# taz.de -- Sexualisierte Gewalt im Profifußball: Und alle so still | |
> Gegen Fußball-Stars gibt es oft schwere Vorwürfe. Viele werden nicht | |
> aufgeklärt. Recherche über ein System des Schweigens – und mögliche | |
> Lösungen. | |
Bild: Auch unter einem Teil der Fans herrscht die Auffassung: kein Urteil, kein… | |
Stuttgart taz | Stuttgart, ein Samstagnachmittag im Januar. Ein Pulk | |
Menschen strömt in klirrender Kälte Richtung Stadion. Aus Fast-Food-Buden | |
plärren Schlager, ein Verkäufer preist seine Trikots an. Eine Gruppe | |
angereister Fans grölt herum – die dritte und vierte Zeile des Lieds „Von | |
den blauen Bergen kommen wir“ dichten sie um in: „Und wir spritzen unseren | |
Samen in den Unterleib der Damen.“ | |
Ein Spieltag wie viele in der Fußball-Bundesliga der Männer. Der VfB | |
Stuttgart spielt gegen den SC Freiburg. Der Fanshop ist gepflastert mit | |
überlebensgroßen Porträts der Spieler. Direkt am Ausgang hängt das Bild des | |
Kapitäns, Atakan Karazor. Gegen Karazor wird in Spanien strafrechtlich | |
ermittelt. Eine 18-jährige Frau hatte im Juni 2022 auf Ibiza Anzeige gegen | |
ihn erstattet. | |
Der Vorwurf: Karazor und ein Freund hätten sie in der Vornacht gemeinsam in | |
einer Villa auf der Ferieninsel vergewaltigt. Der Spieler selbst erklärte, | |
der Sex sei einvernehmlich gewesen, gestützt von einer Zeugin. Es gilt die | |
Unschuldsvermutung. Mittlerweile wird wegen sexueller Nötigung ermittelt. | |
Der VfB hat den Spieler zur Saison 2024/25 zum Kapitän gemacht und stellt | |
sich seit Beginn des Verfahrens hinter ihn. | |
Das hier ist kein Text über Atakan Karazor oder die Frage, was auf Ibiza | |
geschah. [1][Es geht um ein System] – und wie es mit sexualisierter oder | |
misogyner Gewalt umgeht. Denn es gibt viele Spitzenprofis, gegen die | |
Ermittlungen liefen. Auch gegen internationale Superstars wie Cristiano | |
Ronaldo oder Neymar. | |
2019 zeigte ein Model Neymar mit dem Vorwurf der Vergewaltigung an, die | |
Ermittlungen wurden aufgrund fehlender Beweise eingestellt. Ex-Model | |
Kathryn Mayorga wirft Cristiano Ronaldo eine Vergewaltigung vor, die er | |
2009 in Las Vegas begangen haben soll. Ronaldo zahlte ihr 375.000 Dollar | |
Schweigegeld. Ein späteres Strafverfahren und ein Zivilprozess wurden | |
eingestellt. | |
Zwei ehemalige brasilianische Nationalspieler landeten sogar im Gefängnis. | |
Dani Alves wegen Vergewaltigung – gegen Zahlung einer Kaution wurde er | |
entlassen – und Robinho wegen Teilnahme an einer Gruppenvergewaltigung. | |
Die meisten Vorwürfe enden allerdings ungeklärt. In Schweigen. Bei kaum | |
einem kommt es zu einer Verurteilung. Warum? | |
Weil Beweisführung schwierig ist und am Ende oft Aussage gegen Aussage | |
steht. Weil Stars eine wertvolle Ware sind und ihre Klubs sie schützen. | |
Weil die Grenze zwischen Einvernehmen und Übergriff gerade bei den | |
branchenüblichen Partybekanntschaften schnell verschwimmt. Weil vielleicht | |
manche Frau lügt in der Hoffnung auf Schweigegeld. Und weil die Stars eine | |
immense Macht haben. Mit ihren großen Fanscharen, guten Medienkontakten, | |
teuren Anwälten und Verschwiegenheitsverpflichtungen für die Partnerinnen. | |
[2][Eine Recherche von Correctiv und Süddeuts]cher Zeitung aus dem Jahr | |
2022 zeigte, wie „Spielerfrauen“ bei Gewalterfahrungen mundtot gemacht | |
werden. | |
Doch die aktuellen Fälle finden in einem neuen Spannungsfeld statt. | |
#[3][MeToo] ist auch im Profifußball angekommen, einerseits. Medien und | |
aktive Fanszenen, aber auch Einzelkämpfer:innen in den Klubs setzen | |
das Thema auf die Agenda. Viele Klubs haben neue Awareness-Konzepte im | |
Stadion. Gegen manch beschuldigten Spieler gibt es kritische Banner und | |
