegenwartskunst 10 | |
kanonischen Stücken aus der Sammlung der Kunsthalle begegnen – von | |
Frühbarock bis zur klassischen Moderne, von [1][Hendrick Goltzius] über | |
Francisco de Goya bis [2][Lovis Corinth.] | |
Auch Henri de Toulouse-Lautrec ist dabei, die Impressionistin Mary Cassatt | |
und ihr Freund und Kollege Edgar Degas. Sie alle waren im Laufe ihres | |
Lebens körperlich beeinträchtigt und brachten daraus eigene künstlerische | |
Wege der Welterfassung und -gestaltung hervor. In der Kunsthalle zu sehen | |
ist etwa Henri Matisses ikonische, ab 1941 entstehende Bildfolge „Jazz“. | |
Deren eigentümliche „Découpage“-Technik hatte Matisse entwickelt, als er | |
infolge einer Darmkrebserkrankung nicht mehr malen konnte. Oder Zorka | |
Lednárová: Die in Bratislava geborene Berliner Künstlerin nutzt mitunter | |
die Reifen ihres Rollstuhls, auf den sie seit 2012 angewiesen ist, zum | |
Farbauftrag. So hat sie mit ihm, in brutalem Schwarz für „My Body An | |
Obstacle“(2021), acrylbunte Silhouetten auf Rohleinwandbahnen überfahren. | |
## Die besonders radikale Wendung einer Frage nach Teilhabe | |
Konzipiert hat die Schau ein Team von Menschen mit und ohne Diagnose, unter | |
anderem unterstützt von Lara Franke, der Inklusionsreferentin im Museum. | |
„Wir. Alle. Zusammen.“ – Der etwas stolpernd interpunktierte | |
Ausstellungstitel wirft die Frage nach Teilhabe an der Kunst auf. Das fängt | |
schon mit der sehr leichten Übung an, Bilder so zu hängen, dass auch | |
Kinder, kleinwüchsige Menschen, Rollstuhlnutzer*innen sie sehen | |
können. Zu ihrer Radikalität findet diese Frage aber im Verhältnis von | |
Blindheit und bildender Kunst. Denn „Blindheit symbolisiert in ihr das | |
Ganz-Andere“, resümiert Lilian-Fabian Korner. Korner ist | |
Inklusionsaktivist*in und Kunsthistoriker*in aus Frankfurt am | |
Main. | |
Eine für die Kunsttheorie wichtige Formulierung dieses Verhältnisses zum | |
„Ganz-Anderen“ stammt vom barocken Kunstkritiker Roger de Piles, der in | |
seinem „Cours de Peinture“ 1708 die Erzählung von einem blinden | |
toskanischen Bildhauer und Zeichner aufbrachte. Der habe viele damalige | |
Promis porträtiert, etwa den französischen Staatsrat Louis Hesselin. Den | |
Namen des Künstlers aber verschweigt de Piles. Seither geistert der | |
Anonymus fast wie ein Running Gag als Denkfigur durch die Kunsttheorie, um | |
die Grenzen und Hierarchie von Malerei, Bildhauerei und Zeichnung zu | |
klären. | |
Gleichzeitig kennt die Kunstgeschichte genügend namhafte Maler*innen, | |
die sich aufgrund ihres mangelnden Sehvermögens gezwungen sehen aufzugeben | |
– oder ihre Kunst zumindest zu ändern. Wie Mary Cassatt. Nach zahlreichen | |
Katarakt-Operationen verzichtet sie auf selbst zu mischende Ölfarben. | |
Stattdessen verwendet sie Pastellkreide, neigt in ihren späten Gemälden zu | |
Ocker- und Brauntönen, was auf den Gelbfilter zurückzuführen sei, den die | |
Augenlinse bei einem grauen Star erzeugt, wie kürzlich die in Madrid | |
lebende Augenärztin Carmen Fernández Jacob beobachtete. | |
Andere, wie Heinrich Nüsslein, der wegen seiner Sehbehinderung von der | |
Kunstakademie ausgeschlossen wurde, nutzen den Topos vom „Blinden Seher“ | |
für sich: In den 1920er Jahren wird er international als Meister | |
mediumistischer Malerei gefeiert. Manche Bilder malt er vor Publikum in | |
komplett verdunkelten Räumen. Wie nahe dieses „automatische Malen unter | |
Ausschaltung des Wachbewusstseins“ [3][den Experimenten des Surrealismus] | |
kommt, hatten Zeitgenossen durchaus erkannt, doch nicht der Kunstmarkt und | |
die Museen. | |
## Mehr blinde Menschen als Kunstmotiv | |
Auch heute tun die sich noch schwer gegenüber behinderten Künstler*innen, | |
insbesondere blinden. Konzeptkünstlerische Versuche Sehender, die Erfahrung | |
von Nichtsehenden zu erfassen, wie von der Französin Prune Nourry, die mit | |
verbundenen Augen [4][Büsten schafft und in blickdichten Räumen ausstellt], | |
sind offenbar leichter zu verkaufen als, beispielsweise [5][Bianca | |
Raffaellas weißliche, flackerige Malerei]. Auf hellen Leinwänden lässt die | |
erste gesetzlich blinde Kunst-Absolventin der Londoner Kingston School of | |
Art Gegenstände und zarte Blüten nur ungewiss auftauchen. | |
Forschung zum Thema gibt es, aber [6][eher in den USA], in Großbritannien, | |
auch [7][in Frankreich]. In Deutschland steht noch immer Volkmar Mühleis’ | |
vor 20 Jahren veröffentlichte phänomenologische Studie zu „Kunst im | |
Sehverlust“ recht allein da. Mühleis fordert dazu auf, Kunst möglichst zu | |
