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# taz.de -- Die Wahrheit: Wilde Jagd nach dem nächsten Schuss
> Statt tierischen Vergnügens Flucht in eine Traumwelt: Das Fentanyl der
> Mittelschicht sind neuerdings Tierdokumentationen. Ein Drogenreport.
Bild: Fiktion und Realität, Maschine und Natur, Kamera und Tier stoßen aufein…
Eine neue Suchtwelle fegt durch das Land. Ihre Opfer sind keine
ausgemergelten Lumpengestalten, die hilflos durch die Gossen des
Bahnhofsviertels wanken. Es sind wohlbetuchte Handwerker, Studentinnen,
Verwaltungsangestellte aus den Gassen der bürgerlichen Wohnviertel am
Stadtrand. Statt aus stecknadelgroßen Pupillen schauen sie aus viereckigen
Augen gerührt auf unsere Welt. Statt hektisch in ihren Venen
herumzustochern, scrollen sie besessen durch ihr Handy – immer auf der Jagd
nach dem nächsten Schuss aus der Vogelperspektive, nach dem nächsten
Himmelspanorama vom Erdboden aus, nach Wolkenensembles, die im Zeitraffer
über Afrikas Weiten und Wüsten ziehen.
Denn auch sie entfliehen unserer traurigen Realität in eine Traumwelt.
Nervös streifen sie durch künstliche Paradiese, suchen einen Zipfel vom
ganz großen Glück, das sie zwischen den pelzigen Ohren eines Jaguarbabys
finden, aber auch auf dem Rücken eines Riesenschildkrötenpanzers. Dass sie
dabei regelmäßig ihre Orientierung im bedrohlichen Alltag verlieren,
paralysiert wie ein Okapi im grellen Licht der Geländewagenscheinwerfer,
und auf lange Sicht ihrem Ruin entgegenstolpern, sollte niemanden von
gesundem Menschenverstand wundern.
„Bei mir fing es so an“, bekennt Waltraud Humann (51), Sachbearbeiterin im
Braunschweiger Straßenverkehrsamt, „dass ich von Kollegen mit
Instagram-Reels angefixt wurde, kurzen Tierfilmchen, in denen Katzen sich
gegenseitig mit ihren Tatzen auf die Nase boxten. Das war so niedlich – das
erste Mal im Leben spürte ich allumfassendes Glück. Als löse ich mich in
einer Wanne voller warmem Salzwasser auf!“
Bald schon folgten Igel, die durch nächtliche Gärten rumorten.
Rempel-Duelle zwischen Ziegen und Katzen, die die cleveren Samtpfötchen
stets für sich entschieden. Arglose Hunde, die von ihren Herrchen und
Frauchen, als Streich, überraschend angebellt wurden und wutentbrannt
zurückbellten. Je mehr Tiere über ihr Display wälzten, desto unbarmherziger
schlug der Algorithmus neue Tiere vor, denen wiederum neue Tiere
hinterherpurzelten – in immer rascherer Folge, in einem unheimlichen Sog.
Schäferhunde schnüffeln an unwilligen Katzen, Rottweiler lecken entzückten
Kleinkindern die Hände, Babyäffchen planschen mit Babyhasen in der
Badewanne …
## Am Anfang Euphorie
Die Sachbearbeiterin kommt nicht mehr zum Arbeiten, vernachlässigt in ihrer
Euphorie die Baustellenüberwachung im Straßenraum. Prompt kassiert sie eine
Abmahnung, dann die nächste, ein paar Tage später die letzte: Rauswurf!
Frau Humann in ihrem Dauerrausch ist’s ohnehin schnurz – bestaunt sie doch
gerade die Geburt eines kleinen Hippopotamus. Und Geld ist wegen Erbe erst
recht kein Problem! Babyelefanten bei den ersten Geh- und Spielversuchen
sollen ihre nächste Passion werden. Wie sie einander mit den Rüsseln
umschlangen, mit den Ohren wedelten und sich neckten! Wie ein frecher
kleiner Kerl seine Geschwister umschubste und schnell davonrannte!
