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# taz.de -- Kunst und Wirklichkeit: Ästhetik ist kein Luxus
> Die chaotische Gleichzeitigkeit des Lebens lässt sich manchmal kaum
> ertragen. Ästhetische Dinge sind da ein Weg, das Unfassbare zu fassen.
Bild: Rohe Wirklichkeit: Kinder in Gaza-Stadt im Mai 2025
Ich sitze auf dem Boden einer Residency in der französischen Provinz. Um
mich herum 60 Menschen aus den Bereichen Musik, Literatur, Performance und
Theorie. Wir hören einer palästinensischen Künstlerin zu.
Letzte Woche seien die Nachbarn ihrer Eltern von Raketen der israelischen
Armee umgebracht worden. Die Eltern hätten es am Telefon nebenbei erwähnt.
Dann erzählt sie, warum sie in ihren Filmen oft den Tod verhandelt. Das
tote Lamm in einem ihrer Kurzfilme ermögliche es, den Tod anzufassen, ihn
zu verstehen, dem Summen der toten Seelen zuzuhören.
Gespenstische Stille im Raum. Ich schäme mich. Dass wir über ästhetische
statt „echte“ Dinge sprechen. Dann denke ich: Bullshit. Diese Scham kommt
aus meiner Kindheit, als mir ein kunstfernes Leistungsprinzip eingeprügelt
wurde. Beim Schreiben von Gedichten oder Musik muss ich immer wieder
erinnern: Ästhetik ist kein Luxus. Sie ist Widerstand, gibt Struktur,
formuliert Wünsche – jenseits von schlafen, essen, arbeiten. Manchmal ist
sie [1][die einzige Form, mit der sich das Unfassbare denken lässt].
Vielleicht ist das größte Unfassbare derzeit, dass alles gleichzeitig
passiert.
## Während ich schreibe
Während ich [2][das hier schreibe], verfehlen Raketen angeblich ihre Ziele
– und treffen Körper –, und in der Kommentarspalte wird gefragt, ob sie
wirklich unschuldig waren. Eine alte Volkspartei vergleicht Seenotrettung
mit Schlepperei.
96 Prozent der Kinder in Gaza glauben laut [3][einer Befragung des
Community Training Center and Crisis Management (CTCCM) in Gaza und der
Organisation War Child], dass sie bald sterben werden. Nach einer Studie
der University of New Mexico liegt der Mikroplastikanteil im Gehirn bei
3,4 Prozent. Anhand eigener Beobachtungen blockiert das Plastik das
Empathiezentrum um 97 Prozent – kleiner Scherz.
Während ich das hier schreibe, liegt mein Stiefvater im Krankenhaus und
kleckert Schokoeis auf das weiße Shirt, das ihm kurz zuvor gewechselt
wurde. Seine Zunge ist zu schwach, doch seine Arme auch. Der weiße
Plastiklöffel auf dem Nachttisch bleibt unberührt.
Während ich das hier schreibe, fordert eine trans Person auf der Residency:
Leute, benutzt bitte ständig die falschen Toiletten – allein werden wir
diesen Kampf nicht gewinnen. In einem hippen Café in Neukölln zieht ein
Mann seine APC-Sonnenbrille ab und sagt: „Früher war das hier echter.“
Sorglose tanzen auf einem Rave im Park und lassen ihren Müll später
liegen. Abends spiegelt sich der Mond im gebrochenen Glas.
## Was ist zu viel?
Während ich das hier schreibe, höre ich meinem inneren Feed zu. Ich höre
die peinliche Sehnsucht nach [4][Gerechtigkeit], das Scheitern am
westlichen Ordnungszwang, die unterdrückten Gefühle, die mich in Momenten
glücklichen Wahnsinns erschrecken. Der Kopf versucht zu sortieren, was der
Körper längst gespürt hat.
Wie viel Welt passt in einen einzigen Augenblick, ohne dass etwas zerreißt?
Oder ist die bessere Frage: Wer entscheidet, was zu viel ist – und für wen?
Wirklichkeit ist keine geordnete Abfolge. Sie ist roh, chaotisch. Sie lässt
sich nicht ordnen, nur aushalten. Vielleicht geht es nicht darum, alles zu
fühlen – aber auch nichts zu verdrängen. So ist der ungenutzte Löffel ein
ästhetisches Symbol für etwas, das sich der Sprache entzieht. Das
Ästhetische bewahrt, was das scheinbar Echte überrollt. Wie das tote Lamm
im Film: zu klein für Pathos, zu echt, um vergessen zu werden.
26 May 2025
## LINKS
[1] /Essay-ueber-Kunst-und-Krieg/!6070744
[2] /Debatte-ueber-HKW-Literaturpreis/!6008993
[3] https://www.warchild.org.uk/news/war-child-shares-first-study-psychological…
[4] /NSU-Dokumentationszentrum-in-Chemnitz-/!6090525
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Kolumne Was macht mich?
Ästhetik
Gewalt
Trauer
Tod
Gaza-Krieg
Seenotrettung
Mikroplastik
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