| # taz.de -- Kirchenasyl in Gefahr: Es braucht zivilen Menschenrechtsgehorsam | |
| > Die Praxis des Kirchenasyls ist fundamental gefährdet. Gemeinden müssen | |
| > dieses und andere bedrohte Grundrechte verteidigen. | |
| Das Kirchenasyl hat in den vergangenen Jahren einen [1][besorgniserregenden | |
| Wandel erfahren]. Dabei geht es nicht nur um die zunehmenden Räumungen, die | |
| verstärkten Abschiebungsandrohungen und die neu entfachte Debatte über das | |
| Kirchenasyl. Die Veränderungen sind fundamentaler: Sie betreffen die | |
| Praxis, die Funktion und die grundlegende Bedeutung des Kirchenasyls. | |
| Lange Zeit wurde das „Kirchenasyl“, das natürlich kein Asyl im rechtlichen | |
| Sinne ist, als ein Dazwischentreten verstanden. Eine Kirchengemeinde tritt | |
| zwischen eine schutzsuchende Person und eine Behörde, wenn die begründete | |
| Befürchtung besteht, dass den Betroffenen durch eine Abschiebung | |
| schwerwiegende Gefahren für Leben, körperliche Unversehrtheit und Freiheit | |
| drohen. So eröffnen Kirchengemeinden einen Schutzraum und sorgen für einen | |
| zeitlichen Aufschub, damit Behörden und eventuell Gerichte die Situation | |
| der betroffenen Personen noch einmal sorgfältig prüfen können. | |
| Mit dem Dublin-Verfahren begann eine neue Phase des Kirchenasyls. Nun ging | |
| es nicht mehr „nur“ um [2][Abschiebungen in Herkunftsländer], sondern auch | |
| – und bald mehrheitlich – um drohende Überstellungen in andere europäische | |
| Mitgliedstaaten. In diesem Zusammenhang verabredeten das Bundesamt für | |
| Migration und Flüchtlinge (Bamf) und die Kirchen im Jahr 2015 eine neue | |
| Vorgehensweise. | |
| Die Kirchen sagten zu, dass ihre Gemeinden ein Kirchenasyl im Dublin-Fall | |
| nicht leichtfertig gewähren, sondern in jedem Fall gewissenhaft prüfen | |
| würden, ob tatsächlich ein Härtefall vorliegt. Das Bamf versprach im | |
| Gegenzug, Einzelfälle nach Vorlage eines detaillierten Dossiers sorgfältig | |
| zu prüfen. Gemeinsames Ziel war es, [3][Kirchenasyle möglichst zu | |
| vermeiden]. Anfangs funktionierte diese Vereinbarung gut, und das BAMF | |
| beschied etwa 80 Prozent der Härtefalldossiers positiv, wodurch Betroffene | |
| ihr Asylverfahren in Deutschland durchlaufen konnten. | |
| Bald darauf änderte das Bamf das vereinbarte Verfahren einseitig und | |
| mehrfach. Immer seltener wurden Härtefälle als solche anerkannt. Von Januar | |
| bis Oktober 2024 hat das Bamf kein einziges Härtefalldossier mehr positiv | |
| beschieden. Wird ein Dossier abgelehnt, fordert das Bamf die Gemeinde zur | |
| Beendigung des Kirchenasyls binnen dreier Werktage auf. Dies steht in | |
| krassem Widerspruch zur nach wie vor menschenrechtswidrigen Behandlung | |
| Schutzsuchender in vielen europäischen Transitländern. | |
| ## Was, wenn Grundrechte nicht ernst genommen werden? | |
| Die aktuelle Praxis des Bamf wirft eine grundlegende Frage auf: Wie sollen | |
| Kirchengemeinden reagieren, wenn auf die vorgebrachten Argumente und Fakten | |
| gar nicht mehr eingegangen wird und detaillierte Dossiers mit | |
| standardisierten Textbausteinen beantwortet werden? | |
| Ein besonders erschütternder Fall verdeutlicht die Problematik: Kroatische | |
| Grenzbeamte zwangen eine schutzsuchende Familie, sich zu entkleiden, | |
