| # taz.de -- Die Wahrheit: Igittissima Italia! | |
| > Zerknickt, bespritzt und ausgeschwemmt: Ein neuer Trend höchst weich | |
| > gekochter Pasta schwappt um die weite, weite Welt. | |
| Bild: Endlich eine geschmeidige Teigmasse vom Teller in den Mund | |
| Ob in Spanien oder Dänemark, Korea oder Kanada: Weltweit entwickeln sich in | |
| den kulinarischen Hochkulturen die Techniken, Zutaten und Rezepte weiter. | |
| Auch die Kochkunst Italiens hält mit der Evolution Schritt, eilt ihr nun | |
| sogar voraus. Dazu ist es nötig, manch alten Zopf abzuschneiden! Eine neue | |
| Generation junger Köche begrüßt diese Feinabstimmung ausdrücklich und | |
| exekutiert sie mit Verve und Grandezza. Heraus kommt la nuova cucina | |
| italiana: die neue italienische Kutsche, vielleicht sogar Retourkutsche! | |
| „Wir probieren in unserer Versuchsküche dauernd Neues“, freut sich Enzo | |
| Sperenzo, Besitzer eines Fünfsternerestaurants im kalabrischen Cataransa. | |
| „Immer auf der Suche nach dem nie da gewesenen Geschmackserlebnis, nach dem | |
| ultimativen Gaumenkitzel für unsere Gäste. Sesamöl statt extra vergine, | |
| Stinkfrucht statt Zucchiniblüten, solche Sachen halt.“ | |
| Einem der Küchenjungen seien dabei neulich die Spaghetti versehentlich | |
| entzweigebrochen, erzählt der Meister vergnügt. „Genau in der Mitte! Da | |
| brachen bei ihm alle Dämme: Er würzte das Kochwasser mit reichlich Speiseöl | |
| und schreckte die Pasta nach dem Kochen mit viel kaltem Wasser ab.“ | |
| Das Ergebnis war eine Sensation, ein nie da gewesenes Geschmackserlebnis – | |
| die Gäste leckten sich die Finger danach, wenn sie vorher frisch geriebenen | |
| Hartkäse draufgestreut hatten. Die Botschaft verbreitete sich unter | |
| Gourmets wie ein Buschfeuer, das Rezept pflanzte sich fort wie eine Welle | |
| der Erleichterung. Innerhalb von wenigen Wochen änderte sich Italien, brach | |
| der Widerstand zusammen. Gelobt von Sterneköchen, geliebt an nonnas altem | |
| Küchentisch, gesponsert von Barilla – alles spricht jetzt dafür, dass sich | |
| die neue Zubereitungsweise über die ganze Welt hinweg etabliert. | |
| ## Abschreckung mit viel kaltem Wasser | |
| „Als Italiener“, erregt sich Giovanni Lampedusa, Besitzer eines | |
| alteingesessenen Dr.-Oetker-Ristorante in Syrakus, „habe ich natürlich das | |
| Recht, Pasta kaputt zu machen und Öl ins Wasser zu gießen, wie ich lustig | |
| bin!“ Auch Abschreckung findet der heißblütige Patron im Alltag nicht | |
| schlecht, mittels Kopfschuss und notfalls auch mit kaltem Wasser. Er meint | |
| freilich, dass niemand so gut kocht wie seine mamma und jeder tot | |
| zusammenbrechen soll, der das nicht so sieht! Bis dahin könne sich der Rest | |
| der Welt gern an die neue Teigwarenzubereitung gewöhnen, die gewiss bald | |
| traditionell genannt werden müsse. | |
| Nicht alle teilen diese Begeisterung. Manche gewöhnen sich erst langsam an | |
| die neuen Zeiten oder erinnern sich düster an die alten. „Igittissimo! Es | |
| war ein fürchterlicher Schock für mich“, keift Giuseppe Cantonelli, Beikoch | |
| im Dortmunder Feinschmeckerrestaurant Gondola D’Oro, „als ich den | |
| Deutschen erstmals beim Nudelkochen zuschaute, damals, in der | |
| Wirtschaftswunderzeit.“ | |
| In den frühen Siebzigern, als Cantonelli nach Deutschland kam, war nämlich | |
| das Kaputtbrechen, Einölen und Abschrecken von Nudeln völlig normal – in | |
| deutschen Küchen und Lokalen. Italienischer Stolz ließ Cantonelli darüber | |
