Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Kirchenasyl unter Druck: Hier ist es nicht sicher
> Lange konnten Geflüchtete sich im Kirchenasyl vor Abschiebungen retten.
> Doch zuletzt drangen Polizist*innen immer wieder in Schutzräume der
> Kirchen ein.
Bild: Setzt das Kirchenasyl in Jena um: Gemeindekirchenrat Georg Elsner
Jena taz | Dass die Kirche dabei helfen würde, ihr Leben zu retten, hätte
Sasu vor ein paar Jahren nicht geglaubt. Es ist ein verregneter Tag im Mai,
die 24-jährige Marokkanerin sitzt in einem Büroraum der evangelischen
Gemeinde in Jena. Ihr dunkles Haar trägt die Asylsuchende kurz, dazu eine
bunte Perlenkette und einen pinken Cardigan. Ihre Stimme ist leise, die
dunklen Augenringe schimmern durch ihr Make-up. „Die letzten Monate stand
ich nachts am Fenster, um fliehen zu können, falls ein Streifenwagen
kommt“, erzählt sie. Sie spricht englisch, ab und zu benutzt sie ein
deutsches Wort. „Abschieben“ oder „Polizei“ sagt sie dann.
Sasu ist der Name, den sich die junge trans Frau so schnell wie möglich in
ihre offiziellen Dokumente eintragen lassen möchte. Ihr Nachname soll aus
Sicherheitsgründen nicht in diesem Text vorkommen. Die vergangenen drei
Monate hat Sasu im Kirchenasyl verbracht. Die Jenaer Gemeinde hat ihr ein
Zimmer bereitgestellt, um sie vor der Abschiebung nach Rumänien zu
schützen, die die Ausländerbehörde sechs Monate zuvor ankündigte. Denn als
trans Frau droht Sasu dort Gewalt.
„Ich habe gesehen, wie queere Menschen auf der Straße zusammengeprügelt
werden und mich fünf Monaten lang versteckt“, erzählt sie. Aus Angst vor
Angriffen habe sie Männerkleidung angezogen und kein Make-up getragen. Eine
Anpassung des Geschlechtseintrags ist in Rumänien nur unter strengen
Voraussetzungen möglich, [1][medizinische Versorgung für trans Personen
eingeschränkt]. Zurück nach Rumänien? „Das würde ich nicht überleben“,…
Sasu.
Ginge es nach dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), müsste
sie das aber. Laut Dublin-Verordnung ist das Land in der EU, in das
Asylsuchende zuerst einreisen, für die Bearbeitung ihres Antrags zuständig.
Theoretisch kann das BAMF entscheiden, aus humanitären Gründen in das
Asylverfahren einzutreten, also mögliche Fluchtgründe selbst zu prüfen und
dies nicht dem Staat der ersten Einreise zu überlassen. Für die Zeit des
Verfahrens könnte die betroffene Person dann in Deutschland bleiben, im
Fall einer positiven Entscheidung über den Asylantrag auch langfristig.
## Pushbacks und unwürdige Bedingungen sind dokumentiert
2024 machte die Behörde in gerade einmal [2][zwei Prozent der Dublin-Fälle
von diesem Recht Gebrauch]. Man gehe davon aus, dass Dublin-Rückkehrende
gemäß europarechtlicher Standards untergebracht und versorgt würden, heißt
es von einer BAMF-Sprecherin auf taz-Anfrage.
Seit Jahren dokumentieren NGOs und Gerichte hingegen Pushbacks und
menschenrechtswidrige Bedingungen bei der Unterbringung und Versorgung
Asylsuchender in zahlreichen EU-Mitgliedsstaaten wie Bulgarien, Polen,
Kroatien und Rumänien. Trotzdem hat Deutschland im vergangenen Jahr in
25.306 Fällen versucht, Menschen in diese Länder abzuschieben.
Um in besonders dramatischen Fällen zu helfen, gewähren evangelische und
katholische Gemeinden Kirchenasyl. Dafür werden Asylsuchende in
leerstehenden Pfarrwohnungen oder Gemeindehäusern untergebracht. Gerade in
Dublin-Fällen ist das wirksam. Ausländerbehörden haben hier in der Regel
sechs Monate Zeit, eine Abschiebung zu vollziehen. Gelingt das nicht, wird
das Asylverfahren in Deutschland durchgeführt. Das Kirchenasyl hilft, die
Zeit zu überbrücken.
Seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts aus dem Jahr 2021 darf das
BAMF die Dublin-Frist von Menschen, die im Kirchenasyl untergebracht sind,
nicht mehr verlängern. Vorher hatte die Behörde immer wieder argumentiert,
dass eine Unterbringung in Kirchenräume einem Untertauchen gleichkäme und
so eine Verlängerung der Frist auf 18 Monate begründet.