ertasten und „das Sehen so weit zu beleuchten, wie es ins Nicht-Sehen | |
reicht“. | |
Blinde Menschen, nicht als Künstler*innen, sondern als Motiv der Kunst, | |
tauchen hingegen seit der Neuzeit vielfach auf. Für diese Tradition sei | |
„Blindheit ein Rätsel oder eine Metapher“, heißt es in Lilian-Fabian | |
Korners Aufsatz „Ästhetik Blinder Tastempfindungen“. Es gibt eine ganze | |
Flut von Darstellungen, die Blinde als Medien einer dem Blick | |
verschlossenen Welt des Inneren und des Übersinnlichen, als Verkörperungen | |
der Gerechtigkeit, als klägliche Bettler oder als feindselige Allegorie des | |
verstockten Volkes Israel zeigen. | |
Oft überlagern sich die Motive, wie in Pieter Bruegels „Blindensturz“, das | |
vor niederländischer Dorfkulisse eine Gruppe tölpeliger, armseliger, teils | |
geblendeter, teils augenloser Männer kurz vor dem Fall in einen Graben | |
zeigt. Wie die meisten Blinden, die in der Kunstgeschichte auftauchen, sind | |
[8][sie komplett blind]. Das betont die vermeintliche Andersartigkeit. Im | |
wirklichen Leben trifft das nur auf eine kleine Minderheit der [9][über | |
500.000 stark sehbehinderten Menschen] in Deutschland zu. | |
Soll bildende Kunst für diese Menschen zugänglich gemacht werden, geht es | |
nicht nur um Genuss, auch nicht um das Prinzip, einen Rechtsanspruch auf | |
Teilhabe zu verwirklichen. In einer von Bildern beherrschten Gegenwart sind | |
Blinde unmittelbar betroffen von der Bildproduktion. Gerade die Kunst | |
entwickelt und kommuniziert in Gemälden, Installationen und Plastiken | |
Konzepte, deren Verständnis eben „nicht von spezifischem Vorwissen oder | |
individueller Wahrnehmung abhängen“, wie der Disability-Forscher Simon | |
Hayhoe [10][es beschreibt]. Allerdings wird ein Verständnis erschwert, wenn | |
Museen mit dem Imperativ „Bitte nicht berühren!“ die Kunst für Nichtsehen… | |
überhaupt nicht wahrnehmbar werden lassen. | |
## Eine Camille-Claudel-Bronze ertasten | |
Dabei wäre das Ertasten eine Möglichkeit, Zugang zur Kunst zu finden. Man | |
müsste eigentlich „ans Original gehen“, so Korner. „Das ist ja auch das, | |
was die sehenden Menschen wahrnehmen.“ Diese von Elisabeth Salzhauer Axel | |
und Nina Sobol Levent 2003 in der Schrift „Art Beyond Sight“ propagierte | |
Praxis hat man in der Kunsthalle Bremen vor Jahren schon aufgegriffen. So | |
gibt es Tastführungen mit Handschuhen an kostbaren Originalen. | |
Die gestalterischen Gesten einer [11][Camille Claudel] lassen sich dann an | |
ihren Bronzen körperlich nachvollziehen. Das kann eine geradezu | |
berauschende Nähe schaffen – und eine räumliche mitunter auch bildliche | |
Vorstellung. Auch zeigt die Kunsthalle Bremen Nachbildungen von Gemälden | |
als Relief, deren Aufbau, Proportionen oder Perspektive sich durch das | |
Ertasten der Oberfläche erschließen lassen. Und es gibt Audiodeskriptionen: | |
„Das Mädchen füllt die Fläche des 90 mal 61 Zentimeter großen Bildes | |
weitgehend aus“, informiert eine Stimme über Paula Modersohn-Beckers | |
„Worpsweder Bauernkind“. | |
„Diese Texte finde ich ausgesprochen gut“, meint Joachim Steinbrück. | |
Steinbrück, seit 55 Jahren erblindet, war Richter, dann Jahre lang | |
Landesbehindertenbeauftragter. Dass nicht nur die Kunsthalle in Bremen | |
zugänglicher werden will, ist auch sein Verdienst. Er saß im „Kunst | |
fühlen“-Kuratorium. Und er besitzt privat ein Kunstwerk. Einen Wandteppich | |
mit abstrakten Formen, die an eine toskanische Landschaft erinnern könnten. | |
„Da habe ich mir eine Vorstellung zu gemacht“, sagt er. „Ob das dem | |
entspricht, was dieses Bild zeigt, das weiß ich bis heute nicht.“ Um diese | |
Vorstellungen von Kunst, diesen sinnlich-zerebralen Schatz, der jedem offen | |
steht, darum geht’s. | |
15 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Monster-in-der-Kunst/!5829676 | |
[2] /Umgang-mit-NS-Raubkunst/!6064243 | |
[3] /Surrealismus-und-Antifaschismus/!6041584 | |
[4] https://www.theartnewspaper.com/2021/09/03/please-do-touch-the-works-visito… | |
[5] https://www.theguardian.com/artanddesign/2025/mar/04/bianca-raffaella-blind… | |
[6] https://dl.acm.org/doi/fullHtml/10.1145/3544548.3580941 | |
[7] https://journals.openedition.org/questionsdecommunication/37589?lang=en | |
[8] http://eprints.lse.ac.uk/107023/ | |
[9] https://www.dbsv.org/zahlen-fakten.html | |
[10] https://nfb.org/sites/default/files/images/nfb/publications/fr/fr28/3/fr28… | |
[11] /Claudel-Hoetger-Ausstellung-in-Bremen/!6061779 | |
## AUTOREN | |
Benno Schirrmeister | |
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