# taz.de -- Die Wahrheit: Weggucken mit Hingabe | |
> Rückzug aus dem konfliktösen Leben in die Kissenburg: Weltflucht als | |
> Lifestyletrend für alle von der gegenwärtigen Situation völlig | |
> Überforderten. | |
Bild: Das Glück der Erde liegt längst nicht mehr auf dem Rücken der Pferde, … | |
Die derzeitige Lage ist vertrackt, verzwickt und verzwackt. Weite Teile der | |
Bevölkerung haben ihre gute Laune verloren und ihre Lebenslust unauffindbar | |
verlegt. Wo immer es geht, ducken sie sich weg, schließen ergeben die Augen | |
und geben keinen Mucks mehr von sich. Weitere Millionen überlegen derweil | |
ernsthaft, sich ihnen anzuschließen. Dabei ist das Ende der Fahnenstange, | |
von der die weiße Flagge weht, längst nicht erreicht: Einer von drei | |
Bundesbürgern fühlt sich von der gegenwärtigen Situation völlig überfordert | |
und gibt auf, die anderen zwei trauen sich bloß noch nicht, es zuzugeben. | |
Betroffene ziehen sich dementsprechend zurück aus dem konfliktösen Leben, | |
igeln sich angststarr ein und verstecken sich vor der Öffentlichkeit – in | |
Kellern und Dachkammern, in Gartenhäuschen, Chalets und Atombunkern. Schuld | |
daran ist eine historisch einzigartige Konstellation von Krisen, | |
Megakrisen und Metakrisen, die unserem Planeten und seinen vielen | |
Bewohnern im Augenblick mächtig zusetzen. | |
Selbst ohne die Unwägbarkeiten des Klimawandels sind die Probleme | |
erdrückend. In unseren Breiten umfassen sie eine ganze Reihe von | |
Scheußlichkeiten, unter denen zu Recht geächzt und gestöhnt wird: vom | |
wirtschaftlichen Niedergang des Westens über den allseitigen politischen | |
Vertrauensverlust bis zum tobenden Krieg in der Nachbarschaft, der in die | |
Häuser überzuschwappen droht. Überdies trägt die bevorstehende, nahezu | |
vollständige Machtübernahme durch einen rücksichtslosen Alleinherrscher | |
nicht gerade zum allgemeinen Wohlbefinden bei. Dafür guckt Kanzlerkandidat | |
Merz einfach zu verdrossen! | |
Vor seinem höhnischen Zorn und all den anderen Zumutungen fliehen deshalb | |
immer mehr Deutsche in ihre privaten Räuberhöhlen. Sie wickeln sich in | |
Kuscheldecken, verstopfen ihre Ohren mit Wachsmalstiften und sagen der | |
Öffentlichkeit mit Handkuss adieu. Dass dieser Trend zum Rückzug in den | |
Schutzraum des eigenen Zuhauses seit den späten achtziger Jahren | |
„Cocooning“ genannt wird, stört sie überhaupt nicht. Im Gegenteil: Es sor… | |
für ein beruhigendes, nostalgisches Hintergrundrauschen, das einen | |
ausreichenden Nachtschlaf auch ohne pharmazeutische Hilfsmittel erlaubt. | |
## Kokon der Innerlichkeit | |
Wer sich nämlich zum ersten Mal im Leben in den Kokon der eigenen | |
Innerlichkeit begibt, kann dort für längere Zeit beruhigende Abenteuer | |
erleben. Einige von ihnen führen geradewegs in Morpheus Arme, andere | |
schnurstracks zu stundenlangen Aufenthalten vor dem Fernsehapparat. Wenn | |
vor der Kissenburg ein paar schöne Streaming-Dienste installiert sind, | |
wissen die Leute, dass sie wenigstens dort eine Chance haben, all den | |
furchtbaren Nachrichtensendungen auszuweichen, die ihnen derzeit gründlich | |
die Stimmung vergällen. | |
Dies jedoch liegt oft gar nicht an der mangelnden Qualität der | |
Darbietungen, an fehlender Ausgewogenheit oder ungenügender Objektivität | |