Im vergangenen Jahr wurden knapp 3.000 Menschen durch Kirchenasyl laut BAMF
vor einer Abschiebung geschützt. Das sind doppelt so viele wie 2017. Manche
sagen, das sei Folge einer härteren Abschiebepraxis. Andere meinen, die
Kirchen würden es übertreiben.
Auf taz-Anfrage äußern sich die Innenministerien mehrerer Bundesländer
angesichts der steigenden Zahlen kritisch. Aus Hessen heißt es etwa, die
Kirchen würden nicht nur Personen in Notlagen helfen, sondern auch
„politische Akzente“ setzen. Auch die CDU geht auf Angriff. Mehrmals
ermahnte die christlich demokratische Partei die Kirchen in den letzten
Monaten zu politischer Neutralität, nachdem diese den Migrationskurs der
Union kritisierte.
Bundestagspräsidentin Julia Klöckner (CDU) forderte Ende April im Interview
mit der Bild am Sonntag, dass sich die Kirche weniger zu tagespolitischen
Themen äußern solle, sonst drohe sie zur austauschbaren NGO zu werden. Der
Berliner CDU-Politiker Kurt Wansner bezeichnete die evangelische Kirche
kürzlich gar als „linksgrüne Schlepperbande“.
## Keine rechtliche Grundlage für Kirchenasyl
Eine rechtliche Grundlage für das Kirchenasyl gibt es nicht, die Praxis
wird von den Behörden aus Respekt vor ihrer langen Tradition toleriert. In
Deutschland gewähren Gemeinden Asylsuchenden seit den 1980er Jahren Schutz.
2015 vereinbarten Kirchen und BAMF nach zunehmenden Konflikten ein
Verfahren. Die Kirchen müssen seitdem jeden Fall melden und in einem
Härtefalldossier begründen, warum eine Abschiebung unzumutbar wäre. Dabei
geht es fast ausschließlich um sogenannte Dublin-Fälle.
Auf grundlegende Kritik am Dublin-System müssen die Kirchen im Dossier
verzichten, sich auf den konkreten Fall beziehen. Im Gegenzug versprach das
BAMF, die Argumente der Kirche zu prüfen, gegebenenfalls in das
Asylverfahren einzutreten und das Kirchenasyl im Sinne seiner
christlich-humanitären Tradition zu respektieren. Die Kirche ließ sich auf
den Kompromiss ein und tauschte Systemkritik gegen die Hoffnung auf
staatliche Anerkennung.
## Die Polizei kommt meistens nachts
Zehn Jahre später ist vom gemeinsamen Verständnis nicht mehr viel übrig.
Mindestens sieben Mal drangen Polizei oder Ausländerbehörden in den
vergangenen anderthalb Jahren in die Schutzräume von Gemeinden ein, um
Menschen gewaltsam aus dem Kirchenasyl zu holen. Meist umstellten die
Beamten dabei nachts die Kirchenräume, in einem Fall wurde gar ein
[3][Spezialeinsatzkommando hinzugezogen].
Eine afghanische Frauenrechtlerin und ihre Kinder, Vater und Sohn aus
Russland, die den Kriegsdienst verweigerten, und ein kurdisches Ehepaar
waren davon betroffen. Unter anderem in Nordrhein-Westfalen,
Rheinland-Pfalz und Hamburg kam es zu Räumungen und Abschiebungen. Aus den
zuständigen Innenministerien der Länder heißt es, man habe lediglich
geltendes Recht umgesetzt. Kirchenvertreter:innen sprechen von einem
Tabubruch.
Dazu kommt, dass das BAMF die Härtefalldossiers der Kirchen immer häufiger
ablehnt. In nur 0,1 Prozent der Kirchenasylfälle erkannte die Behörde 2024
eine besondere Härte an und trat ins Asylverfahren ein – insgesamt zwei
Mal, wie eine taz-Anfrage an das BAMF ergab.
Die Behörde argumentiert, man würde die meisten Härtefälle schon im
regulären Dublin-Verfahren als solche erkennen. Außerdem würden Kirchen die
Dossiers häufig zu spät oder gar nicht einreichen und darin einen
„emotional-seelsorgerischen“ Maßstab anlegen. Die Kirchen halten dagegen.
Das BAMF nutze vorgefertigte Textbausteine und prüfe die Fakten nicht. Die
Behörde fordert, dass Gemeinden ein Kirchenasyl innerhalb von drei Tagen
auflösen, sobald das Härtefalldossier abgelehnt ist. Tun sie das nicht, sei
eine Abschiebung aus kirchlichen Räumlichkeiten Entscheidung der
zuständigen Ausländerbehörde, schreibt eine BAMF-Sprecherin auf
taz-Anfrage.
