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# taz.de -- Streit ums Kirchenasyl: Ein Pastor zwischen allen Stühlen
> An Thomas Lieberum zerren sowohl Bremens Innensenator als auch
> Aktivist:innen, die mit dem Kirchenasyl Politik machen wollen.
Bild: Kämpft um das Kirchenasyl: Pastor Thomas Lieberum
Bremen taz | Nach einer Stunde versucht Thomas Lieberum es noch einmal. Er
hatte extra wie eine Predigt begonnen, mit Markus 7, Vers 24 bis 30, in dem
Jesus erkennen soll, dass Nächstenliebe auch für Fremde gilt. „Damit ihr
merkt, dass ich Pastor bin“, sagt er, und er aus Kirchenperspektive
spreche. Aber er habe den Eindruck, dass seine Botschaft nicht angekommen
ist. Also sagt er: „Wir sind kein Wir.“ Und blickt in ratlose Gesichter.
Es müssen um die 150 Personen sein, die sich an diesem Montagabend im Saal
des Gemeindezentrums Zion versammelt haben und ihm zuhören. Es soll um die
[1][Zukunft des Kirchenasyls] in der Vereinigten Evangelischen Gemeinde
Bremen-Neustadt gehen.
In zwei Stuhlkreisen sitzen sie, einem äußeren und einem inneren. Weitere
hocken auf der Bühne, auf der die Kulisse des aktuellen Stücks des
Zion-Theaters aufgebaut ist: ein Zimmer mit sehr vielen Bücherregalen. Zion
ist eine [2][Begegnungsstätte im Stadtteil]. Hier treffen sich die Omas
gegen Rechts, finden Kleidertausch-Partys statt und im Windfang stehen zwei
Kühlschränke, in denen Lebensmittel geteilt werden können.
Drei Mal die Woche hat auch das Café Zion geöffnet. Es ist oft gut besucht,
vor allem von Älteren und Müttern mit kleinen Kindern. Heute Abend sind
überwiegend Jüngere gekommen, die sich dem Äußeren nach einer linken Szene
zuordnen lassen.
## Gescheiterte Abschiebung im Dezember
Zur Vereinigten Evangelischen Gemeinde Bremen-Neustadt gehören neben dem
Gemeindezentrum Zion, in dem Lieberum arbeitet, zwei weitere Zentren in der
Neustadt. Die Gemeinde ist eine von sehr wenigen in Deutschland, die
Geflüchtete in Obhut nimmt, um sie vor Abschiebung zu schützen. Sieben
waren es vergangene Woche. Ein paar der Männer, die derzeit in einer
Wohnung in Zions denkmalgeschütztem Bau aus den 50er Jahren leben, warten
an diesem Abend im Flur vor dem Gemeindesaal.
Bundesweit bekannt wurde Thomas Lieberum, [3][als er sich Anfang Dezember
Polizist:innen in den Weg stellte]. Sie wollten einen jungen Somalier
mitnehmen, um ihn in Hamburg in ein Flugzeug Richtung Finnland zu setzen.
Alleine hätte Thomas Lieberum, ein schmaler Mann, der viel lacht und
Gesprächspartner:innen gerne duzt und berührt, das nicht geschafft.
Das sagt er am Montagabend immer wieder.
Viele seiner Zuhörer:innen waren in der Nacht auf den 3. Dezember
dabei. „Wenn so etwas wieder passiert, kommt bitte wieder, dann brauchen
wir eure Hilfe.“ Aber im Übrigen sollten sie der Gemeinde vertrauen.
Ähnlich vage hatte er es eine Woche zuvor im Gespräch mit der taz
ausgedrückt, unter der Magnolie im Garten des Gemeindezentrums, gelegen an
einer größeren Straße in einem von schmucklosen Altbauten dominierten
Stadtteil.
„Das Kirchenasyl soll bei uns bleiben“, hatte er gesagt. Das lässt sich so
übersetzen: Die Gemeinde entscheidet alleine darüber, wen sie aufnimmt. Und
das, ohne dass dies an die große Glocke gehängt wird. So wie die letzten 20
Jahre, als die Gemeinde einfach Kirchenasyl gemacht hat, nicht heimlich,
aber ohne dass darüber in der Öffentlichkeit geredet wurde, schon bevor
Thomas Lieberum 2010 hier seinen Dienst angetreten hat.