| verbrannten ihre Habseligkeiten inklusive Dokumenten und stießen ein Kind | |
| ins Feuer, das dadurch Brandverletzungen erlitt. Trotz Dokumentation der | |
| Verletzungen und Berichten über [4][systematische Gewalt] in Kroatien | |
| verharmloste das Bamf die Grausamkeiten als „Gefahrenabwehr, die durch die | |
| Grenzschützer gegebenenfalls auch unter Zwangs- und Gewaltanwendung | |
| erfolgen darf“. Die Kirchengemeinde stand damit vor der Frage: Das | |
| Kirchenasyl beenden und zulassen, dass die Familie ihren Peinigern | |
| ausgeliefert wird? | |
| In solchen Fällen halten Kirchengemeinden das Kirchenasyl aufrecht. Weil | |
| die im Grundgesetz als „unantastbar“ definierte Menschenwürde immer wieder | |
| verletzt wird, betrachten sie es als ihre Pflicht, diese Würde zu achten | |
| und zu schützen. Wie wäre eine solche Praxis richtig beschrieben? Mit dem | |
| Konzept des „zivilen Ungehorsams“ haben sich die evangelischen Kirchen | |
| immer schwergetan. | |
| „Ich kann für den Normalfall überhaupt keinen Konflikt mit dem Recht | |
| erkennen“, konstatierte 1994 Jürgen Schmude, ehemaliger Justiz- und | |
| Innenminister und von 1985 bis 2003 Präses der EKD-Synode. Solange der | |
| Staat über den Aufenthaltsort der Geflüchteten informiert sei, könne er | |
| eingreifen – das gilt auch heute noch. | |
| Die Rechtswissenschaftlerin [5][Samira Akbarian eröffnet eine neue | |
| Perspektive]. Sie beschreibt zivilen Ungehorsam als | |
| „Verfassungsinterpretation“, als reflexive und praktische Kritik an | |
| Gesetzen und Behördenhandeln, die nach Überzeugung der Ungehorsamen nicht | |
| im Einklang mit den Grundwerten der Verfassung stehen. Damit ist die | |
| aktuelle Praxis und Funktion des Kirchenasyls präzise beschrieben. | |
| Es spricht also einiges dafür, Kirchenasyl als eine Form zivilen | |
| Ungehorsams zu verstehen. Treffender noch wäre der Begriff ziviler | |
| Menschenrechtsgehorsam. Denn beim Kirchenasyl geht es gar nicht um | |
| Ungehorsam im Sinne einer Rechtsverletzung, sondern um Treue zu | |
| verfassungsmäßig garantierten Grund- und Menschenrechten. | |
| ## Das Grundgesetz verteidigen | |
| Immer wieder wird der Vorwurf laut, das Kirchenasyl gefährde den | |
| Rechtsstaat. Die eigentliche Bedrohung liegt in einer Politik, die | |
| Menschenrechte und rechtsstaatliche Prinzipien offen infrage stellt. | |
| Besonders alarmierend ist dabei die schleichende Umdeutung des | |
| Rechtsstaatsbegriffs. Nicht wenige meinen heute, Rechtsstaat bedeute eine | |
| schlagkräftige Exekutive und schärfere Gesetze. Das Gegenteil ist richtig: | |
| Sinn des Rechtsstaates ist gerade, die Exekutive zu kontrollieren. Sein | |
| erster und wichtigster Auftrag ist die Gewährleistung der Grund- und | |
| Menschenrechte. | |
| Wir durchleben einigermaßen finstere Zeiten. Ziviler Menschenrechtsgehorsam | |
| ist heute wichtiger denn je – nicht nur in Gestalt des Kirchenasyls. Er | |
| legt den Finger in die Wunde, die zwischen Menschenrechten und staatlichen | |
| Interessen klafft. Statt diejenigen zu diffamieren und zu kriminalisieren, | |
| die darauf hinweisen, sollten alle gemeinsam daran arbeiten, sie zu | |
| schließen und zu heilen. | |
| 13 May 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andreas Lipsch | |
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