# taz.de -- EU-Vorgaben: Wo Deutschland hinten liegt | |
> Ob Familienstartzeit, Energiewende oder Wohnungslosigkeit – die EU macht | |
> klare Vorgaben, doch Deutschland hinkt hinterher. | |
Bild: Zumindest zwei Wochen mit den Frischgeschlüpften müssten doch drin sein | |
Zeit für die Familie schaffen | |
Die Ampel wollte es, die SPD will es noch immer, und die Europäische Union | |
schreibt es sogar vor: [1][eine zweiwöchige bezahlte Freistellung für | |
Partner*innen nach der Geburt eines Kindes.] Allerdings konnte sich die | |
zuständige Arbeitsgruppe der werdenden Koalition nicht auf die sogenannte | |
Familienstartzeit einigen. „Ablehnung“, steht da schlicht bei der Union. | |
Das Projekt wanderte damit zu den SpitzenverhandlerInnen, der Ausgang ist | |
offen. | |
Interessant allerdings: Die Vereinbarkeitsrichtlinie der EU, die ebendiese | |
Familienstartzeit vorschreibt, hätte Deutschland bereits bis August 2022 | |
umsetzen müssen. Doch die FDP blockierte – und ein Vater reichte Klage vor | |
dem Berliner Landgericht ein. Die Begründung: Die Untätigkeit der | |
Bundesregierung verstoße gegen EU-Recht. | |
Diese Woche nun wurde die Klage abgewiesen, die bisherigen Gesetze seien | |
„ausreichend“, argumentiert das Gericht. Anwältin Sandra Runge erklärt, s… | |
habe bereits Berufung gegen das Urteil eingereicht. Runge ist derweil nicht | |
die Einzige, die sich mit dem schon längst vergangenen Stichtag für die | |
Umsetzung der Richtlinie beschäftigt. Auch die EU-Kommission selbst wacht | |
darüber, ob die Mitgliedstaaten ihre Vorgaben angemessen in nationales | |
Recht umsetzen – bislang ohne Ergebnis. | |
Ausbau der Erneuerbaren | |
Union und SPD bekennen sich zum weiteren Ausbau von Windkraft und | |
Solarenergie. Aber Worte reichen nicht. Die neue Bundesregierung muss die | |
Erneuerbare-Energien-Richtlinie (RED III) der Europäischen Union zügig in | |
nationales Recht umsetzen, sonst droht dem Ausbau bald eine heftige | |
Bremsung. | |
„Die rechtzeitige Umsetzung von RED III ist der erste Lackmustest für die | |
neue Bundesregierung“, sagt der Präsident des Bundesverbands der Energie- | |
und Wasserwirtschaft (BDEW) Stefan Dohler. [2][Mit der Richtlinie soll der | |
Bau von Windrädern und großen Solaranlagen einfacher werden], indem | |
Genehmigungsverfahren gestrafft und beschleunigt werden. Bis Juni 2025 muss | |
sie umgesetzt werden, sonst gelten kompliziertere Regeln für das | |
Antragsverfahren. Die Behörden werden aufgrund der Rückkehr der | |
artschutzrechtlichen Prüfung dann erheblich mehr zu tun haben. Ein | |
Genehmigungsstau und viel weniger neue Anlagen wären die Folge. | |
Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) hat es geschafft, die Wind- | |
und Solarkraft in nie gekanntem Maß auszubauen. Die Ziele für die | |
Solarenergie sind übererfüllt, bei der Windkraft wurden sie nicht erreicht. | |
Noch ist es nicht zu spät aufzuholen – aber nur, wenn es nicht zu größeren | |
Verzögerungen kommt. | |
Mindestlohn erhöhen | |
Die im Oktober 2022 verabschiedete „Richtlinie über angemessene | |
Mindestlöhne in der Europäischen Union“ gehört zu den wichtigsten arbeits- | |
und sozialpolitischen Maßnahmen, die auf europäischer Ebene beschlossen | |
wurden. Demnach sollen die EU-Mitgliedstaaten bei der Festsetzung | |
gesetzlicher Mindestlöhne vier Kriterien berücksichtigen: die Kaufkraft des | |
Mindestlohns unter Berücksichtigung der Lebenshaltungskosten, das | |
allgemeine Niveau der Löhne und ihre Verteilung, die Wachstumsrate der | |
Löhne sowie langfristige nationale Produktivitätsentwicklungen. | |
Nach den Berechnungen des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und | |
Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) [3][würde das schon für dieses | |
Jahr eine Erhöhung des Mindestlohns in Deutschland von derzeit 12,82 Euro | |
auf 15 Euro brutto pro Stunde bedeuten]. Union und SPD haben sich aber | |
bislang nur darauf verständigt, dass sich die unabhängige | |
Mindestlohnkommission bei ihrer für Ende Juni geplanten Empfehlung an den | |
Kriterien der EU-Mindestlohnrichtlinie orientieren soll. „Auf diesem Weg | |
ist ein Mindestlohn von 15 Euro im Jahr 2026 erreichbar“, schreiben sie. | |
Das heißt jedoch nicht, dass das auch tatsächlich erreicht wird. Denn | |