| hinwegsehen und mit tausend anderen sein eigenes, italienisches Ding | |
| machen, das dann gastronomisch einen Siegeszug durch die teutonische | |
| Schnitzel-und-Currywurst-Wüste antrat. | |
| Mit der derzeitigen Welle muss er allerdings ebenfalls mitschwimmen, um | |
| nicht pleitezugehen. Der Culinario ekelt sich zwar immer noch ein bisschen, | |
| ist aber jederzeit bereit, auf die Wünsche seiner betuchten Kunden | |
| einzugehen: „Wenn die ihre Pasta so haben wollen, können sie sie gern für 5 | |
| Euro Ekelaufschlag kriegen, prego!“ Er selber bittet um Verschwiegenheit, | |
| nascht allerdings auch ganz gerne mal ein paar weiche, fettige und lauwarme | |
| Spaghetti aus dem Nudelsieb, angeblich um sich an die sonderbare Textur und | |
| den abscheulichen Geschmack zu gewöhnen. | |
| „Man muss mit der Zeit gehen“, zuckt er theatralisch mit den Achseln, | |
| „sonst kriegt man ein paar Betonschuhe angepasst und landet im | |
| Dortmund-Ems-Kanal.“ Dass die organisierte Kriminalität die neue | |
| Zubereitungsweise begrüßt, wie Cantonelli andeutet, ist ein offenes | |
| Geheimnis. Aber wer es in aller Öffentlichkeit lüftet, wandert ebenfalls in | |
| den Dortmund-Ems-Kanal. | |
| Kulinarisch ist daran nichts auszusetzen. „Mir schmeckt es“, sagt | |
| Jan-Henrik D’Agostino, verwöhnter Spross deutsch-italienischer Eltern. | |
| „Ich mag allerdings auch Fertigpesto und Industriemozzarella. Prego, | |
| signore e signori! Da setzt sich wohl die deutsche Seite durch.“ Zufällig | |
| durchs Bild laufende Passanten aus der Einkaufszone von Essen bestätigen: | |
| Die neuen Spaghetti finden überall passionierte Freunde, nicht nur unter | |
| Kindern. „Und am nächsten Tag schmecken sie aufgewärmt noch mal so gut“, | |
| glaubt zum Beispiel Pietro Notte, Inhaber einer vatikanischen Wein- und | |
| Rosenkranzhandlung. „Wer das nicht erkennt, sollte von italienischer | |
| Lebensart die Finger lassen und bei seinen stinkenden Kohl- und | |
| Kartoffelgerichten bleiben. Amen!“ | |
| Tatsächlich: Nur Spießer und Ewiggestrige stellen sich dem Dreiklang aus | |
| gebrochener, eingeölter und ausgeschwemmter Pasta noch entgegen. In den | |
| Gentrifikationsvierteln der deutschen Großstädte ist der Aufruhr daher | |
| groß. „Verrat!“, ruft man auch aus Feuilleton- und Foodbloggerkreisen: „… | |
| könnte man ja gleich Ananas auf Pizza legen.“ Dabei ist die Wirklichkeit | |
| schon viel weiter. Enzo Sperenzo hockt nämlich in den Startlöchern hin zu | |
| einer wirklich(!) modernen italienischen Küche. | |
| „Wichtig ist, die Soße erst auf dem Teller über die Nudeln zu geben. Und | |
| auf keinen Fall das stärkehaltige Nudelwasser zum Binden der Soße | |
| benutzen!“, schärft der Meister seinen Eleven ein, damit sie seine neuen | |
| Regeln verinnerlichen. Dabei haut er dem ein oder anderen, der nach wie vor | |
| instinktiv zu Hartweizen- statt zu Eiernudeln greift, mit dem Holzlöffel | |
| auf die Finger. | |
| „Und als Nächstes geben wir zu unseren traditionellen Al-dente-Kochzeiten | |
| immer noch vier Minuten hinzu“, lacht er keck. „Dann erhalten wir statt | |
| dieses halb rohen Strohgestrüpps endlich eine geschmeidige Teigmasse auf | |
| dem Teller – so weich, wie sie die Nordeuropäer schon immer hinkriegen. Und | |
| dann machen wir Nudelsalat – mit Gürkchen, Mayo und Fleischwurst!“ | |
| 28 Apr 2025 | |
| ## AUTOREN | |
| Mark-Stefan Tietze | |
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