Bis vor Kurzem schreckten die Behörden davor noch zurück. Inzwischen
scheint es, als fühlten sich Ausländerbehörden zum Teil ermutigt, eine
Abschiebung aus dem Kirchenasyl durchzusetzen, sobald das BAMF ein
Härtefalldossier der Kirchen abgelehnt hat. Eine Sprecherin der Hamburger
Innenbehörde schreibt auf taz-Anfrage etwa: Die Abschiebung eines
afghanischen Asylbewerbers aus dem Kirchenasyl [4][im vergangenen
September] sei erfolgt, weil das BAMF nach Prüfung des Dossiers keinen
individuellen Härtefall erkannt hatte.
Sasus Knie schmerzen. Das kleine Zimmer, in dem sie die Kirche
untergebracht hat, hat sie seit Wochen kaum verlassen. Einkäufe haben
Freiwillige für sie erledigt, zur Ärztin konnte Sasu nur im Notfall. „Ich
hätte eigentlich eine Therapie gebraucht, aber das ging nicht“, erzählt
sie. Sie würde gerne eine Ausbildung als Krankenpflegerin machen oder
Informatik studieren, sie will tanzen gehen und die Stadt erkunden, in der
es von Studierenden wimmelt. Stattdessen waren die vergangenen Monate von
ständiger Angst geprägt. „Sobald Blaulicht an meinem Fenster vorbeizieht,
beginne ich am ganzen Körper zu zittern.“
## In Rumänien hat sie kaum eine Chance
Eine Chance auf Asyl in Rumänien hätte Sasu kaum, ein Großteil der
Asylanträge von Marokkaner:innen wird dort abgelehnt. Obwohl queere
Menschen in Marokko Hasskriminalität ausgesetzt sind und [5][ihnen zudem
Gefängnisstrafen drohen]. Sasu erzählt von einem Angriff, den sie in ihrer
Heimatstadt Kenitra erlebte. „Ich war mit meinem Freund in der Stadt. Es
war dunkel, wir haben uns zu sicher gefühlt und uns auf offener Straße
geküsst.“ Plötzlich seien mehrere Männer auf sie zugerannt und hätten
begonnen, sie mit Steinen zu bewerfen.
Sasu hatte Glück und kam mit leichten Verletzungen davon. Weder der
marokkanischen Polizei noch ihrer Familie konnte sie von dem Vorfall
berichten. „Trans zu sein ist in Marokko eine Sünde. Nach dem Angriff
wusste ich: Ich muss hier weg.“ Auch nach der Ankunft in Thüringen erlebte
sie transfeindliche Übergriffe: im Bus, auf der Polizeistation, in der
Erstaufnahmeeinrichtung. Nachdem die Ausländerbehörde ihre Abschiebung
angekündigt hatte, wandte sie sich schließlich aus Verzweiflung an die
Kirche.
Der Turm der Jenaer Stadtkirche ragt in den grauen Maihimmel. Oben haben
zwei junge Wanderfalken Unterschlupf gefunden. „Dort sind sie vor anderen
Raubvögeln geschützt und können fliegen lernen“, erzählt Georg Elsner, der
als Vorsitzender des Gemeindekirchenrats seit elf Jahren für die Arbeit
rund ums Kirchenasyl zuständig ist. „Die Zeiten haben sich geändert“, sagt
er. „Niemand kann mehr garantieren, dass nicht eines Nachts doch die
Polizei vor der Tür steht, um die Menschen abzuschieben.“
Fast jeden Tag erreichen den 70-Jährigen Mails und Anrufe von Menschen, die
sich verzweifelt an die Kirche wenden. „Wir können nicht jedem helfen.“
Zwölf Kirchenimmobilien stehen in Jena zur Verfügung, um Menschen
unterzubringen – alle Plätze sind belegt. Zudem fehlt Geld. Den
Asylsuchenden im Kirchenasyl werden meist die Leistungen gestrichen. Im
Haushalt der Kirchengemeinde ist ein Budget für die Versorgung vorgesehen,
ergänzt durch Spenden. Auch die Begleitung von Menschen im Kirchenasyl wird
häufig von Vereinen oder Privatpersonen übernommen. Trotzdem komme die
Gemeinde an ihre Grenzen, sagt Georg Elsner. Die Zahl der Kirchenasyle
versuche man schon aus Kapazitätsgründen möglichst klein zu halten. Aber
manchmal sei es unmöglich, Asylsuchende wegzuschicken: „Menschen in
Notlagen zu helfen, ist die Pflicht des Christenmenschen.“
## Die Regeln werden weiter verschärft
Dabei verstehe man das Kirchenasyl als Praxis, die geltendem Recht helfen
soll, richtig zu funktionieren. Schon jetzt würden viele Asylsuchende in
unzumutbare Umstände abgeschoben. Die angekündigten
Asylrechtsverschärfungen der neuen Bundesregierung könnten die Situation
noch verschärfen, meint Elsner. „Der Sound, den Herr Dobrindt anschlägt,
hat nichts mehr mit christlichen Werten zu tun.“ Auch die Reform des
Gemeinsamen Europäischen Asylsystems könnte es für Gemeinden komplizierter
machen. In deren Rahmen sollen die Dublin-Fristen – der Zeitraum, in dem
man in das EU-Land der ersten Einreise zurückgeschickt werden kann – auf
bis zu 36 Monaten verlängert, Einspruchsmöglichkeiten weiter eingeschränkt
werden.
