| # taz.de -- Mensch und Internet: Kapern, was uns längst verwandelt hat | |
| > Wir sind Angestellte der Vektorialistenklasse, die unsere Daten zu Geld | |
| > macht. Statt apokalyptischer Bros braucht es jetzt zarte Weichheit. | |
| Bild: Ist es Diebstahl, die eigenen Daten zu kapern? | |
| Wenn ich aus dem Fenster schaue, denke ich manchmal: Hach wie schön, die | |
| Stadt sieht aus wie ein Foto eines Gemäldes einer Stadt. Wie komme ich auf | |
| so einen Scheiß? Warum langweilen mich viele Romane mit ihren linearen | |
| Narrativen? Warum flashen mich kurze Gedichte oder witzige Reels mehr? | |
| Warum fühle ich mich einsam, wenn mich mal zwei Stunden kein Screen | |
| anstarrt? Warum habe ich [1][Angst vor Anrufen] und finde es voll okay, mit | |
| vier Leuten gleichzeitig zu chatten? Da ist irgendetwas in mir. | |
| Vielleicht bin ich im Begriff, etwas zu werden, das es noch nicht gibt. Ein | |
| Wesen, für das die Kategorien, in die ich hinein geboren wurde, nicht mehr | |
| existieren. Ich bin nicht, was meine Großeltern waren. Ich bestehe halb aus | |
| Fleisch und Knochen, halb aus Daten – und einem undefinierten Rest. | |
| Das ist nicht ungewöhnlich, der menschliche Körper ist seit jeher | |
| Zerteilungen und Neuverbindungen ausgesetzt. Statt der Hand, die pflügt, | |
| ist es heute der Zeigefinger, der wütet. Nur, dass er potenziell | |
| tatsächlich überall sein kann. | |
| Bei aller Liebe zum Digitalen kann das krass anstrengend sein. Der Markt | |
| ist überall. Er formt stets, wer ich, wo ich, wie ich, was ich bin. Ich | |
| arbeite am meisten, wenn ich nicht arbeite. | |
| Ich bin quasi angestellt bei der Vektorialistenklasse, den neuen | |
| Kapitalisten, die [2][Daten für Geld sammeln]. Die von all meinen Klicks | |
| des Tages profitieren – und von den Informationen, die zu den Klicks | |
| geführt haben und unendlich kombinierbar sind: Metadaten. Sie enthalten | |
| alles, was ich je gelesen, gekauft, bewertet oder verschwiegen habe. | |
| Die Wesen, die sie schaffen, sind halb persönlich, halb unpersönlich. | |
| Zusammengesetzt aus den Spuren, die ich hinterlasse und denen anderer, die | |
| ich absorbiere. Das Netz kennt mehr Leute, mit denen ich ein krudes | |
| Lieblingslied, ein Trauma oder einen Suchverlauf gemeinsam habe, als ich je | |
| im Leben berührt habe. | |
| ## Ort, an dem etwas Neues beginnt | |
| Ich könnte jetzt sagen: Schrecklich, ich will back to the roots. Ich will | |
| wieder mit meiner Oma spazieren, ohne ein Foto von den scheiß Veilchen am | |
| Wegesrand zu machen, um es mit einem Herzchen garniert hochzuladen. Oder | |
| Vögeln zuhören, ohne dass ich an Synthesizer denke. | |
| Doch diese Idylle gab es ja nie. Vielleicht ist der undefinierte Rest in | |
| mir der Ort, an dem etwas Neues beginnt. Vielleicht ist es das, was Amy | |
| Ireland und Maya B. Kronic mit ihrem queer-futuristischen Buch „Cute | |
| Accelerationism“ vorschlagen. Ihre spekulative Theorie ersetzt | |
| [3][apokalyptische Bro-Szenarien] durch eine Philosophie der Weichheit und | |
| zarten Störung. Die Herzchen in unseren Fotos haben uns alle längst in | |
| niedliche Objekte verwandelt. | |
| ## Sich hingeben, abgeben | |
| Vielleicht geht es nicht darum, die Entwicklung aufzuhalten, sondern sie | |
| sich anzueignen. Sich hingeben, Teile von sich abgeben, sie in Glitzer | |
| tauchen. | |
| Nicht aus Eskapismus, als subversive Praxis. Das Zarte ist nicht schwach, | |
| es feiert das Unreife, Queere. Es geht darum, zu kapern, was uns längst | |
| verwandelt – auch die neuen Wesen, die das System erzeugt und nicht | |
| einhegen kann. | |
| Rede ich mir das nur ein, um mich nicht so lost zu fühlen? Doch was muss | |
| ich fühlen, um zu denken, was ich ahne? Ich schaue aus dem Fenster. | |
| Es ist kalt. Ich strecke meine Arme aus, warte auf das sanfte Einprasseln | |
| der Metadaten. | |
| Es fühlt sich an wie lauer Wind auf einem Foto von einem Gemälde am Meer. | |
| 30 Mar 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Philipp Rhensius | |
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