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# taz.de -- Die Wahrheit: Altmodische Vergnügung
> Wenn früher im Fernsehen oder sonstwo Harlekins und Weißclowns
> auftauchten, gab es garantiert nichts zu lachen. Und wie ist das heute im
> Variete?
Ende Januar besuchte ich ein Neujahrsvarieté, da eine Freundin mit
Gästekarten versorgt worden war. Die pompöse Revueveranstaltung, bei der
rund 40 Artisten aus 13 Ländern auftreten sollten, fand in einem unweit
gelegenen Kurort am Fuße des nahen Mittelgebirges statt. Allerdings reiste
ich nicht mit der automobilen Expeditionsgruppe, sondern mit der Bahn, was
sich als Fehler herausstellte.
Erst einige Minuten nach Beginn des Spektakels langte ich auf dem Balkon
mit den Logen an. Während ich mir in der Finsternis einen Sitz suchte,
polterten auf der stimmungsvoll ausgeleuchteten Bühne des
Jugendstiltheaters zwei brasilianische Clowns mit monströsen Schnurrbärten
umher. Im Mittelpunkt ihrer Darbietung stand ein ausklappbarer Tisch, über
den sie akrobatisch hinweghüpften. Ich staunte.
Es folgten einige Darbietungen, bei denen am Trapez und an Stangen
herumgeturnt wurde. Fluoreszierende Pantomimen stellten im Dunkeln
Ballettschritte nach. Ich fand meinen Platz. Erste Nachdenklichkeit
erzeugte ein Duo, das mit Geigenbögen balancierte. Eine tollpatschige
Tellerjonglage brachte jedoch die Heiterkeit zurück. Weiter ging es mit
Wassertrapez, Bauchrednern und dressierten Papageien. Vieles war mit Beats
und wechselnden Lichtstimmungen unterlegt. Während muntere Conferenciers
moderierten, animierten Pop-Hits und Musical-Melodien zum Mitklatschen. Dem
Publikum gefiel’s, mir nach und nach ebenfalls.
Den Höhepunkt, mit dem sie mich schließlich kriegten, bildeten
Gruppenauftritte von mongolischen Bogenschützinnen, kasachischen
Stangenhängern und kirgisischen Frankensteintänzern. Es war nicht weniger
als sensationell. Ich musste mich allerdings zwischendurch schütteln, weil
mich vage Erinnerungen an die Fernsehunterhaltung meiner Kindheit
heimsuchten.
In den Siebzigerjahren, so meinte ich mich zu entsinnen, waren Clowns und
Akrobaten fester Bestandteil der großen Samstagabendshows –
entsetzlicherweise. Sobald Harlekins und Weißclowns auftauchten, wussten
wir Kinder, dass es garantiert nichts zu lachen gab. Trapezkünstlerinnen in
Glitzerkostümen dehnten die Tortur ins Unendliche. Showtänze mit knapp
bekleideten Damen, die ihre Beine in die Luft schleuderten, brachten uns
zum Speien.
Dass ich mich trotz dieser alten Traumata nun gut unterhalten fühlte,
mochte daran liegen, dass ich altersbedingt jetzt erst das gelungene
Handwerk der Artistik zu schätzen wusste. Die physische Präsenz der Körper
da unten und da oben in der Luft demonstrierte, dass es im Leben mehr als
nur Sofa und Serien-Streaming gab: nämlich Fleiß, Präzision und den Willen
zu unterhalten.
Am Ende lagen wir uns jedenfalls gerührt in den Armen. Wir spielten den
Rest des Abends mit den Riesenballons, die beim Finale samt Flitter und
Konfetti ins Publikum und hoch zu uns auf den Balkon gepustet worden waren.
Alles in allem: Ich habe mich schon schlechter amüsiert.
19 Feb 2025
## AUTOREN
Mark-Stefan Tietze
## TAGS
Kolumne Die Wahrheit
Clowns
Artisten
Show
Tiere
Realität
Gold
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