Fanproteste. | |
Andererseits hat der gesellschaftliche Rechtsruck die Fronten noch weiter | |
verhärtet. Sexualisierte und misogyne Gewalt werden zunehmend als „woke“ | |
Themen diffamiert. Der moralische Furor ist auch im progressiven Lager | |
größer geworden: Für Frauen, die sonst kritisch auf die Institution | |
Gefängnis schauen, können beim Thema sexualisierte Gewalt die Haftstrafen | |
oft gar nicht hoch genug sein. Im Fußball sähen manche gern, dass jeder | |
verdächtigte Spieler bis zur Klärung der Vorwürfe nicht mehr spielen darf, | |
Unschuldsvermutung hin oder her. Es geht in diesem Text also um zwei | |
Fragen: Wie agiert dieses System bei Gewaltvorwürfen? Und was wäre ein | |
guter Umgang? | |
Nicht weit vom Fanshop, an dem das Poster von Atakan Karazor hängt, sitzen | |
zwei weibliche Fans um die 50 und rauchen. „Wenn die Anschuldigung stimmt, | |
sollte er kein Kapitän sein“, sagt die eine auf Nachfrage. „Aber so was | |
stimmt ja auch nicht immer. Die Ex-Freundinnen hauen da ja oft drauf.“ Sie | |
glaube nicht, dass Karazor was gemacht hat, der sei „so ein Lieber“. Beide | |
sind sich sicher, dass das Schweigen des Vereins der Beleg sei, dass da | |
nichts ist. In eine Debatte über den Kapitän möchten sie als weibliche Fans | |
nicht einbezogen werden – sie fänden es gut, wie „familiär“ der Klub das | |
löst. | |
Vergleichbar äußern sich einige Fans an diesem Tag: Atakan Karazor sei | |
unschuldig, solange es keine Verurteilung gebe – und so lange sei es für | |
sie kein Thema. Vielen ist nicht bewusst, wie niedrig die Aufklärungsquote | |
bei Übergriffen ist und dass eingestellte Ermittlungen nicht mit einem | |
Freispruch gleichzusetzen sind. | |
Einen erwiesenen Vergewaltiger würden hier wenige tolerieren. Auffällig | |
aber ist, wie viele Fans die Überzeugung äußern, dass es sich bei den | |
meisten Anschuldigungen um Lügen handelt. Und Medien viel zu schnell | |
Vorwürfe erheben würden. „Es gibt viele Schmeißfliegen, die die Reichweite | |
von Männern ausnutzen und Geld wollen“, sagt einer. | |
Zahlreiche Anhänger:innen implizieren, Atakan Karazor sei das Opfer, | |
Frau und Medien seien die Täter. In den gemischten Fangruppen sind es immer | |
die Männer, die zuerst das Wort ergreifen. Eine Gruppe älterer Herren | |
schaukelt sich im Gespräch gegenseitig hoch. Einer sagt, es habe den Verein | |
nicht zu interessieren, was Karazor privat mache: „Der Arbeitgeber muss | |
sich doch auch nicht damit beschäftigen, wenn du hacke Auto fährst.“ Nur | |
einmal bietet eine Frau um die 30 einem Mann in der Debatte die Stirn, | |
spricht hartnäckig davon, wie wichtig es sei, Opfern zu glauben. Vom Rest | |
der Gruppe springt ihr niemand bei. | |
Dabei gibt es durchaus kritische Engagierte im Stuttgarter Umfeld. Julia | |
zum Beispiel. Sie spricht regelmäßig über den Fall Karazor. Das Thema gehe | |
ihr nahe, ebenso wie den anderen Fanfrauen, mit denen sie sich trifft. Die | |
34-Jährige ist seit vielen Jahren VfB-Stuttgart-Fan. Sie habe selbst schon | |
Übergriffe im Stadion erlebt, erzählt sie. Ein Dauerthema. Vor rund einem | |
halben Jahr machte Julia mit etwa acht anderen Fanfrauen einen Safe Space | |
auf, wo sie sich treffen und über ihre Erfahrungen austauschen. Die Frauen | |
finden das Schweigen ihres Klubs zu den Vorwürfen gegen Karazor feige. „Man | |
tut so, als ob gar nichts wäre“, sagt Julia. Es sei richtig, dass er | |
spielen darf, aber nicht als Kapitän, das sei „wie ein Freispruch“. Zu | |
ihrem Schutz möchte Julia nur mit Vornamen genannt werden. | |
Das bisherige Awareness-Konzept des Klubs findet sie ungenügend. Bei dem | |
Übergriff, den sie kürzlich erleben musste, sei die Hilfenummer wegen | |
