| # taz.de -- Spielplan Audiodeskription bedroht: „Dann steht Berlin hinter and… | |
| > Der „Berliner Spielplan Audiodeskription“ macht Oper und Theater einem | |
| > blinden Publikum zugänglich. Durch Kulturkürzungen ist das Projekt in | |
| > Gefahr. | |
| Bild: Für „Othello“ im Berliner Ensemble werden die Geräute für Audiodes… | |
| taz: Herr Koch, Sie kommen ja gerade von einer Audiodeskription im | |
| Kindertheater. Wie läuft das konkret ab? | |
| Felix Koch: Ein wichtiger Baustein ist die Tastführung vor dem Stück, damit | |
| das blinde Publikum einen Eindruck von dem Raum, von dem Bühnenbild und von | |
| den Kostümen bekommt. In der Vorstellung beschreiben wir Gesichtsausdrücke, | |
| Aktionen, Veränderungen im Bühnenbild, Lichtstimmungen. Das muss alles in | |
| den Dialogpausen passieren, weil wir natürlich keinen Text und keinen | |
| Gesang übersprechen wollen. Das blinde Publikum hat kleine Empfangsgeräte. | |
| Unsere Live-Beschreibung wird mit einem Sender an diese Geräte übertragen. | |
| taz: Da müssen Sie für die Audiodeskription jede Inszenierung aber gut | |
| kennen! | |
| Koch: Wir bekommen ein Video von der Inszenierung und erstellen ein Skript | |
| dazu. Die Vorbereitung nimmt manchmal mehrere Wochen in Anspruch. | |
| Imke Baumann: Das ist eine transmediale Übersetzung, die die künstlerischen | |
| Aspekte aufnimmt, weil sich die Beschreibung an die konkrete Inszenierung | |
| anpasst. Wenn ich Akrobatik beschreibe, mache ich das auf jeden Fall | |
| anders, als wenn ich in einem Sprechtheaterstück unterwegs bin, und ich | |
| mache es wieder anders, wenn ich in einem Kindertheaterstück unterwegs bin. | |
| Das sind verschiedene Genres und das hört man. Der Text ist anders. | |
| Koch: Für eine Audiodeskription im Theater arbeiten wir standardmäßig im | |
| Dreierteam. Meist gibt es eine sehende Person als HauptautorIn in | |
| Zusammenarbeit mit einer blinden und einer sehenden Redaktion. Es ist ein | |
| Prozess. Textfassungen werden hin- und hergeschickt, es gibt | |
| Redaktionssitzungen. Wir machen auch eine Generalprobe der | |
| Audiodeskription, da sitzt die Redaktion im Publikum und eine bislang | |
| unbeteiligte blinde Person als SaalprüferIn. Beim Texten des Scripts sind | |
| wir ganz oft am Puzzeln mit Silbenlängen, zum Beispiel, um uns zu | |
| überlegen, was in den drei Sekunden am wichtigsten ist, in denen der | |
| Hauptdarsteller das Messer ergreift. Sein schelmisches Grinsen oder das | |
| Aufblitzen der Klinge im blauen Licht? Oder habe ich am Ende nur Zeit zu | |
| sagen: „Er zieht das Messer!“, und dann geht der Dialog weiter. Wir sind | |
| ganz nah am Geschehen, weil wir auch im Rhythmus der Handlung bleiben. | |
| taz: Dann müssen Sie Ihre Sprechgeschwindigkeit immer neu anpassen? | |
| Koch: Als ausgebildete Theater-AD-AutorInnen sind wir nicht nur mit dem | |
| Schreibhandwerk beschäftigt, sondern auch mit dem Live-Sprechen. Jede | |
| Vorstellung ist anders. Zu wissen, wenn die Schauspielerin jetzt anatmet, | |
| dann habe ich noch eine Sekunde, ihr Lächeln zu beschreiben, das kommt mit | |
| der Erfahrung. | |
| Baumann: Die ZuschauerInnen mögen, wenn was schiefgeht. In der Berliner | |
| Volksbühne ist vor Kurzem bei einer Vorstellung auf einmal eine Wachsfigur | |
| umgefallen. Es dauerte, bis sie wieder aufgerichtet wurde, das habe ich | |
| natürlich beschrieben. (lacht) | |
| taz: Wie eignet man sich diese Expertise an? | |
| Baumann: Die Übersetzungswissenschaften beschäftigen sich mit | |
| Audiodeskription als Untersuchungsgegenstand. Aber sie bilden keine | |
| AudiodeskripteurInnen aus, schon gar nicht im Theaterbereich. | |
