# taz.de -- Linksparteitag in Chemnitz: Überwiegend harmonisch | |
> Auf ihrem Parteitag geht es der Linkspartei vor allem um | |
> Selbstvergewisserung. Doch nicht bei allen Themen herrscht untereinander | |
> eitel Sonnenschein. | |
Bild: Es gelingt der Parteiführung, die internen Differenzen beim Thema Gaza m… | |
Chemnitz taz | Weißer Rauch steigt auf, rotes Licht flackert und der Bass | |
wabert durch die Messehalle Chemnitz. Rapper Flaiz aus Görlitz ruft | |
„Alerta, alerta“. Was wie eine Mischung aus Papstwahl und Antifa-Demo | |
klingt, ist der Beginn des Bundesparteitags der Linken am | |
Freitagnachmittag. „Die Linke ist zurück“, ruft [1][die | |
Bundestagsfraktionsvorsitzende Heidi Reichinnek] in ihrer Auftaktrede | |
strahlend in den Saal. „Wir haben das geschafft, woran fast niemand mehr | |
geglaubt hat.“ Es sei „so ein verdammt gutes Gefühl, endlich mal wieder | |
gewonnen zu haben“. Die rund 540 Delegierten jubeln. | |
Für zwei Tage hat sich die Linkspartei im früheren Karl-Marx-Stadt | |
versammelt, um ihre Wiederauferstehung zu feiern. Der Parteitagstermin war | |
schon im vergangenen Jahr festgelegt worden, als die Linke noch glaubte, | |
sich einer Bundestagswahl im September entgegenzittern zu müssen. Nun ist | |
alles anders gekommen: Die Partei hat bei der vorgezogenen Bundestagswahl | |
im Februar mit 8,8 Prozent [2][ein spektakuläres Comeback] geschafft. Und | |
statt der ursprünglich geplanten Bundestagswahlprogrammdiskussion steht | |
jetzt Selbstvergewisserung auf der Tagesordnung. | |
„Die Hoffnung organisieren“, lautet das Parteitagsmotto. „Wir sind zurüc… | |
und die sollen sich warm anziehen“, sagt die Co-Parteivorsitzende Ines | |
Schwerdtner in Richtung [3][der schwarz-roten Koalition von Friedrich | |
Merz]. Die Linke verstehe sich als „die soziale Opposition“ im Bundestag. | |
„Wir haben in diesem Wahlkampf wirklich unendlich viel gewonnen: an | |
Vertrauen, an Glaubwürdigkeit und an Schlagkraft“, so Schwerdtner, die nach | |
Reichinnek spricht. | |
Jetzt stehe ihre Partei vor einer großen Aufgabe. „Unser Weg zu einer | |
organisierenden Klassenpartei hat gerade erst begonnen“, sagt Schwerdtner. | |
Dazu zähle, die Linke zu einer Partei weiterzuentwickeln, „die wie eine Art | |
Universität für alle ist“. Sie solle eine Partei werden, in der „erfahrene | |
Genoss:innen den Schatz ihres Wissens weitergeben können“ und „viele | |
junge Menschen, die zu uns gekommen sind, eine Perspektive auf eine andere, | |
eine solidarische Gesellschaft entwickeln“. | |
Seit dem Abgang von Sahra Wagenknecht und ihrem Anhang befindet sich die | |
Linkspartei [4][in einem Transformationsprozess]. Noch Ende 2023 mit rund | |
50.000 Mitgliedern auf einem historischen Tiefstand, zählt sie inzwischen | |
mehr als 112.000 Mitglieder. Sie ist jünger und weiblicher geworden. Zwar | |
legte sie in allen Landesverbänden zu, besonders jedoch im Westen. So | |
verfügt die Linke laut einer für den Parteitag erstellten Erhebung nun über | |
etwa 69.000 Mitglieder in West- und gut 43.000 in Ostdeutschland. Aber wie | |
fragil ist der gegenwärtige Aufschwung? Das ist die große Frage, die viele | |
Delegierte wie auch Parteiführung umtreibt. | |
## Schwerdtner plädiert für eine „neue Parteikultur“ | |
Eine Lehre aus der vergangenen langen Krisenzeit ist, den klassischen | |
linken Hang zur Selbstzerfleischung zu überwinden. Wenn sie von | |
„revolutionärer Freundlichkeit“ spreche, meine sie das ernst, sagt | |
Schwerdtner. Ihr sei es „wichtig, dass wir eine neue Parteikultur | |
entwickeln“. Es gehe „nicht darum, keine Fehler zu machen oder nicht mehr | |
zu streiten, es geht darum, eine Kultur zu entwickeln, die uns nicht mehr | |
zerreißt“. Denn nur eine Partei, die untereinander solidarisch ist, könne | |
glaubhaft vermitteln, für eine solidarische Gesellschaft zu kämpfen. | |
In der Praxis ist das nicht ganz so einfach. Zwar gibt es in Chemnitz keine | |