Netzüberlastung nicht erreichbar und Security zu weit weg gewesen. Außerdem | |
lache diese bisweilen eher, statt zu helfen. „Wir Frauen fühlen uns als | |
Fans zweiter Klasse.“ Es würde viel verändern, wenn eine große Ultragruppe | |
sich des Themas Karazor annehmen würde, glaubt Julia. „Doch sie sind sehr | |
männerdominiert und glauben, es betrifft sie nicht.“ Anfragen an zwei | |
Stuttgarter Ultragruppen im Rahmen dieser Recherche blieben unbeantwortet. | |
Warum üben Julia und ihre Freundinnen keine öffentliche Kritik? „Wir haben | |
überlegt, das mal auf der Mitgliederversammlung anzusprechen. Aber wir | |
haben Angst, dass uns die Männer belächeln, mit dem Finger auf uns zeigen, | |
dass wir zur Zielscheibe werden.“ Sie berichtet, dass der Ton in der Kurve | |
mit dem Rechtsruck rauer geworden sei. „Immer mehr engagierte Leute ziehen | |
sich zurück.“ Auch sie fühle sich erschöpft. Dabei sehe sie durchaus | |
Fortschritte im Umgang des VfB mit gesellschaftlichen Themen, auch seien | |
viele junge Männer heute beim Thema sexualisierte Gewalt kompetenter und | |
hilfsbereiter. Die Mitgliederversammlung des VfB findet am 22. März statt. | |
Ob dort jemand wagt, das Schweigen zu brechen? | |
In der Türkei war die Dynamik beim Fall Karazor anders. Eigentlich sollte | |
er türkischer Nationalspieler werden, durfte im vergangenen Herbst jedoch | |
nicht debütieren. Grund waren wohl auch die Fanproteste: Nach seiner | |
Nominierung gab es im Netz einen feministischen Shitstorm. In Deutschland | |
wies lediglich ein Fanbanner auf die kontroverse Personalie hin. 2022 | |
hielten Anhänger:innen von Werder Bremen bei einem Spiel gegen | |
Stuttgart ein Plakat mit der Aufschrift „Kein Schutz für Täter. Solidarität | |
mit Betroffenen“. Eine ungerechte Formulierung, denn Karazor ist kein | |
erwiesener Täter. Der VfB reagierte allergisch, Sportdirektor Alexander | |
Wehrle sprach von „Vorverurteilung“. Ähnlich wie auch viele Fans. | |
Der Ton, den ein Verein setzt, ist nicht egal. Es hätte andere | |
Möglichkeiten gegeben, als eine Wagenburg zu errichten. Offiziell möchten | |
Wehrle und Karazor nicht mit der taz sprechen. Mit Wehrle gab es ein | |
Hintergrundgespräch, aus dem keine Informationen in diesem Text stehen | |
dürfen. Das ist immer noch mehr, als andere Klubs anbieten. Die Routine | |
vieler Vereine: alles abblocken. | |
## Fatales Signal an Betroffene | |
Frankfurt am Main, eine Pressekonferenz Ende Januar. Ein bisschen hibbelig | |
sitzt der 22-jährige französische Stürmer Elye Wahi auf seinem Stuhl, | |
während er die Fragen der Journalist:innen beantwortet. Er wird als | |
Neuzugang bei Eintracht Frankfurt vorgestellt, ein 25-Millionen-Mann, der | |
teuerste in der Vereinsgeschichte. Nach gut einer Viertelstunde sportlichen | |
Geplänkels fragt ein Journalist zum „ein oder anderen Vorfall“ aus der | |
Vergangenheit. Tatsächlich geht es um sexualisierte sowie misogyne Gewalt. | |
2018 soll Elye Wahi Mitschüler in sexualisierter Weise gedemütigt haben, in | |
der Folge flog er aus der Schule und dem Klub. Weil Wahi damals | |
minderjährig war, soll hier nicht die konkrete Tat stehen. 2021 erstattete | |
eine Frau Anzeige. Der Vorwurf: Elye Wahi habe sie vor einem Nachtclub ins | |
Gesicht geschlagen. Seine Begleiter bestritten dies, die Ermittlungen | |
wurden eingestellt. Eintracht Frankfurt hat all das im Zuge der | |
Verpflichtung nicht erwähnt. Elye Wahi antwortet auf die Frage: „Ich denke, | |
es ist gerade nicht der richtige Augenblick, um darüber zu reden.“ | |
Wahi ist der zweite aktuelle Bundesligaspieler, gegen den es eine Anzeige | |
wegen sexualisierter oder misogyner Gewalt gab. Der dritte ist der Mainzer | |