| Koch: Darum haben wir als [1][Hörfilm e. V.], der Vereinigung | |
| deutschsprachiger FilmbeschreiberInnen, den offenen Brief an die Politik | |
| verfasst, weil in Berlin nur der Spielplan qualifizierte | |
| Theater-AD-Ausbildungen angeboten hat. Es gab vorher einen eklatanten | |
| Fachkräftemangel in diesem Bereich. Es ist dem Spielplan zuzuschreiben, | |
| dass es in dieser Stadt überhaupt einen Pool gibt an freischaffenden | |
| Menschen, die jetzt das Wissen haben, um professionell in der | |
| Theater-Live-Audiodeskription tätig zu sein. | |
| taz: Ich versuche gerade, mir diese Ausbildung vorzustellen. | |
| Baumann: Zuerst haben wir AutorInnen gesucht, um einen Pool zu schaffen. | |
| Anke Nikolai, die Pionierin für deutschsprachige Theater-Audiodeskription, | |
| hat als Dozentin in mehrwöchigen Schulungen die Praxis vermittelt. Es wurde | |
| gescreent, analysiert. Immer wieder neu. Das dauerte rund zwei Jahre, bis | |
| man sagen konnte, die können das jetzt professionell. | |
| Koch: Bei jeder Audiodeskription gibt es gewisse dramaturgische Standards | |
| in Bezug auf die Vermittlung. Wir arbeiten, egal wie viel Berufserfahrung | |
| wir als sehende AutorInnen haben, immer mit blinden AutorInnen zusammen, um | |
| solche Fragen noch mal abzustimmen, zum Beispiel: Ergibt es für mich, wenn | |
| ich live in der Vorstellung bin, eine vollständige Kunsterfahrung? Konnte | |
| ich dem Geschehen auf der Bühne immer folgen? | |
| Baumann: Hat eine Information gefehlt? War eine Info verwirrend? Hätte ich | |
| lieber das Atmen des Schauspielers gehört als die Beschreibung, dass sich | |
| der Brustkorb hebt und senkt? Wir haben in den ersten vier Jahren des | |
| Berliner Spielplans sehr intensiv unser Publikum gefragt. Wir hatten | |
| Stammpublikum in der Vorstellung, und das musste einen Fragebogen | |
| ausfüllen. Da haben wir sehr genau gefragt: Habt ihr immer gewusst, wo eine | |
| Figur ist? Wie fandet ihr die Sprache? Habt ihr die Objekte aus der | |
| Tastführung in der Vorstellung wieder entdecken können? | |
| taz: Wann hat das mit dem Spielplan angefangen? | |
| Baumann: Der Projektstart war im Mai 2019. Das Erste, was passierte, war | |
| die Ausbildung. | |
| taz: Gab es vor der Einführung des Spielplans überhaupt Audiodeskription in | |
| den Berliner Theatern? | |
| Baumann: Sehr vereinzelt. So hat Armin Petras am Maxim-Gorki-Theater was | |
| ausprobiert – auch mit Blinden auf der Bühne. Die Jugendtheaterwerkstatt | |
| Spandau hat jedes Jahr ein Stück gemacht. Und die Sophiensæle und einige | |
| Freie-Szene-Produktionen waren in dem einen oder anderen Tanzstück aktiv. | |
| taz: Und jetzt? | |
| Baumann: Bei [2][BerlinBühnen] (der Online-Spielplan der Berliner Theater, | |
| Opern und Konzerthäuser – Anm. d. Red.) gibt es inzwischen einen Button | |
| „Audiodeskription“. Im Kulturkalender des Allgemeinen Blinden- und | |
| Sehbehinderten-Vereins ABSV gibt es auch eine Rubrik „Theater“, die man | |
| anklicken kann – und unsere Website. Ich möchte uns nicht auf die Schulter | |
| klopfen, aber das wäre ohne uns nicht so. Wir haben Pionierarbeit | |
| geleistet. Und inzwischen gibt es immer mehr Angebote, auch durch uns | |
| angeregt. | |
| Koch: Es gibt Live-Deskription im deutschsprachigen Raum seit circa 20 | |
| Jahren. Nach und nach haben sich regelmäßige Angebote etabliert. Zunächst | |
| in Leipzig, Gelsenkirchen, Hamburg und München, später dann in weiteren | |
| Städten. In der Hauptstadt Berlin gab es bis 2019 kein wirklich | |
| verlässliches Theaterangebot für blinde Menschen. Und das ist eindeutig der | |