hitzköpfigen oder gar verletzenden Diskussionsschlachten, wie so häufig auf | |
früheren Parteitagen. Aber das hat seinen Preis. Denn erfolgreich hat sich | |
die Parteiführung bereits im Vorfeld darum bemüht, unterschiedliche, auch | |
sich widersprechende Vorstellungen mittels etlicher | |
Kompromissformulierungen und einiger Wortakrobatik unter einen Hut zu | |
bringen. | |
Beim [5][mit großer Mehrheit beschlossenen Leitantrag] funktioniert das | |
ganz gut: Von 211 Änderungsanträgen bleiben mit einigem diplomatischen | |
Geschick nur ein paar wenige übrig. Aber hier gab es auch keinen | |
grundsätzlichen Streit. Von denen bekommt nur ein einziger Änderungsantrag | |
eine Mehrheit: Rausgestrichen aus dem Leitantrag wird nur die ambitionierte | |
Zielstellung, innerhalb von vier Jahren auf 150.000 Mitglieder anwachsen zu | |
wollen. | |
Das Problem, möglichst alles unter einen Hut bringen zu wollen, zeigt sich | |
jedoch am Freitagabend, als auf der Tagesordnung ein Thema steht, das | |
ursprünglich identitätsstiftend für die Linke war: die Friedenspolitik. Was | |
bedeutet es angesichts einer komplizierter gewordenen Weltlage heute noch, | |
sich als „Friedenspartei“ zu verstehen? Darüber gehen die Auffassungen weit | |
auseinander. Trotzdem ist es dem Parteivorstand gelungen, aus vier | |
divergierenden Anträgen einen einzigen mit dem Titel „Ohne Wenn und Aber: | |
Sage Nein zu Aufrüstung und Kriegstüchtigkeit!“ zu machen. | |
„Gerade jetzt braucht es eine klare und eindeutige Haltung“, heißt es | |
darin. Doch genau daran fehlt es, weil es keine gemeinsame Einschätzung | |
gibt, ob und welche Gefahr vom russischen Imperialismus ausgeht. Also wird | |
sich darum herumgedrückt. Stattdessen heißt es nur: „Mit der Behauptung, | |
Russland könne bald Nato-Territorium angreifen, werden bewusst Ängste | |
geschürt.“ | |
Es wird nicht einmal benannt, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. | |
Auch die Forderung nach einem russischen Rückzug fehlt, stattdessen wird | |
nur beklagt, dass die EU keinerlei diplomatische Initiativen ergriffen | |
habe, „um den Krieg zu beenden und wieder zu einer eigenständigen | |
Entspannungspolitik in Europa zu gelangen“. | |
## „Also bitte Leute, kommt doch mal auf den Boden der Tatsachen“ | |
Kritiklos passiert der Antrag den Parteitag nicht. Von | |
„Realitätsverweigerung“ spricht die Wiesbadener Stadträtin Brigitte | |
Forßbohm in der halbstündigen Diskussion über den Antrag. Sie finde „es | |
schon ein ziemliches Kunststück, es fertigzubringen, sich für Frieden | |
auszusprechen, und dabei den schlimmsten Krieg, der in Europa seit dem | |
Zweiten Weltkrieg in der Ukraine stattfindet, so zu verharmlosen“. Russland | |
setze auf einen militärischen Sieg über die Ukraine und demonstriere | |
Desinteresse an diplomatischen Lösungen. „Also bitte Leute, kommt doch mal | |
auf den Boden der Tatsachen“, fordert sie. | |
Er wisse, dass in dem Antrag „Sätze drinstehen, die nicht von dem ganzen | |
Parteitag geteilt werden“, räumt Parteivorstandsmitglied Wulf Gallert ein. | |
Doch bei aller Kritik werbe er für die Annahme, weil es wichtig sei, „eine | |
ganz klare Alternative zur militaristischen Debatte in der Bundesrepublik“ | |
zu formulieren. Mit einer breiten Mehrheit folgen ihm die Delegierten, auch | |
des lieben innerparteilichen Friedens Willen. Beendet ist die Diskussion | |
damit jedoch nicht. | |
Am Samstagnachmittag wird es noch mal spannend. Die linksjugend.solid und | |
der Studierendenverband Die Linke.SDS fordern den Rücktritt der linken | |
Minister:innen und Senator:innen in Bremen und | |
Mecklenburg-Vorpommern, die im Bundesrat für das milliardenschwere | |
Finanzpaket von Schwarz-Rot gestimmt haben. „Wer so abstimmt, zerstört die | |
Geschlossenheit der Partei“, kritisiert ein Antragssteller. Parteichefin | |
Ines Schwerdtner zeigt Verständnis für den Unmut, bittet aber darum, an | |
Einzelnen kein Exempel zu statuieren. „Wir haben ein verbindliches | |
