| # taz.de -- Ausstellung zur weiblichen Rückbeuge: Das Höllentor zur Tiefenent… | |
| > Es gibt sie, die Kulturgeschichte der (weiblichen) Rückbeuge. Das Museum | |
| > der Moderne in Salzburg zeichnet sie nach, mit verblüffend viel Material. | |
| Bild: Filmstill aus „Songs from the compost: mutating bodies“ von Eglé Bud… | |
| Eine ohnmächtige Frau steht am Anfang der Ausstellung: Die Reproduktion von | |
| André Brouillets berühmtem Ölbild „Une leçon clinique à la Salpêtrière… | |
| zeigt den Pariser Neurologen Jean-Martin Charcot, der einer Gruppe von | |
| Männern mit belehrender Geste am lebenden Objekt das Phänomen der Hysterie | |
| demonstriert. | |
| Die hypnotisierte Patientin namens Blanche ist mit geschlossenen Augen und | |
| zurückgebeugtem Rücken in die Arme eines Assistenten gesunken und | |
| beglaubigt mit dieser als typisch angesehenen Haltung die damalige | |
| Auffassung vom Urbild der vermeintlichen Krankheit. | |
| Das Gruppenbild ist riesenhafte 2,90 mal 4,30 Meter groß, von | |
| medizinhistorischer Bedeutung und war Ende des 19. Jahrhunderts sehr | |
| verbreitet. Kuratorin Kerstin Stremmel hat es an den Anfang der Schau | |
| platziert: „Das Bild hing in vielen Praxen, es war sehr beliebt. | |
| Und Freud hat es tatsächlich in der Berggasse in seinen Behandlungsräumen | |
| gehabt und mit ins Londoner Exil genommen. Es hat ihn immer begleitet. | |
| [1][Freud hatte in Paris eine kurze, furiose Zeit] bei Charcot verbracht | |
| und sehr genau alles beobachtet. Im Grunde war die Erfahrung bei Charcot | |
| der Auslöser für die Begründung der Psychoanalyse.“ | |
| ## Künstler besuchten Charcot | |
| Nicht nur die Mediziner besuchten bei Charcot die legendären | |
| Dienstagsvorlesungen, wo der Neurologe die „Hysterikerinnen“ zu ihren | |
| zweifelhaften Performances brachte, auch Künstler wie Auguste Rodin kamen | |
| zu Charcot und ließen sich dort anregen. Auch die große Schauspielerin | |
| Sarah Bernhardt war unter den Gästen, in deren Theaterspiel Freud „die | |
| rituelle Vollkommenheit und das Prinzip der Wiederholbarkeit der | |
| hysterischen Darbietung“ wahrnahm. | |
| Hoch oben am Mönchsberg im Salzburger Museum der Moderne füllt die große, | |
| bildermächtige und souverän konzipierte Themenschau „Arch of Hysteria: | |
| Zwischen Wahnsinn und Ekstase“ die gesamte dritte Etage mit einem | |
| Parforceritt durch die Kulturgeschichte und einem Fokus auf die | |
| Tanzmoderne. | |
| Unter den Exponaten sind Werke von Auguste Rodin, Gustav Klimt, Max Ernst, | |
| [2][Louise Bourgeois], Valie Export und [3][Robert Longo], zahlreiche | |
| Fotos aus der großen Zeit der Tanzmoderne und eine Kunst- und Wunderkammer, | |
| die Objekte des Kunsthandwerks, der Populärkultur und dokumentarische Fotos | |
| neben große und kleine Kunstwerke stellt. | |
| Die Idee, der Körperhaltung der Rückbeuge – etwas neutraler auch „arc de | |
| cercle“ genannt – durch die moderne Kulturgeschichte zu folgen, ist | |
| tatsächlich verblüffend ergiebig, denn sie eröffnet vielfältigste | |
| ästhetische, aber auch gesellschaftspolitische Perspektiven. Nämlich die | |
| auf Machtstrukturen und Geschlechterrollen. | |
| ## Rückbeuge findet Eingang in den Ausdruckstanz | |
| Zunächst untersucht die Schau die direkten Folgen von Charcots | |
| Dienstagsvorlesungen, etwa bei Rodin, der im regen Austausch mit Charcot | |
| stand und das Motiv des gebeugten Rückens in die Bildsprache der Gestalten | |
| seines „Höllentors“ übernahm. Sein in der Schau gezeigter „Torse d’Ad… | |
| zeigt einen weiblichen Körper von den Knien aufwärts mit im Untergrund | |
| verschwindendem Kopf. | |
| Im frühen 20. Jahrhundert wird die vorher passive, bestenfalls als | |
| hingebungsvoll interpretierte Rückbeuge ins höchst aktive | |
| Bewegungsrepertoire des Ausdruckstanzes übernommen. | |
| Fotografien von Rudolf Jobst bannen die hoch dynamische Tanzsprache von | |
| Grete Wiesenthal ins Bild, zu sehen sind auch Helene von Taussigs | |
| hinreißende, abstrahierende Zeichnungen des performenden Tänzers Harald | |
| Kreutzberg sowie Fotos von Mary Wigman, Gret Palucca, Isidora Duncan und | |
| der Pariser Tänzerin Jan Avril, die tatsächlich eine Ex-Patientin von | |
| Charcot war und von Henri de Toulouse-Lautrec gemalt wurde. | |
| Das Motiv der längst als ekstatische Expression gelesenen Körperhaltung | |
| setzt sich in seiner Widersprüchlichkeit bis in die Gegenwart fort: In den | |
| 1990er Jahren etwa zeichnet Robert Longo ekstatisch verrenkte Yuppies, die | |
| Salzburger Schau zeigt auch Fotos von Valie Exports Performances aus den | |
| 1970er Jahren, die mit verbogenen Frauenkörpern auf erzwungene | |
| gesellschaftliche Anpassung anspielen. | |
| Arbeiten der Gegenwartskünstlerin Valerie Schmidt stellen Charcots | |
| diagnostische Aufzeichnungen der Hysterie mit einer Matratze nach, Denis | |
| Darzacqs Foto setzt überbordenden Supermarktregalen in die Rückbeuge | |
| schnellende, schwerelos wirkende Tänzer*innen entgegen. | |
| ## Pose im Yoga | |
| Verwiesen wird auch auf eine populäre Praxis der Selbstermächtigung im | |
| Yoga, die Rückbeuge soll den Brustraum und das Herz öffnen und sogar Ängste | |
| überwinden helfen. Wer will, kann das in einem Mitmach-Video in der | |
| Ausstellung sogar selbst testen. | |
| In Wien blättert eine kleine Schau im Photoinstitut Bonartes ein besonderes | |
| schillerndes Kapitel [4][der Tanzmoderne] auf und erinnert an die Berliner | |
| Avantgarde-Tänzerin Anita Berber, die gemeinsam mit ihrem sehr queer | |
| aufgemachten Tanzpartner Sebastian Droste im Jahr 1922 in Wien mit der | |
| Uraufführung von „Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ einen | |
| Skandal auslöste. Entgrenzte Rückbeugen, wohin man sieht. | |
| 27 Oct 2023 | |
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| ## AUTOREN | |
| Regine Müller | |
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