# taz.de -- Verhandlungen von Union und SPD: Koalition unterstellt Erwerbslosen… | |
> Die künftige schwarz-rote Regierung will schärfere Strafen: Erfahrungen | |
> beim Bürgergeld aber zeigen, dass komplette Sanktionen kaum einlösbar | |
> sind. | |
Bild: Neoliberales Herrschaftsinstrument: die Agentur für Arbeit | |
Berlin taz | Es ist der neue schrille Sound im Sozialstaat: „Diejenigen, | |
die nicht arbeiten, aber arbeiten können, werden in Zukunft kein Bürgergeld | |
mehr bekommen“, hat Union-Spitzenkandidat Friedrich Merz wiederholt | |
angekündigt. In den Koalitionsverhandlungen haben sich Union und SPD darauf | |
geeinigt, dass Sanktionen für vermeintliche Arbeitsverweigerer „verschärft�… | |
werden sollen. Wer wiederholt „zumutbare Arbeit“ verweigert, dem droht | |
künftig „vollständiger Leistungsentzug“. So steht es in dem Papier der | |
zuständigen Arbeitsgruppe. | |
Die Scharfmacherei wird die Stimmung in den Jobcentern versauen und auch | |
sonst zu nichts Gutem führen. Denn es gibt Erfahrungen mit den Sanktionen, | |
auch zuletzt im Bürgergeld. Dort hatte im März 2024 Bundesarbeitsminister | |
Hubertus Heil (SPD) die Sanktionen bei angeblicher Arbeitsverweigerung von | |
Bürgergeld-Empfänger:innen bereits verschärft, auch durch den Druck der | |
Union. | |
Der Regelsatz im Bürgergeld konnte ab März 2024 vollständig für zwei Monate | |
gestrichen werden, wenn erwerbsfähige Leistungsempfänger:innen, die zuvor | |
schon wegen Pflichtverletzungen sanktioniert worden waren, weiterhin eine | |
„zumutbare Arbeit“ nicht aufnehmen, so steht es im Paragraf 31a im | |
Sozialgesetzbuch II. Die Übernahme der Wohnkosten durfte dabei nicht | |
versagt werden. | |
Diese „Totalverweigerer-Sanktion“ im Bürgergeld spielte aber „nach | |
bisherigen Erfahrungen in der Praxis kaum eine Rolle aufgrund des nicht | |
einlösbaren Tatbestandes,“ heißt es in einem Beitrag der Autoren Johannes | |
Greiser, Richter am Sozialgericht Osnabrück, und André Oberdieck, | |
Landkreismitarbeiter im Fachbereich Jobcenter in Göttingen. Der Beitrag | |
findet sich im aktuellen Themenheft „Zwei Jahre Bürgergeld in der Praxis“ | |
des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge. | |
## „In der Praxis kaum durchführbar“ | |
Der „nicht einlösbare Tatbestand“ bei den sogenannten | |
„Totalverweigerer-Sanktionen“ liegt unter anderem darin, dass vor und | |
während einer Komplett-Streichung des Regelsatzes „die Möglichkeit der | |
Arbeitsaufnahme tatsächlich und unmittelbar bestehen und willentlich | |
verweigert werden muss“, so der Paragraf 31a, auf den Greiser und Oberdieck | |
verweisen. | |
In der Praxis bedeutet dies, dass das Jobcenter bei einer solchen | |
kompletten Sanktionierung nachweisen muss, dass der abgelehnte Job vor und | |
während der Leistungskürzung weiterhin von einem bereitwilligen Arbeitgeber | |
zur Verfügung stünde, also ohne weiteres sofort angenommen werden könnte. | |
„Solche Nachweise sind in der Praxis kaum zu führen“, sagt ein Mitarbeiter | |
eines Jobcenters der taz, der nicht namentlich in Erscheinung treten will. | |
Das Tatbestandsmerkmal „willentlich“ im Gesetz sei eine weitere Hürde für | |
