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# taz.de -- Opposition bei der Kanzlerwahl: Im Bundestag bleibt es still
> Merz’ Scheitern beim ersten Wahlgang erwischt auch die künftige
> Opposition auf dem falschen Fuß. Die Linke darf sogar mit der Union
> verhandeln.
Bild: Haben Gesprächsbedarf: Die Grünen Dröge, Haßelmann, Audretsch, Roth u…
Berlin taz | Nichts, aber auch gar nichts deutet an diesen Morgen gegen
halb neun im dritten Stock des Reichstagsgebäudes auf die kommende
Sensation hin. Auf der sogenannten Fraktionsebene im Bundestag haben sich
vor den nebeneinanderliegenden Bereichen von Union und SPD viele
Journalist:innen versammelt, immer wieder geben Abgeordnete Interviews
zur heute anstehenden Wahl von Friedrich Merz zum Bundeskanzler.
Ganz anders ist die Lage im Flur vor den Fraktionssälen von Grünen und
Linker einige Dutzend Meter weiter. Ein paar Reinigungskräfte gehen
hindurch, niemand wartet. Der Fraktionssaal der Linkspartei ist leer, im
Saal der Grünen tagt eine Arbeitsgruppe. „Wir müssen ja auch keinen
Zählappell machen“, sagt die grüne Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge,
die eigens für ein Gespräch mit der taz hierhergekommen ist.
Zählappell – das ist die Probeabstimmung vor einer wichtigen Entscheidung,
bei der die Mehrheiten stehen müssen. Die Abgeordneten von Union und SPD
haben sich dazu vor der Kanzlerwahl getrennt getroffen. Alle gehen davon
aus, dass die Wahl von Friedrich Merz in weniger als einer Stunde klargehen
wird, auch Grünen-Chefin Dröge. Es ist die vierte Kanzlerwahl, an der sie
teilnimmt. Noch ahnt sie nicht, dass die Wahl diesmal völlig anders läuft
als sonst.
Die Abgeordneten der Linksfraktion versammeln sich kurz nach halb neun vor
dem Reichstag zu einer Fotoaktion. Sie fordern die Abschaffung des
[1][Abtreibungsparagrafen 218]. Deswegen tragen die meisten Abgeordneten
etwas in Lila, manche ein Halstuch, andere eine Jacke, einige ein Kleid.
Die Stimmung ist ausgelassen. Dabei müssen die Aufnahmen mehrfach
wiederholt werden, weil sich einige der älteren Linken verspäten. Eilig
stößt erst Bodo Ramelow, dann Co-Fraktionschef Sören Pellmann und
schließlich sein Vorgänger Dietmar Bartsch zu der Gruppe. Gregor Gysi
schafft es nicht mehr, dabei zu sein. Als letzter Linker kommt er gerade
noch rechtzeitig zum Sitzungsbeginn in den Plenarsaal des Bundestags.
## Erste Kanzlerwahl für viele linke Abgeordnete
Die große Mehrzahl der Linke-Abgeordneten nimmt zum ersten Mal an einer
Kanzlerwahl teil. Das gilt auch für [2][Co-Parteichefin Ines Schwerdtner].
„Ich habe kein großes erhabenes Gefühl“, bemerkt sie auf dem Weg in den
Plenarsaal. „Das ist das Gesicht von gestern“, sagt sie über Merz.
Schwerdtner ist gedanklich mit der Vorbereitung des Parteitags der Linken
beschäftigt, der am Freitag in Chemnitz beginnt. Je näher der Wahlgang
rückt, desto bewusster wird ihr, dass sie einem historischen Ereignis
beiwohnt. Das habe schon „etwas Surreales“, so die 35-Jährige. Wie
historisch es werden wird, ahnt Schwerdtner da noch nicht. Ebenso wenig,
dass sie und die Linkspartei in den folgenden Stunden noch eine größere
Rolle spielen werden als die oppositioneller Statisten, auf deren Stimmen
es nicht ankommt.
Der AfD-Abgeordnete Stephan Brandner geht aus seinem Büro im
Jakob-Kaiser-Haus in den Bundestag. Er wirkt bestens gelaunt – trotz der
kürzlichen Hochstufung seiner Partei als „gesichert rechtsextrem“. Brandner
ist der erste Bundestagsabgeordnete, der jemals als Ausschussvorsitzender
im Bundestag abgewählt wurde – unter anderem nach antisemitischen Beiträgen
in den sozialen Medien.