Er hatte im Gespräch mit der taz angekündigt, dass es hoch her gehen würde
an diesem Abend zum Kirchenasyl. Aber zum einen ist er wohl einfach zu
freundlich, als dass sich ein echter Dissens einstellen würde, und zum
anderen holt er das Kirchenasyl nur halb in seine Gemeinde zurück. Denn er
möchte ja nach wie vor auf die Unterstützung der Anwesenden zählen können,
die sich hier seit Dezember jeden Monat einmal getroffen haben.
## Identitätsstiftender Aktionismus
Und dabei haben viele wohl eine Art Heimat gefunden. „Ich bin besorgt“,
sagt eine ältere Frau, „ich habe mich wohl in der Gemeinschaft gefühlt, ich
konnte hier etwas bewegen.“ So ähnlich formulieren es fast alle, die nach
ihr sprechen.
Identitätsstiftend waren die Ereignisse in der Dezembernacht und danach,
als Thomas Lieberum und seine Gemeinde für ihre Haltung zum Kirchenasyl
angegriffen wurden, allen voran von Bremens Innensenator Ulrich Mäurer
(SPD), der sich in Interviews über die im Bundesvergleich hohe Anzahl von
Kirchenasylfällen in Bremen beschwerte [4][und der Zionsgemeinde vorwarf,
sich „über Recht und Gesetz hinwegzusetzen“].
[5][Dass es gar kein Recht und Gesetz gibt], über das man sich beim
Kirchenasyl hinwegsetzen kann, weil es an sich illegal ist und vom Staat
aus Respekt vor der Religionsfreiheit geduldet wird, ging in der
aufgeregten Debatte unter.
Ebenso wie die Tatsache, dass Bremer Kirchengemeinden schon seit langem
überdurchschnittlich viele Geflüchtete aufnehmen und der Anstieg im Jahr
2024 darauf zurück zuführen ist, dass es [6][in Bremerhavener Gemeinden]
nicht mehr nur eine Handvoll Kirchenasylfälle gab, sondern über 100.
Zudem waren Kirchenasyl-Fälle vom zuständigen Bundesamt für Migration in
den Vorjahren selten bearbeitet worden und mit den verstärkten
Abschiebe-Bemühungen Deutschlands stieg bundesweit die Zahl der Menschen,
die um Kirchenasyl baten.
## „Die Medien“ sind schuld
Doch solche Feinheiten interessierten weder den Bremer Innensenator noch
die Mehrzahl der über das Kirchenasyl berichtenden Journalist:innen, so
dass viele Redner:innen in Zions Gemeindesaal neben Ulrich Mäurer „die
Medien“ verantwortlich dafür machen, dass Thomas Lieberum nicht als Held
dasteht, sondern als der Pastor, der es mit der Nächstenliebe übertrieben
hat.
Denn das Kirchenasyl an sich stellen nur wenige in Frage, auch der Bremer
Innensenator nicht. „Wir stehen zum Kirchenasyl“, lautet die Formel, auf
die sich fast alle einigen können. So begann der CDU-Fraktionsvorsitzende
[7][in der Bremischen Bürgerschaft am Donnerstag seine Rede]. Und dann
folgte der zweite Teil der Formel: „Aber es soll die Ausnahme bleiben.“
Nach der Vorstellung des Bremer Innensenators sollen die Gemeinden
zurückkehren zu einer „überschaubaren Zahl von Einzelfällen“, wie sein
Sprecher der taz schreibt. Und auch Thomas Lieberums Dienstherr, die
Leitung der Bremischen Evangelischen Kirche, [8][hat schon im Dezember dem
Innensenator versprochen], mit dem Kirchenasyl in Zukunft „besonders
achtsam“ umzugehen, wie es in einer Pressemitteilung hieß.
An dieser Stelle wird es hakelig, denn zum einen hat keine evangelische
Landeskirche in Deutschland [9][formal so wenig Macht wie die in Bremen].
Sie darf ihren Gemeinden weder theologisch reinreden noch vorschreiben, wen
sie in ihren Räumen übernachten lassen.