solange es keine Verpflichtung gibt, ist es unsicher, ob sich die | |
Arbeitgeber- und die Gewerkschaftsvertreter:innen in der Kommission | |
auch darauf verständigen werden. | |
Naturschutz voranbringen | |
Den Verlust der Biodiversität stoppen, die Klimakrise begrenzen und sich an | |
ihre Folgen anpassen – das sind Ziele internationaler Abkommen und | |
europäischer Regeln, an die sich Deutschland in den vergangenen Jahren | |
gebunden hat. Konkret handelt es sich etwa um das UN-Abkommen zum Schutz | |
der Biodiversität, des Klimas und der Hochsee sowie das EU-Gesetz zur | |
Wiederherstellung der Natur. | |
[4][Die To-do-Liste der nächsten Regierung zum Thema Umwelt ist | |
entsprechend lang.] Eine Aufgabe steht darauf ganz oben: das | |
Aktionsprogramm Natürlicher Klimaschutz in die nächste Legislaturperiode zu | |
retten. Denn das mit 3,5 Milliarden Euro unterlegte Programm der grünen | |
Umweltministerin Steffi Lemke hat, nach Jahren der Unterfinanzierung, | |
endlich Geld in den Naturschutz gebracht. Es ermöglicht, Moore und | |
Feuchtgebiete wieder zu vernässen und Städte zu begrünen. Es soll | |
Lebensräume für bedrohte Tiere und Pflanzen erhalten wie den Brachvogel, | |
der Feuchtwiesen und Moore liebt, oder die lila Wiesenküchenschelle, die | |
auf Magerwiesen blüht. Es ermöglicht Wäldern und Wiesen, CO2 und Wasser zu | |
speichern und die Landschaft zu kühlen. | |
Am Anfang holperte das Programm, inzwischen läuft es. Dass Schwarz-Rot eine | |
bessere Idee zum Schutz der Umwelt hat, deutet sich bis jetzt jedenfalls | |
nicht an. | |
Gegen Wohnungslosigkeit kämpfen | |
Bis 2030 soll kein Mensch innerhalb der EU mehr wohnungslos sein. Das hat | |
das EU-Parlament Ende 2020 beschlossen. Obdachlosigkeit werde „als eine der | |
schwersten Formen von Armut und Entbehrung eingestuft“, heißt es im | |
entsprechenden Beschluss. | |
Die Mitgliedstaaten sind seither aufgerufen, das Problem auf nationaler | |
Ebene anzugehen. Deutschland hat im April 2024 erstmals einen Aktionsplan | |
gegen Wohnungslosigkeit beschlossen, Union und SPD wollen das fortführen. | |
Es geht dabei nicht nur um Menschen auf der Straße, sondern auch um | |
Geflüchtete, die über Jahre in Massenunterbringung verharren müssen. | |
Ein großes Problem in der Praxis ist auch die Versorgung von obdachlosen | |
EU-Bürger*innen, die keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Sie alle | |
mit angemessenem Wohnraum zu versorgen, ist ein radikales Ziel – das | |
radikal soziale Maßnahmen erfordert. Beispiele: Menschen von der Straße | |
werden in Hotels und Ferienwohnungen untergebracht; niemand wird mehr | |
zwangsgeräumt; es werden wirklich bezahlbare Wohnungen gebaut. [5][Der | |
Aktionsplan ist aber nur eine Ansammlung von müden Absichtserklärungen.] | |
Niemand glaubt daran, dass das Ziel zu erreichen ist. Wie heißt noch mal | |
Artikel 1 des Grundgesetzes? | |
Den Verkehr retten | |
Will die kommende Bundesregierung ihre eigenen Klimaziele und die der EU | |
einhalten (und nicht weitersabotieren), kommt sie um eine deutliche | |
Reduktion des CO2-Ausstoßes im Verkehrssektor nicht herum. Die | |
europäische Klimaschutzverordnung sieht bis 2030 eine Verringerung von 50 | |
Prozent gegenüber dem Jahr 2005 vor. 2024 waren nicht einmal 7 Prozent | |
erreicht. | |
Die Koalitionäre müssen wirksame Maßnahmen ergreifen, um den Umstieg auf | |
E-Mobilität voranzubringen: Social Leasing, Kaufprämien, Ausbau der | |
Ladeinfrastruktur und ein vorgezogener Verkaufsstopp von Verbrennern. | |
Mittelfristig führt kein Weg an der Verlagerung des Verkehrs auf die | |
Schiene vorbei. Die bis 2030 vorgesehene Verdopplung der Fahrgastzahlen | |
lässt sich nur mit einer deutlichen Angebotsverbesserung erreichen. Ein | |
günstiges Deutschlandticket und Tempolimit auf Autobahnen sind zwei | |
effektive Sofortmaßnahmen. | |
Gleichzeitig steht auch die neue Bundesregierung vor der Herausforderung, | |
[6][die marode Infrastruktur vor dem endgültigen Verfall zu schützen.] | |
Hunderte Milliarden in Sondervermögen bereitstellen reicht da nicht. Es | |
müssen Planungsprozesse beschleunigt und der Bauwirtschaft muss eine | |
langfristige Finanzierung zugesagt werden, damit die Gelder effektiv | |
ankommen. | |
5 Apr 2025 | |
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