der Mainstream-Medien. Es liegt auch nicht an den herzensguten | |
Moderatorinnen und Sprechern, die das aktuelle Geschehen präsentieren, | |
sondern an dessen grässlichen Inhalten. Spätestens seit dem zweiten | |
Wahlsieg Trumps und dem anschließenden Bruch der Ampelkoalition gibt es aus | |
der Welt nichts Gutes mehr zu vermelden. Viele Leute betrübt diese geballte | |
Negativität. Sie meiden deshalb das Nachrichtengeschehen. Sie schalten sich | |
aus und klinken sich ein in einen Lebensstil, der Sorglosigkeit verheißt. | |
In ihren Cliquen sind diejenigen die Stars, die sich am wenigsten kümmern, | |
am wirkungsvollsten abschotten, ihre neurologischen Systeme komplett | |
lahmlegen und sich effektiv tot stellen. Ans Telefon kriegt man sie schon | |
lange nicht mehr. Die letzten Menschen, die auf den Straßen zu sehen sind, | |
sind die Fahrradboten der Lieferdienste. Am populärsten werden Partys, auf | |
die keiner mehr geht. In der Ferne tuckert ein Paketwagen von Amazon | |
einsam vor sich hin. | |
## Sud der Eigentlichkeit | |
Ob das für die Menschen allerdings wirklich gut ist, wagen Wissenschaftler | |
zu bezweifeln. Wer immer nur im eigenen Sud simmert, so geben sie zu | |
bedenken, wer also sein immer knapper werdendes Geld brav nach Hause | |
bringt, routiniert den immer teurer werdenden Hobbys nachgeht und höchstens | |
mal die üblichen Familienprobleme bequatscht, bekommt es mit unheimlicher | |
Langeweile zu tun. Experten betonen die Gefahr, dass bald nur noch Ödnis | |
und Stumpfsinn den Alltag regieren. Die daraus entstehende Apathie schwächt | |
wiederum den Wirtschaftsstandort, das Geld wird noch knapper, | |
Trostlosigkeit macht sich breit in den Hütten. | |
Es nimmt also nicht wunder, dass zwei von drei Deutschen, die sich in den | |
vergangenen Wochen ins Private verpuppt haben, ihre Hand immer wieder in | |
Richtung Smartphone zucken sehen – ihr Körper wehrt sich gegen den | |
Nachrichtenentzug! | |
Wer diesem fatalen Drang nachgibt, ist in Nullkommanichts wieder süchtig, | |
hängt am Aufladegerät, verdaddelt über dem Doomscrolling sinnlos seine | |
Zeit. Nach einer Weile aber die Einsicht: So war das eigentlich nicht | |
gedacht! Und schwupps wird wieder Abstinenz geübt. Es ist ein Teufelskreis, | |
dem zu entrinnen den wenigsten gegeben ist. Denn in den sozialen Medien wie | |
auch auf den Nachrichtenportalen lauern hochinteressante Wahlwerbespots, | |
die wider Willen zurück in die Sphäre das Problematischen ziehen, ins | |
Dunkel, in die Katastrophen von Wirtschaft und Politik. | |
Dagegen hilft der Forschung zufolge nur verschärfter Eskapismus sowie | |
Ignoranz und ein dezidierter Fokus auf Jubel, Trubel, Heiterkeit. Den | |
wenigsten ist zwar der Gleichmut gegeben. Eventuell geht es aber mit | |
Autogenem Training, Yoga, esoterischem Firlefanz. Als Alternative zu | |
Psychopharmaka und Rauschdrogen haben sich auch asiatische | |
Meditationstechniken und Dufttherapien bewährt. Und just an dieser Stelle | |
platzt lustigerweise eine sensationelle Kurznachricht herein: Krass | |
weltfremde Spinner, besagt eine aktuelle Studie, haben eine gute Chance, | |
ihre seelische Gesundheit zu bewahren. | |
13 Feb 2025 | |
## AUTOREN | |
Mark-Stefan Tietze | |
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