| Verdienst vom Spielplan, dass das auf breiter Ebene passiert. | |
| taz: Und ohnee den Berliner Spielpan Audiodeskription … | |
| Koch: … wäre die Berliner Theaterszene nicht in der Lage, den Zugang zu | |
| Theater für blindes Publikum zu gewährleisten. Es ist super sinnvoll, das | |
| an einer Stelle zentral zu organisieren, gleichzeitig ist hier wertvolles | |
| Wissen gebündelt. Und in dem Maße, in dem dieses Projekt gefährdet ist, ist | |
| auch das Wissen zum Zugang für blindes Publikum gefährdet. | |
| taz: Warum ist der Spielplan bedroht? | |
| Baumann: Der Spielplan Audiodeskription ist immer eine Projektförderung | |
| gewesen. Aktuell stehen wir an der Schwelle zu sagen, entweder gibt es das | |
| fest als etablierte Sache oder gar nicht mehr. Wir haben die Hoffnung, dass | |
| wir ein Posten im Kulturhaushalt sind. Das wäre ein großer, toller Schritt. | |
| Dass die Politik sagt: Wir brauchen das in dieser Stadt. Wir brauchen | |
| dieses Zentralorgan, das immer wieder anmahnt und immer hinterher ist, dass | |
| was passiert. Aber auch wenn in diesem Sparhaushalt Fördergelder für uns | |
| drin stehen, wird es nicht reichen, um unsere Arbeit auf dem bisherigen | |
| Niveau weiterzuführen. Sowohl quantitativ als qualitativ. | |
| Koch: Das ist eine politische Entscheidung des Landes Berlin: Stehen wir | |
| hinter anderen Städten wie Leipzig, München oder auch Gelsenkirchen zurück? | |
| Oder sagen wir: Nein, auf Bundesebene gibt es die | |
| Behindertenrechtskonvention, die juristisch bindend ist in Deutschland, und | |
| wir als Hauptstadt gehen mit korrektem Beispiel voran. Man muss dafür nicht | |
| mal was unternehmen, man muss es nur fortführen. Man muss einfach das, was | |
| in den letzten Jahren passiert ist, fest verankern. | |
| taz: Wie steht denn Berlin im europäischen Vergleich da? | |
| Baumann: Es gibt Audiodeskription in Paris, in der Niederlanden, in | |
| Spanien, in Norwegen und in London. England ist weit vorne. In London sind | |
| Aufführungen mit Audiodeskription sehr viel etablierter. | |
| Koch: Es gibt einen regelmäßigen internationalen Fachaustausch mit | |
| AudiodeskripteurInnen bis hin nach Australien. Der Berliner Spielplan ist | |
| für sie eine der wichtigsten Anlaufstellen in Europa. In Ungarn gab es über | |
| viele Jahre Live-Beschreibungen. Inzwischen ist dort die Audiodeskription | |
| ersatzlos gestrichen worden. Die deutsche Politik kann sich überlegen, ob | |
| sie diesem Beispiel folgen möchte. | |
| taz: Wie ist die Resonanz beim blinden Publikum? | |
| Koch: Wir merken, dass das Publikumsinteresse steigt. Blinde Menschen zu | |
| erreichen, die nicht organisiert sind, das ist ein langer Prozess. Es kam | |
| schon öfter vor, dass Menschen mit einem Langstock in der Oper waren und | |
| gar nicht mitbekommen haben, dass es dort eine Audiodeskription gab und | |
| sich dann total freuten. Wenn dieser Prozess abgeschnitten wird, obwohl | |
| noch so viel Potenzial drin steckt, dann ist das wieder mal eine vertane | |
| Chance. Darum haben wir als Fachverband für den gesamten deutschen | |
| Sprachraum entschieden, dass wir uns jetzt mal einmischen. Denn ein Ende | |
| vom Spielplan würde auch bedeuten, dass sich freischaffende AutorInnen, die | |
| momentan einen Markt haben in Berlin, zurückziehen, in andere Städte gehen | |
| oder wieder für den Film arbeiten. Und wenn es dann doch wieder mehr | |
| Audiodeskription im Theaterbereich geben sollte, dann gibt es wieder eine | |
| Versorgungslücke. Das ist das genaue Gegenteil von Nachhaltigkeit. | |
| 4 Dec 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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