die Sanktionierung, schreiben Greiser und Oberdieck. Willentlich bedeute | |
„mit voller Absicht“. „Es muss dem/der Leistungsberechtigten also gerade | |
darauf ankommen, die Aufnahme der Tätigkeit zu vereiteln“, so die Autoren. | |
„Die Beweisführung dürfte für die Jobcenter sehr schwierig sein.“ Eine | |
Arbeitsaufnahme käme etwa dann nicht zustande, wenn sich | |
Leistungsbezieher:innen beim Anschreiben oder beim Bewerbungsgespräch | |
dem Arbeitgeber bewusst ungünstig präsentieren. | |
In einem [1][Urteil des Bundessozialgerichts] von 2006 (Aktenzeichen B 7a | |
AL 14/05 R) erkannte das Gericht, dass ein „Bewerbungsschreiben einer | |
Nichtbewerbung gleichzusetzen ist“ und damit eine Sperrzeit auslösen könne, | |
wenn für den Bewerber klar sein muss, „dass ihn ein verständiger | |
Arbeitgeber schon wegen des Inhalts oder der Form des Bewerbungsschreiben | |
aus dem Bewerbungsverfahren“ ausschließe. | |
## Im Röckchen zum Amt | |
Ein arbeitsloser Diplom-Ingenieur hatte auf Aufforderung des Arbeitsamtes | |
ein eher abschreckendes Bewerbungsschreiben verschickt, dass der erboste | |
Unternehmer an das Arbeitsamt weiter leitete mit dem Hinweis, der Bewerber | |
habe offenbar überhaupt kein Interesse an der Tätigkeit als Disponent. Der | |
Bewerber hatte in dem Anschreiben unter anderem erklärt, in einem | |
bestimmten Arbeitsbereich weder Ausbildung noch Berufspraxis zu haben und | |
„dies auch keine Wunsch-Tätigkeit wäre“. Das Gericht urteilte, „die | |
Aufzählung besonders nachteiliger Umstände, die in keinem Zusammenhang mit | |
der zu erbringenden Arbeitsleistung stünden“, sei „nicht gerechtfertigt, | |
solange der Arbeitgeber nicht danach gefragt“ habe. | |
Wie wandelbar solche Einschätzungen sind, zeigt ein Blick in die Beiträge | |
des „Erwerbslosen-Forums“. Dort gab es mal eine Diskussion darüber, ob das | |
Jobcenter bewusste Arbeitsverhinderung unterstellen könne, wenn man im | |
Bewerbungsgespräch darauf hinweise, dass man zu einem abgelegenen | |
Arbeitgeber mit den öffentlichen Verkehrsmitteln kommen müsse, da man kein | |
Auto besitze. In der Regel unterstellten die Arbeitgeber solchen Bewerbern | |
dann potentielle Unzuverlässigkeit und sortierten sie aus, sagte ein | |
Diskutant. | |
In den 80er Jahren im alten Westberlin gelang ein Langzeitarbeitsloser zu | |
gewissem Ruhm in der Szene, der grundsätzlich im Röckchen zum Arbeitsamt | |
ging – das Röckchen konnte ihm niemand verbieten. Die Zahl der Jobangebote | |
hielt sich in Grenzen. Heute wäre das Röckchen möglicherweise kein Thema | |
mehr. Wer im Bewerbungsgespräch die immer wieder kehrenden Rückenschmerzen | |
erwähnt oder auf die Depressionen oder fehlende Vorerfahrungen hinweist, | |
ist möglicherweise einfach nur ehrlich und kein Verweigerer. | |
„Das Problem ist nicht die Unwilligkeit oder die Willigkeit der Bewerber, | |
die meisten sind willig“, sagt Claas Reichert, Disponent in Berlin bei der | |
Zeitarbeitsfirma Arwa, im Gespräch mit der taz. „Das Problem besteht eher | |
darin, dass die Jobcenter Bewerber und Bewerberinnen schicken, ohne vorher | |
überhaupt zu prüfen, ob bei den Menschen die Voraussetzungen für die Arbeit | |
gegeben sind, etwa in der beruflichen Vorerfahrung, in der Qualifikation, | |
