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# taz.de -- Fake ist das neue Echt: Warum wir ohne Lüge nicht leben können
> Das Echte ist derzeit wieder beliebt. Echtes Bargeld, echte Männer, echte
> Grenzen. Dabei halten nur Lüge die Welt wirklich zusammen.
Bild: Wie authentisch ist das denn: „Wir nehmen nur Bargeld“. Aber Bargeld …
Klassiker: Ich warte im Restaurant auf die Rechnung. Die Bedienung kommt,
ich zücke meine Karte und höre nur: „Wir nehmen nur Bargeld.“ Dann grinse
ich schief wie der Mann im [1][„Hide the Pain“-Meme] und gestehe, dass ich
keins dabei habe.
Ich suche den nächsten Geldautomaten, an dem das Abheben 5 Euro kostet. Da
meine Bank kaum Filialen betreibt, habe ich selten Bares.
Alles nicht schlimm. Es triggert mich aus anderen Gründen. Ich glaube,
hinter der Obsession des Barzahlens verbirgt sich eine Ideologie:
[2][Bargeld] steht für etwas, das angeblich verloren geht: das Echte. Lol.
Billige Kupfermünzen. Dreckiges Papier. Das soll echt sein? Der Wert des
50-Euro-Scheins liegt nicht im Papier, sondern im Wert, der ihm
zugeschrieben wird.
[3][Geld ist eine Lüge], auf die sich mal geeinigt wurde. Um Menschen dafür
zu belohnen, Dinge herzustellen, die niemand braucht, aber alle wollen.
Davon kaufen sie Brot, das 20-mal mehr kostet als der Weizen darin. Brot,
um am nächsten Tag wieder Dinge zu produzieren, die anderen das Gefühl
geben, etwas wert zu sein. Wenn sie zahlen können.
Geld ist eine Illusion, ob in Form von Papier oder Plastik. Aber Geld ist
nur der Anfang. Lügen durchziehen das ganze Leben.
Willst du wirklich wissen, wo der stinkende Biomüll landet, nachdem du ihn
entsorgt hast?
Willst du den Kaffee anbauen, pflücken, schälen, rösten und mahlen – bevor
du ihn in Cafés trinkst, in denen kenianische Kaffeebauern von den Wänden
grinsen, um Echtheit zu simulieren?
Soll Sex immer nach Schweiß riechen – oder reicht auch ein Porno? Bist du
wirklich so krass lässig wie auf Instagram?
Und, Onkel Jürgen, nicht nur die Auto-Tune-Stimme von [4][Taylor Swift] ist
Fake – auch die Gitarren der Beatles wurden schon durch tausend Effekte
geschleift, um „echt“ zu klingen.
## Das Unpersönliche bohrt sich in meine Haut
Die Sehnsucht nach dem Echten ist auch politisch aufgeladen. Besonders laut
fordern es jene, die sich echte Grenzen, echte Männer und echte Nationen
zurückwünschen. Manche Lügen sind gefährlich. Andere nötig. Ich kann ohne
sie nicht leben.
Die Wirklichkeit prasselt stetig auf mich ein. Sie ist hässlich, ungerecht,
brutal, will mich für dumm verkaufen. Lügen sind eine Art Filter.
Funktioniert nicht jede Gesellschaft nur, wenn sie ihre Lügen glaubt?
Die Lügen gehören niemandem. Sie denken in mir, bevor ich denke, sind
unpersönlich. Sie sind ständig auf der Lauer, creepen durch meine Geräte,
warten, bis ich in der Nähe bin, bohren sich in meine Haut und meinen Kopf,
bis ich allgemeine Ideen mit den eigenen verwechsle. Und Sachen sage, die
alle sagen. Manchmal kommen mir alle Gespräche vor wie Playback, nur die
Münder bewegen sich noch.
Manchmal verkleiden sich Lügen als „Großer Anderer“. Ein unsichtbares
Wesen, auf das Beamt*innen verweisen, wenn sie – aus Bosheit oder Angst
– einen Antrag nicht bewilligen.
Der Große Andere sitzt in Formularen, FAQs und Floskeln wie „Ist nun mal
so“. Niemand hat den Typ je getroffen – aber ohne seine fiktive Anwesenheit
würde das Gebäude namens Gesellschaft einstürzen.
Das echte Leben findet nicht da statt, wo wir essen, trinken, lieben,
arbeiten, denken, schlafen, tanzen. Das echte Leben ist unsichtbar, es
steckt in den Glasfaserkabeln und Bildschirmen. Die Welt funktioniert nicht
trotz Lügen, sondern ihretwegen.
Also, her mit dem Kartenlesegerät.
27 Apr 2025
## LINKS
[1] https://www.heise.de/en/news/Frustration-at-work-over-eight-hours-a-week-of…
[2] /Cash-oder-Karte/!5995953
[3] /Cash-oder-Karte/!5995953
[4] /Taylor-Swift-in-Argentinien/!5969351
## AUTOREN
Philipp Rhensius
## TAGS
Kolumne Was macht mich?
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