Er gehört dem schon seit 2021 als „gesichert rechtsextrem“ eingestuften
Landesverband Thüringen an und gilt als Teil des völkisch-nationalistischen
Flügels der Partei. Auf die Frage, ob die AfD sich nun nach ihrer
Einstufung als „gesichert rechtsextrem“ deradikalisieren wolle, sagt
Stephan Brandner, die AfD sei nicht radikal.
Dabei ist er selbst das beste Gegenbeispiel: Im Bundestag hält er den
Rekord der meisten Ordnungsrufe, immer wieder sorgte er mit rassistischen
und rechtsextremen Ausfällen für Kontroversen. Letzten Oktober wurde sogar
seine Immunität aufgehoben, weil er eine Journalistin wiederholt als
„Faschistin“ beschimpfte.
Die grüne Fraktionsvorsitzende Dröge macht sich kurz vor 9 Uhr auf den Weg
in den Plenarsaal. Die Wahl des Bundeskanzlers ist geheim. Die Abgeordneten
werden nach und nach alphabetisch aufgerufen, damit sie ihre Stimme
abgeben. Um 9.13 Uhr schallt Dröges Name durch die Lautsprecher in den
Plenarsaal. Nachdem sie ihre Stimme in dem kleinen Raum mit den
Wahlkabinen abgegeben hat, gibt sie ein Interview nach dem anderen.
Als alle ihre Stimme abgegeben haben, wird die Sitzung unterbrochen. In der
Lobby des Bundestags drängen sich Abgeordnete und Journalist:innen. Die
Stimmung ist gelöst, es werden viele Hände geschüttelt und Schultern
geklopft.
## Klöckners Gesichtszüge entgleisen
AfD-Mann Brandner nutzt die Zeit nach der Abstimmung, um ein Kurzvideo für
seinen Social-Media-Auftritt zu drehen. Das will er später am Tag
zusammenschneiden und in den sozialen Medien posten, wie er sagt. Auf die
Frage, wie er abgestimmt habe, sagt er: „Eigentlich brauche ich nur ein
Wort, um das zu erklären: Pinocchio-Fritze. Wer die Wähler so verarscht,
bekommt keine einzige Stimme aus der AfD!“
Kurz vor der Verkündung des Ergebnisses lässt sich im Plenarsaal exakt der
Moment erkennen, in dem die Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) vom
Abstimmungsergebnis erfährt. Ein Mitarbeiter des Bundestags teilt ihr das
Ergebnis mit, ihre Gesichtszüge entgleisen. Klöckner verkündet das
Ergebnis. Friedrich Merz hat 310 Stimmen bekommen, sechs zu wenig für die
Kanzlermehrheit.
Im Bundestags ist es still. Niemand jubelt, nicht einmal die AfD – auch
wenn einige Abgeordnete sich ein breites Grinsen nicht verkneifen können.
Der AfD-Abgeordnete Kay Gottschalk sagt der taz dazu: „Wir haben gesagt,
wir wollen vernünftig und gelassen bleiben, staatstragend reagieren.“ In
den sozialen Medien sieht das deutlich anders aus. Im Minutentakt hauen
AfD-Abgeordnete hämische Beiträge raus.
Die Abgeordneten strömen aus dem Plenarsaal. Überraschung und Schock sind
in ihren Gesichtern zu sehen. Genau eine Stunde nachdem Dröge im Plenarsaal
zur Stimmabgabe aufgerufen wurde, geht die Tür des Fraktionssaals zu. Jetzt
ist der Flur belebt, Journalist:innen und Mitarbeiter:innen
tummeln sich hier. Die Abgeordneten treffen sich zu einer internen Sitzung.
Niemand weiß, wie es jetzt weitergeht. Der frühere grüne Parteichef Omid
Nouripour, jetzt Bundestagsvizepräsident, kommt zu spät zur Sitzung. Er
flucht, bevor er die Tür öffnet. Glücklich sind die Grünen nicht über den
Ausgang der Wahl.
