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# taz.de -- Die Wahrheit: Unterwegs wie rollige Katzen
> Die neueste Bewegung des aufkommenden Sommers: Beim Strolling gehen
> Heranwachsende auf die Straßen, auf die Felder und in die Parks.
Bild: Beim Strolling, ja, da gibt es aber hallo was zu Sehen und Hören
Die Sonne gleißt, das Grün sprießt, die Pollen fliegen: Mit Anbruch des
Frühsommers sehen viele Menschen erschrocken, wie sehr sich unser Land
verändert hat. Nicht wenige von ihnen gehen prompt auf die Straße und
demonstrieren – zum Beispiel Zuversicht oder ihr Bedürfnis nach
Luftveränderung.
Dabei bleibt es selten: Viele trampeln auch über Feldwege, dackeln über
Waldpfade oder traben quer durch Ortskerne, um sich ihrem gezügelten
Bewegungsdrang und ihrer gemäßigten Schaulust hinzugeben. Selbst
Einkaufszonen, Industriebrachen und Friedhöfe werden an Wochenenden dazu
genutzt – es ist einfach herrlich entspannend!
Auffällig indes: In diesem Jahr sind unter freiem Himmel besonders viele
Halbwüchsige unterwegs. In Scharen streifen sie durch die Viertel,
verstopfen die Bürgersteige und zwingen die Erwachsenen dazu, die
Straßenseite zu wechseln. „Wir werden schlicht vertrieben“, erklärt Henni…
Wolters, 67, aus dem westfälischen Recklinghausen resigniert. „Sie sind
jung, laut und riechen meist schrecklich – gar nicht so sehr nach Schweiß,
sondern eher nach übertrieben starken Duftwässern, Deos und Duschgels,
pfui!“
Wie andere verunsicherte Senioren stört sich auch Wolters daran, dass die
Jugend von heute nicht mehr brav in Einkaufszonen hocken und Energydrinks
süffeln mag. Stattdessen fordert sie mit der jahrelang getankten Kraft
aktive Teilhabe an der Begehung unserer Lebensräume. „Uns als Teenies hätte
man damals an die frische Luft prügeln müssen“, seufzt der gestresste
Recklinghäuser. „Und hat man ja auch. Es war die Regentschaft Helmut
Kohls!“
## Wie Gaming oder Drogen ballern
Doch woher kommt der plötzliche Sinneswandel der neuen Generation? „Es ist
wie Gaming oder Drogen ballern“, schwärmt der 15-jährige Leon Paritzka aus
Bad Kreuznach, ehe er sich eine halbe Stunde die Beine vertreten geht. „Man
taucht dabei in andere Realitäten ein. Wenn ich täglich durch unsere Hood
strolle, sogar immer durch dieselben!“
Seine Altersgenossinnen Leni, Luna und Laura machen sich gerade ebenfalls
für einen Gang durch die Gemeinde fertig. Die jungen Frauen kommen aus dem
Karatekurs und lieben am meisten „das Sehen und Gesehenwerden“ am neuen
Lifestyle. „Wir zeigen gern unsere neuen Sneakers vor, die frischen
Piercings und natürlich die Jogginganzüge“, versichern sie abmarschbereit.
Luna erzählt zudem begeistert, dass sie draußen in der Welt Dinge zu sehen
bekommt, die sie nie zuvor gesehen hat, zum Beispiel einen Wald.
Geholfen hat dem Hype, dass die aktuelle Lieblingsaktivität bei den
Jugendlichen unter dem Namen Strolling bekannt geworden ist. Das klingt in
ihren Ohren, hinter denen sie oft noch feucht sind, nicht nur hip und
fresh, sondern verhindert auch, dass es zu Verwechslungen mit den Sonntags-
und Montagsspaziergängen aus dem ultrarechten Spektrum kommt. So brauchen
politische Beobachter die jungen Leute nicht für besorgte Bürger oder
Impfgegner zu halten, sondern einfach nur für seltsam.
„Genau das wollen die doch!“, ereifert sich Walburga von Schott, 72, ihres
Zeichens passionierte Wochenendspaziergängerin aus Königstein im Taunus.
Sie leidet bereits seit Wochen unter der unliebsamen Konkurrenz auf den
Forstwegen ihrer Heimat, von der sie regelmäßig vollgestunken wird. „Ich
traue mich fast schon nicht mehr aus dem Haus“, flucht die würdige alte
Dame und schwingt ihren Regenschirm. „Unter Adenauer gab es so etwas nicht.
Also Jugendliche!“
Nicht überall ballt man indes die altersfleckige Faust. Andernorts wird
nachsichtiger auf das neue Steckenpferd der kommenden Generation geblickt:
„Wo andere nur Risiken sehen, sehe ich die Chancen“, meint Harald Jussuf,
36, selbstständiger Handelsmann an den Baggerseen des Emslands. „Meine
gekühlten Getränke werden von den Strollern gern gekauft. Wollen Sie auch
eins?“, fragt er und fährt heiter mit seinem Singsang fort: „Cola, Fanta,
Red Bull, Monster, Rockstar!“
Jussuf ist beileibe nicht der Einzige, der seinen Beitrag zum ersehnten
Wirtschaftsaufschwung leistet. An den beliebten Spazierwegen der Republik
haben sich inzwischen auch die Verkäufer von Spazierstöcken, Regencapes und
Einwegvapes ein gutes Auskommen gesichert. Ebenfalls aus den Händen
gerissen werden den Büdchenbesitzern am Wegesrand Schokoriegel,
Proteinsnacks und Instant Asia Noodles. Die ganz großen Player aus der
Sportartikelbranche stehen dem Phänomen allerdings noch abwartend
gegenüber.
## Spaziergängern kann man keinen teuren Scheiß andrehen
„Das Problem ist einfach“, analysiert Marketingprofessor Georg Georgsen von
der Fachhochschule Kitzbühel, „dass du Spaziergängern keinen teuren Scheiß
andrehen kannst.“ Spezielles Schuhwerk zum Spazierengehen habe sich in der
Vergangenheit regelmäßig als Flop erwiesen. Auch in puncto Kleidung blieben
die Leute stur bei ihren Alltagsklamotten. Seit praktisch jeder einen
Fotoapparat und einen Schrittzähler in seinem Handy habe, sei selbst dieses
Zusatzgeschäft weggebrochen.
„Eine Hoffnung gibt es allerdings“, ergänzt seine Kollegin Iris Hammerl,
„nämlich, dass die jungen Leute in ihren Interessen seit ewigen Zeiten
flatterhaft sind und eventuell schon morgen eine neue Leidenschaft für sich
entdecken: Outdoorschach, Raufen oder die Bibel – warum nicht? Die großen
Markenartikler sind darauf eingestellt!“
Herr Wolters aus Recklinghausen würde sich jedenfalls unbeschreiblich
freuen, wenn der Spuk vorbei und die „große Runde“, wie er seinen täglich…
Gang an der Autobahn hinter den Neubaugebieten nennt, frei von Jugendlichen
wäre. „Dann könnte ich“, flüstert der Rentner betrübt, „vielleicht wi…
mal frei durchatmen.“
23 Jun 2025
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Spaziergang
Bewegung
Senioren
Jugend
Jugendkultur
Kanzler Merz
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Trend
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