## Was ist ein „achtsamer Umgang“?
Zum anderen gibt es keinerlei Kriterien, anhand derer sich der „achtsame
Umgang“ beurteilen ließe. Und wie viele Fälle sind „Einzelfälle“? Fün…
50 im Jahr? Neun von zehn Menschen, die bei Zion um Aufnahme bitten,
müssten sie wegschicken, sagt Thomas Lieberum. „Das ist bitter.“
Für den Bremer Innensenator ist ein hartes Kriterium das Land, in das
jemand abgeschoben werden soll, das hat er mehrfach gesagt. Dazu muss man
wissen: Fast immer handelt es sich beim Kirchenasyl um sogenannte
„Dublin-Fälle“, also um Menschen, die nach der europäischen
Dublin-Verordnung in das europäische Land zurück gehen und dort Asyl
beantragen müssen, in dem sie erstmals registriert wurden.
Nach sechs Monaten in Deutschland können sie hierzulande Asyl beantragen.
Deshalb nehmen Kirchengemeinden sie Tage oder Wochen vor Fristablauf auf,
um sie in letzter Minute vor der „Überstellung“, wie es im
Verwaltungsdeutsch heißt, zu bewahren. Im Jahr 2024 wurden 74.583
Überstellungen in andere EU-Staaten versucht, [10][von denen laut
Bundesregierung 5.827 vollzogen wurden]. Kirchenasylfälle gab es im
gleichen Zeitraum 2.386, überwiegend Einzelpersonen, aber auch Familien.
Manche Gemeinden in Deutschland gewähren nur Kirchenasyl, wenn jemand in
ein Land wie Bulgarien oder Rumänien überstellt werden soll, wo ihm oder
ihr körperliche Gewalt droht. Andere, wie die Vereinigte Neustadt Gemeinde,
orientieren sich am individuellen Schicksal. Vor wenigen Tagen etwa hat ein
junger Somalier das Kirchenasyl verlassen, der nach Schweden abgeschoben
werde sollte.
## SPD: „Systematischer Missbrauch“
Thomas Lieberum hat dort studiert, „ein tolles Land“, erzählt er bei dem
Gespräch im Garten vor einer Woche, aber mit einer sehr viel restriktiveren
Migrationspolitik als Deutschland. Der Somalier sei Vater von drei kleinen
Kindern. Die schwedischen Behörden hätten seine Vaterschaft anerkannt,
wollten ihn aber trotzdem ins Heimatland abschieben, weil er nicht mit der
Mutter verheiratet war. Dafür hätte er Papiere aus Somalia gebraucht, die
er nicht bekam.
Ist das der „systematische Missbrauch“ des Kirchenasyls, den „eine Gemein…
in der Neustadt“ betrieben hat, wie es in der Bürgerschaftssitzung am
Donnerstag der innenpolitische Sprecher der Bremer SPD-Fraktion sagte? Der
Anlass für die Parlamentsdebatte war derselbe wie der für die
Diskussionsrunde am Montagabend in Zions Gemeindesaal:
Vor zwei Wochen in der Nacht vom Sonntag auf den Montag hatten auf Anregung
des Bremer Flüchtlingsrats, einem Verein, der sich für Migrant:innen
einsetzt, mehrere Geflüchtete in Zions Gemeindezentrum übernachtet. Ihnen
drohte eine Abschiebung nach Kroatien.
Ins Kirchenasyl aufgenommen waren sie nicht, aber in einem Fall wurde so
offenbar eine geplante Abschiebung verhindert, wie ein junger Mann, der im
Stuhlkreis neben dem Pastor sitzt, stolz berichtet. „Die Cops sind vor dem
Haus hin und her gefahren und haben sich nicht hinein getraut, das ist
saugeil“, ruft er und bittet um Applaus, den er bekommt.
Es sind genau solche Sätze, wegen derer Thomas Lieberum eine Grenze zieht
zwischen seiner Gemeinde und denen, die nicht dazu gehören und mit Aktionen
wie der Übernachtung jetzt sowie dem Einsatz im Dezember ein Bewusstsein
für eine ungerechte Migrationspolitik schaffen wollen. Er teile ihre
politische Haltung, sagt er, und fordert sie auf weiterzumachen, gerne auch
in Zions Räumen, aber er wolle das vom Kirchenasyl „trennen“.