in der gesundheitlichen Verfassung.“ Reichert hatte schon 63jährige, die | |
vom Jobcenter für einen Zeitarbeitsjob in der Produktion zu Arwa geschickt | |
wurden. „Aber wenn jemand nicht mehr acht Stunden stehen kann, macht das | |
keinen Sinn“, sagt der Personaldisponent. | |
## Fließende Grenze zwischen Nicht-Wollen und Nicht-Können | |
Bei Arwa sprechen auch Menschen vor, die ganz offen angeben, nur aus | |
Verpflichtung dem Jobcenter gegenüber zu kommen, die sich aber als | |
ungeeignet für den Job halten und nur die schriftliche Bestätigung | |
brauchen, dass sie bei der Firma waren, sich also der Bewerbung nicht | |
entzogen haben. „Die kriegen die Bestätigung, das kommt öfter vor“, sagt | |
Reichert. | |
Eine bewusste Verweigerung trotz Eignung für den Job kann das Jobcenter | |
eher nachweisen, wenn die Arbeitslosen zu bestimmten Maßnahmen verpflichtet | |
werden, auch zu Ein-Euro-Jobs, und diese dann ablehnen. In einer | |
[2][fachlichen Weisung an die Jobcenter] der Bundesagentur für Arbeit vom | |
Oktober 2024 werden die Vermittler:innen aufgefordert, | |
Langzeitarbeitslosen, die unter Verweigerungsverdacht stehen, vorrangig | |
Ein-Euro-Jobs aufzudrängen. Die Ablehnung einer solchen Maßnahme kann zur | |
Sanktion führen. | |
Im sozialen Bereich ist die „Zwangsarbeit“ der Helfer:innen für die | |
Klient:innen dann aber unangenehm. „Man fühlt sich schon etwas blöd, | |
wenn der Helfer klagt, er sei nur wegen der Verpflichtung vom Jobcenter da, | |
um Kürzungen beim Bürgergeld zu vermeiden“, erzählt eine Rentnerin aus | |
Berlin-Tempelhof, die wegen einer zwischenzeitlichen Gehbehinderung von | |
einem Ein-Euro-Jobber eines gemeinnützigen Trägers beim Einkauf begleitet | |
wurde. Der Mann meldete sich alsbald krank. „Wenn jemand einen Job partout | |
nicht will oder nicht kann, lässt er sich krankschreiben“, sagt der schon | |
oben zitierte Jobcenter-Mitarbeiter. | |
Die Grenze zwischen Nicht-Wollen und Nicht-Können ist ohnehin fließend. „Zu | |
bedenken ist, dass es einen nicht unerheblichen Teil von Menschen im | |
Transferleistungsbezug gibt, die aufgrund psychischer Dispositionen gehemmt | |
sind, sich in den Verpflichtungsrahmen des SGB II einzupassen“, schreiben | |
Greiser und Oberdieck. Immerhin steht im Arbeitsgruppenpapier bei den | |
Koalitionsverhandlungen, dass die „besondere Situation“ von „Menschen mit | |
psychischen Erkrankungen“ bei einer möglichen Sanktionierung berücksichtigt | |
werden soll. | |
In den Anfängen des Bürgergeldes im Jahre 2023 wurde vor allem auf die | |
Qualifikationsmöglichkeiten, auf Kooperation der Langzeitarbeitslosen mit | |
den Jobcenter-Mitarbeiter:innen Wert gelegt. Der Wind hat sich gedreht. | |
„Von der gerade stattfindenden politischen und trägerübergreifenden Debatte | |
wird es letztlich abhängen, was von der Startaufstellung des Bürgergeldes | |
übrig bleiben wird“, schreiben Greiser und Oberdieck. | |
28 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://datenbank.nwb.de/Dokument/234074/ | |
[2] https://www.arbeitsagentur.de/datei/weisung-202410008_ba050726.pdf | |
## AUTOREN | |
Barbara Dribbusch | |
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