Verfahren beschlossen, dass es nie wieder passieren kann, dass | |
Landesregierungen anders abstimmen als wir im Bundestag“, sagt sie. Der | |
Antrag wird nur knapp abgelehnt, mit 219 zu 192 Stimmen. | |
## Heftige Diskussionen über Anträge zum Gaza-Krieg | |
Heftige Diskussionen hatte es hinter den Kulissen über mehrere Anträge zum | |
Gaza-Krieg gegeben. Auch hier gelingt der Parteiführung, die internen | |
Differenzen mit der Verständigung auf einen gemeinsamen Antrag zu | |
überbrücken. Er trägt den Titel „Vertreibung und Hungersnot in Gaza | |
stoppen“ und fordert, die militärische Unterstützung Israels sofort zu | |
beenden. Parteichef Jan van Aken verkündet selbst am Mikrofon die | |
Verständigung und wirbt um Zustimmung. Die jüngsten Beschlüsse des | |
israelischen Sicherheitskabinetts liefen auf eine Vertreibung der | |
Bevölkerung hinaus. Mit sehr großer Mehrheit wird der Antrag angenommen. | |
Ein weiterer Antrag fordert, sich die Antisemitismus-Definition der | |
„Jerusalemer Erklärung“ zu eigen zu machen, die 2020 von | |
Wissenschaftler*innen und Antisemitismusexpert*innen erstellt | |
wurde. Diesmal plädiert van Aken dafür, den Antrag abzulehnen. „Das ist | |
eine wissenschaftliche Debatte“, die Partei solle ihr nicht vorgreifen. | |
Doch das Argument verfängt nicht. | |
„Das ist keine akademische Frage, sondern eine konkrete Frage für viele, | |
die davon betroffen sind“, kontert die Europa-Abgeordnete Özlem Alev | |
Demirel. Denn mit dem Antisemitismus-Vorwurf würden Kritiker:innen der | |
israelischen Regierung mundtot gemacht. Mit 213 zu 181 wird der Antrag | |
angenommen. Eine Niederlage für die Parteispitze, die es aber mit Fassung | |
trägt. | |
Bundesgeschäftsführer Jannis Ehling beendet den Tag versöhnlich und bedankt | |
sich für die gute Atmosphäre auf dem Parteitag. Am Ende seiner Rede | |
erklingt die „Internationale“. Alle Delegierten stehen auf und stimmen die | |
alte Hymne der Arbeiterbewegung an. Etliche recken die Faust. Als die Musik | |
nach der ersten Strophe endet, singen immer noch viele weiter bis zur | |
dritten Strophe und der Sonne, die ohne Unterlass scheint. Es ist ein wenig | |
wie nach einem Film, wenn der Abspann läuft. Damit ist der Parteitag | |
beendet. | |
10 May 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Linksfraktionschefin-Heidi-Reichinnek/!6077201 | |
[2] /Wahlerfolg-der-Linkspartei/!6068514 | |
[3] /Nach-der-Bundeskanzlerwahl/!6086683 | |
[4] /Linken-Chefin-Ines-Schwerdtner-vor-Wahl/!6069392 | |
[5] /Leitantrag-fuer-Linken-Parteitag-im-Mai/!6075078 | |
## AUTOREN | |
Pascal Beucker | |
Daniel Bax | |
Lotte Laloire | |
## TAGS | |
Die Linke | |
Ines Schwerdtner | |
Heidi Reichinnek | |
Jan van Aken | |
GNS | |
Die Linke | |
Lieferketten | |
Friedrich Merz | |
Die Linke | |
Schwarz-rote Koalition | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Parteitag der Linken: „Wir müssen Leuten Fragen beantworten können“ | |
Beim Parteitag der Linken in Chemnitz fordert die neue | |
Bundestagsabgeordnete Maren Kaminski aus Hannover mehr Debatten – auch zu | |
heiklen Themen. | |
Abschaffung des EU-Lieferkettengesetzes: Merz droht in Brüssel mit der Kettens… | |
Der neue Kanzler will das EU-Lieferkettengesetz abschaffen, dabei läuft die | |
Gesetzgebung noch. Grüne sehen einen Affront gegen die EU-Kommission. | |
Stolperstart der schwarz-roten Koalition: Eine links-grüne Blockade würde nur… | |
Die Merz-Regierung wird weiter auf Grüne und Linke angewiesen sein. Sie | |
müssen die Chance strategisch nutzen, ohne sich erpressen zu lassen. | |
Parteitag der Linkspartei: Nach dem Wunder | |
Die Linkspartei muss angesichts einer dramatisch gewandelten Weltlage neue | |
Antworten finden. Friedensfloskeln reichen nicht aus. | |
Opposition bei der Kanzlerwahl: Im Bundestag bleibt es still | |
Merz’ Scheitern beim ersten Wahlgang erwischt auch die künftige Opposition | |
auf dem falschen Fuß. Die Linke darf sogar mit der Union verhandeln. |