## Tropfen auf den heißen Stein
Denn sonst verschwimme, dass das kein Instrument ist, um die deutsche und
europäische Asylpolitik zu kritisieren, wie es oft behauptet wird – sondern
ein Akt der Nächstenliebe, theologisch und nicht politisch begründet. Und
dabei „total ungerecht“, „ein Tropfen auf den heißen Stein“.
Nur wenn der Unterschied deutlich bleibt, können Gemeinden den Rückhalt
ihrer Landeskirchen und der Evangelischen Kirche in Deutschland behalten.
Denn diese sorgen sich, dass die Akzeptanz für das Kirchenasyl gänzlich
verschwinden könnte und damit eine Möglichkeit, in Härtefällen zu
intervenieren.
Die jüngste Übernachtungsaktion des Flüchtlingsrats in Zions
Gemeindezentrum jedenfalls stieß dem Innensenator so übel auf, dass er sich
bei der Kirchenleitung beschwerte, die wiederum Thomas Lieberum zum
Dienstgespräch einbestellte.
Der fasst knapp zwei Wochen später im Gemeindesaal zusammen, was danach
geschah. Die Kirche verschickte eine Pressemitteilung, in der sie
behauptete, [11][mit Thomas Lieberum ein „Moratorium“ vereinbart zu haben].
In dessen Gemeindezentrum würden „bis auf Weiteres keine Menschen mehr ins
Kirchenasyl aufgenommen“, der Flüchtlingsrat dürfe dort nichts mehr zum
Thema Kirchenasyl veranstalten.
Thomas Lieberum fällt aus allen Wolken, als er das liest. Richtig daran ist
nur, dass das Gemeindezentrum ab Juni umgebaut wird und damit
Übernachtungsplätze wegfallen. Daraufhin kritisieren erst Bremer
Wissenschaftler:innen, darunter der renommierte Jurist und
Verfassungsrichter Andreas Fischer-Lescano, das Verhalten der
Kirchenleitung in einem offenen Brief. Am Montag [12][legen 32 Bremer
Jurist:innen nach], viele von ihnen vertreten Geflüchtete in
Asylrechtsverfahren.
Die Bremische Evangelische Kirche hat darauf bis heute nicht reagiert, auch
nicht auf Nachfrage der taz, wie sie denn auf das Moratorium komme. „Das
war ungeschickt und kein böser Wille“, erklärt Thomas Lieberum am
Montagabend. Es habe ein weiteres, gutes Gespräch gegeben. Für ein „Wir
gegen die“ sei er nicht zu haben. „Manche von euch haben so Ideen, dass wir
hier ein gallisches Dorf eröffnen, aber Kirche ist immer mehr als eine
Gemeinde.“
So bleibt am Ende das Bild zurück von einem, der zwischen allen Stühlen
sitzt. Die Bremische Evangelische Kirche auf der einen Seite, die
Aktivist:innen auf der anderen. Um das Kirchenasyl, so wie es bisher
praktiziert wird, zu retten, muss er von beiden abrücken. „Vielleicht“,
sagt eine junge Frau am Montagabend, „muss sich in diesen Zeiten das
Kirchenasyl ändern“.
5 Apr 2025
## LINKS
[1] /Kirchenasyl-in-Bremen/!6063964
[2] https://gemeinde-neustadt.de/zion/
[3] /Bremens-Innensenator-bricht-Kirchenasyl/!6050013
[4] https://www.weser-kurier.de/bremen/politik/bremer-innensenator-maeurer-krit…
[5] /Rekordhoch-beim-Kirchenasyl--ein-FAQ/!6058055
[6] /Rekordhoch-beim-Kirchenasyl/!5989857
[7] https://vimeo.com/1070025357
[8] https://www.kirche-bremen.de/aktuelles/presse-service/nachrichten-details/k…
[9] /Queerfeindlicher-Pastor-in-Bremen/!6033062
[10] https://dserver.bundestag.de/btd/20/151/2015133.pdf
[11] https://www.evangelisch.de/inhalte/240948/19-03-2025/bremische-kirche-und-…
[12] https://www.fluechtlingsrat-bremen.de/offener-brief-von-juristinnen-aus-br…
## AUTOREN
Eiken Bruhn
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