Vor dem Eingang des Büros, in dem Sasu sitzt, hat die Gemeinde ein
pink-gelbes Kreuz angebracht. „Kreuz ohne Haken“ steht darauf. Dass ihr
ausgerechnet die Kirche hilft, sei ein komisches Gefühl, meint Sasu.
„Religion hat für mich als queere Person immer Gefahr bedeutet.“ Heute ist
sie dankbar. „Für die Behörden bist du eine Zahl. Für die Kirche ein
Mensch.“ Als sicheren Hafen würde Sasu das Kirchenasyl nicht beschreiben,
eher als Rettungsinsel. „Eine ziemlich einsame Insel.“
Gestern, erzählt Sasu, kam für sie eine gute Nachricht, in einem gelben
Umschlag: Ihre Dublin-Frist ist abgelaufen, Deutschland übernimmt das
Asylverfahren. Sie kann das Kirchenasyl jetzt verlassen. Ein paar Meter vom
Büro entfernt spielt eine Punkband, der Klang der E-Gitarre dringt herein.
Draußen ist eine Bühne aufgebaut, Menschen tanzen. Sasu tritt aus dem Büro,
geht ein paar Schritte Richtung Bühne und beginnt im Takt zu wippen, mit
den Fingern zu schnippen.
Sie bleibt etwas abseits der Menschentraube stehen. „Ich will die Angst
hinter mir lassen“, sagt Sasu. „Aber die Flucht, das Warten und die
Unsicherheit haben mir meine Energie geraubt.“ In einigen Momenten habe sie
gezweifelt, ob sie die Zeit im Kirchenasyl überstehen würde. „Das waren
drei Monate, in denen ich die Luft angehalten habe“, sagt sie.
Beginnt jetzt das Leben in Freiheit? Das, in dem man tanzen und studieren
kann, ohne Sorge vor einer Abschiebung? Sasu zögert. Die Angst vor
Blaulicht und nächtlichem Klingeln werde sie wohl weiterhin begleiten. „Ich
hatte große Träume, Deutschland hat sie schrumpfen lassen.“
8 Jun 2025
## LINKS
[1] https://www.ilga-europe.org/report/annual-review-2023/
[2] https://dserver.bundestag.de/btd/20/151/2015133.pdf
[3] /Eskalierte-Abschiebung-in-Schwerin/!5981216
[4] /Kirchenasyl-gebrochen/!6036824
[5] https://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Behoerde/Informationszentrum/Laen…
## AUTOREN
Joscha Frahm
## TAGS
wochentaz
Asyl
Kirchenasyl
Schwerpunkt Flucht
Flucht
Social-Auswahl
Kirchenasyl
Migration
Kirchenasyl
Kirchenasyl
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kirchenasyl in Gefahr: Es braucht zivilen Menschenrechtsgehorsam
Die Praxis des Kirchenasyls ist fundamental gefährdet. Gemeinden müssen
dieses und andere bedrohte Grundrechte verteidigen.
Streit ums Kirchenasyl: Ein Pastor zwischen allen Stühlen
An Thomas Lieberum zerren sowohl Bremens Innensenator als auch
Aktivist:innen, die mit dem Kirchenasyl Politik machen wollen.
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ: Der Staat, die Kirchen und das Asyl
Bremens SPD-Innensenator versuchte mehrmals, Menschen aus dem Kirchenasyl
abzuschieben. Jetzt gibt es eine Einigung mit den evangelischen Kirchen.
Schutz für Geflüchtete: Dem Bruch lauter entgegentreten
Ein virtuelles Treffen in Sachen Kirchenasyl findet positives
Abschlussstatement. Berliner Bischof verteidigt das Recht, Geflüchtete zu
schützen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.