Wenig später erscheint der grüne Ex-Bundestagsabgeordnete Jürgen Trittin
auf dem Flur vor den Fraktionssaal. Er saß bei der Sitzung auf der
Besuchertribüne. Christdemokrat:innen neben ihm hatten über
Chatgruppen von dem Desaster für Merz, Union und SPD erfahren. Wie viele
hier stellt Trittin Mutmaßungen an, wer verantwortlich ist; vor allem die
SPD, findet er.
Dass SPD-Chef Lars Klingbeil erst am Tag vor der Wahl die von ihm
ausgewählten Kabinettsmitglieder bekannt gegeben hat, sei ein Fehler
gewesen, ist Trittin überzeugt. Klingbeil habe nicht genug Zeit gelassen,
die Wunden verheilen zu lassen, die seine Personalentscheidungen gerissen
hätten.
Trittin gibt sich staatsmännisch: „Wir haben kein Interesse daran, dass das
Land in einem Schwebezustand bleibt, wir brauchen eine Regierung, gegen die
man vernünftig Opposition machen kann.“ Gregor Gysi kommt am Fraktionssaal
der Grünen vorbei. Die beiden begrüßen sich freundlich. Trittin mustert
Gysi, der eine Art Shirt unter der Anzugjacke trägt. „Ein weißes Hemd
ziehst du wohl nur zur Kanzlerwahl an“, spottet Trittin.
Über Stunden ist an diesem Dienstagmorgen ungewiss, wie es weitergeht, ob
und wann ein weiterer Wahlgang stattfindet. Von Hohn und Häme ist bei den
Grünen nichts zu spüren, als ihre Sitzung zu Ende ist und die Abgeordneten
aus dem Saal strömen. „Es ist nicht die Zeit für Schadenfreude“, sagt der
grüne Abgeordnete Janosch Dahmen.
## Linke bleibt entspannt
Wie alle ist auch die Linke überrascht. „Damit haben wir sicherlich nicht
gerechnet“, sagt Linke-Chefin Schwerdtner nach dem ersten Wahlgang. In der
Fraktion ist die Stimmung gut. „Wir sehen das relativ entspannt, wir haben
ja nichts zu verlieren“, sagt sie. Es herrscht Hektik auf den Gängen.
Bundestagspräsidentin Klöckner kommt zum Fraktionssaal der Linken und
spricht mit den beiden Fraktionsvorsitzenden Heidi Reichinnek und Sören
Pellmann. Kurz darauf zieht die Führungscrew der Linken, darunter
Schwerdtner, in Richtung der Räume der Union. Die Spitzen der
demokratischen Parteien beraten, was jetzt passieren soll. Es wird nicht
ihr einziges Treffen bleiben.
„Deutschland braucht eine stabile Regierung“, sagt Dröge am Mittag. Die
Grünen seien dazu bereit, die parlamentarischen Voraussetzungen für einen
weiteren Wahlgang zu erfüllen. Sie müssten etwa Fristverkürzungen
zustimmen, damit Merz erneut antreten kann. Die Kanzlermehrheit müssten
Union und SPD aber schon selbst zusammenbekommen, stellt Dröge klar. „Wir
werden Friedrich Merz nicht wählen.“
Gegen 14 Uhr haben sich Union und SPD mit den Grünen und der Linken auf
einen gemeinsamen Antrag geeinigt, dass noch an diesem Dienstag der zweite
Wahlgang stattfinden soll. Am Morgen hätte Linke-Chefin Schwerdtner nicht
gedacht, dass sie heute mit der Fraktionsspitze von CDU und CSU verhandeln
würde. „Aber jetzt waren sie auf uns angewiesen, weil die Hütte brennt“,
sagt sie. Trotz Unvereinbarkeitsbeschluss musste die Union die Linke
beknien, einen gemeinsamen Antrag zu stellen, um zu einem zweiten Wahlgang
zu kommen. „Das müssen sie jetzt ihren Leuten erklären“, sagt Schwerdtner.
6 May 2025
## LINKS
[1] /Schwangerschaftsabbrueche/!6069155
[2] /Linken-Chefin-Ines-Schwerdtner-vor-Wahl/!6069392
## AUTOREN
Pascal Beucker
Gareth Joswig
Anja Krüger
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