Doch statt die ungewohnte Freizeit zu genießen und im Minutentakt die
Streiche junger Affen und Faultiere mit ihren früheren Kolleginnen zu
teilen, fühlt Humann schmerzhaft: Sie muss die Dosis steigern, um sich
weiter zu betäuben. Sie braucht roheren, reineren, unverfälschten Stoff –
und landet bei den Langdokus und Naturserien der Streaming-Dienste.
„In ein paar Wochen wird man die Frau auf allen Vieren über die Felder
jenseits der Autobahn galoppieren sehen. Sie wird an den Feldwegen
lautstark Spaziergänger um Süßigkeiten anbetteln“, prognostiziert
Streetworker Adrian Diddlich (32) düster. „Viele Anwohner rufen derzeit
nach dem Großwildjäger, aber die medieninduzierte Vertierung ist eine
Krankheit, die behandelt werden muss.“ Der Sozialarbeiter ist sich sicher:
„So wie sich Fentanyl inzwischen in den Klein- und Mittelstädten unter den
Abgehängten ausbreitet, wuchert die Tierdokusucht rapide in die Mitte
unserer Gesellschaft hinein. Zu den Angestellten und
Kleingewerbetreibenden, den Krankenschwestern und Webdesignern!“
## Am Schluss Aufgeben
Frau Humann jedenfalls rutscht immer tiefer in die Abhängigkeit. Weise
Orang-Utan-Greise und faule Löwenmännchen weisen ihr den Pfad hinab. Die
Ernährungsgewohnheiten von Nashörnern, das Balzverhalten der Nilkrokodile,
die Gruppendynamik der Büffelherden saugen sie alsbald vollständig auf; die
Wildnisse Asiens, Afrikas und Australiens werden ihre Welt. Am Ende steht
der tragische Absturz: Humann verfolgt ein springendes Rehkitz über ein
Brückengeländer, knallt auf die Autobahn. Tot.
Was sagen aber die Experten? Was sollten wir daraus lernen? „Die
Problematik ist überregional und stinkt nach großen Haufen Dung“, mahnt
Streetworker Diddlich. „Wir müssen ein funktionierendes Hilfenetz aufbauen.
In allen größeren Städten brauchen wir Tierdoku-Konsumräume, um die
Isolation aufzubrechen und die daraus resultierenden psychische
Zusammenbrüche einzudämmen. Sowie ihr Gejaule, Geraunze und
Herumtrompeten!“
Fortschrittliche Drogenpolitik, sagt er, darf dabei nicht länger auf
Abstinenz setzen. Akzeptanz heißt das Gebot der Stunde. Als Mann aus der
Praxis weiß Diddlich, dass Delfin-Reels und Nilpferd-Dokumentationen schon
viele Abhängige den Verstand gekostet haben. „Die Körper der Leute jiepern
nach dem Stoff. Das ganze Nervensystem ist in Aufruhr, schlägt Purzelbäume
und wälzt sich wohlig in den Brackwassern herum“, umschreibt der
Sozialarbeiter. „Wir müssen an die Strukturen, die Wurzeln des Ganzen, die
Leute, die ihre Haustiere mit den Handys filmen. An die Dealer, die großen
internationalen Player kommen wir sowieso nicht ran.“
Auch Prof. Dr. Iris Janisch (47), Neurowissenschaftlerin aus Leidenschaft
an der Lahn, befürwortet niedrigschwellige Hilfeangebote, die den Süchtigen
nicht das Menschsein absprechen. „Sie benehmen sich zwar wie die Tiere“,
warnt die Forscherin, „und zwar welche, die stundenlang am Bauch gekrault
werden – aber als Gattung waren wir selber einmal Tiere und sollten ihre
animalische Sehnsucht ernst nehmen: die nach der Natur, nach der Unschuld,
nach dem Fressen und Gefressenwerden!“
31 Mar 2025
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Tiere
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