Kaishu Sano. Er saß 2024 in Japan in U-Haft. Sano wurde verdächtigt, mit | |
zwei Freunden in einem Hotel in Tokio einen sexuellen Übergriff auf eine | |
Frau begangen zu haben. Die Ermittlungen wurden eingestellt. Der Klub | |
äußerte sich zunächst nicht. Mainzer Ultras adressierten ein | |
Protestschreiben an den Verein. Betroffene würden mundtot gemacht, heißt es | |
darin, die wirtschaftliche Situation eines Klubs stehe „wie immer über | |
allem“. Und: „Stellt es nicht sogar eine Täter-Opfer-Umkehr dar, wenn Sano | |
ohne Weiteres in die Mannschaft integriert wird und lediglich ‚seine | |
Strapazen‘ thematisiert werden?“ All das sende ein fatales Signal an alle | |
Betroffenen, das Vereinsumfeld und die Gesellschaft. | |
Mainz 05 rechtfertigte sich daraufhin mit den eingestellten Ermittlungen | |
und eröffnete gleich eine Drohkulisse: „Gegen falsche öffentliche | |
Anschuldigungen, die uns als Vorstand betreffen, werden wir uns | |
gegebenenfalls juristisch zur Wehr setzen.“ Ein vierter Spieler, dessen | |
Name bisher nicht öffentlich bestätigt ist, verpflichtet vom FC Augsburg. | |
Gegen ihn wird seit Februar wegen sexuellen Fehlverhaltens ermittelt. In | |
der Berichterstattung zur Männer-Bundesliga ist der Fall kein Thema. | |
Die taz hat den Frankfurter Sportvorstand Markus Krösche sowie Elye Wahi | |
für ein Gespräch angefragt. Darin sollte es nicht um die Vergangenheit oder | |
ein moralisches Kreuzverhör gehen, sondern um die Gegenwart. Um Leitlinien | |
bei der Eintracht, was die Verpflichtung von beschuldigten Spielern angeht. | |
Um rote Linien. Um mögliche Schulungen und Bildungsmaßnahmen im Klub. | |
Darum, wie Elye Wahi die Diskussionen um ihn wahrnimmt. Auch der FC | |
Augsburg wurde für die Recherche angefragt. Beide Klubs lehnten ein | |
Gespräch ab. | |
Eintracht Frankfurt antwortete schriftlich. Man stehe „lebhaft“ für | |
Toleranz und Gleichberechtigung, „daher wurden selbstverständlich mit dem | |
Spieler und seinem Umfeld Gespräche geführt, die auch außersportliche | |
Lebensbereiche betreffen“. Man spreche aber nicht öffentlich über einzelne | |
Spieler. Zu Elye Wahi heißt es noch: „Wir haben keinerlei Befürchtungen, | |
dass misogyne Verhaltensmuster vorliegen, und sind uns sicher, dass wir in | |
den kommenden Jahren ein positives Miteinander ohne jegliche Störgeräusche | |
haben werden.“ | |
## Den Spieler einfach ins Ausland verkaufen | |
Der FC Augsburg verwies lediglich auf seine Pressemitteilung. Man wolle | |
sich zu Leitlinien, Weiterbildungen und Ähnlichem nicht äußern, „da dies | |
immer in Zusammenhang mit dem aktuellen Fall gebracht werden würde. Sie | |
können jedoch davon ausgehen, dass wir sehr sensibel mit solchen Themen | |
umgehen und auch entsprechende Prozesse intern hierfür haben.“ Dass Klubs | |
ihre Angestellten schützen wollen, ist verständlich. Aber wäre es nicht | |
auch für deren Image glaubwürdiger, wenn transparent würde, wie ernst man | |
das Thema nimmt? | |
Wenn der öffentliche Druck dann doch mal zu groß wird, verkaufen viele | |
Vereine das Problem – den Spieler – ins Ausland, wo der Fall idealerweise | |
kaum in den Medien war. Und die Liga sich über einen günstigen Deal freut. | |
Ein Beispiel ist der Engländer [4][Mason Greenwood]. Gegen den | |
Manchester-United-Profi wurde 2022 Anklage wegen versuchter Vergewaltigung, | |
Körperverletzung und Nötigung erhoben (und später fallen gelassen). Der | |
Klub verkaufte ihn nach Marseille. Bei Bayern-Profi [5][Jérôme Boateng] | |
lief es ähnlich. Ihm hatten zwei Ex-Partnerinnen Gewalt vorgeworfen, er | |
wurde Mitte 2024 wegen vorsätzlicher Körperverletzung verwarnt. Nun kickt | |
er in Österreich beim Linzer ASK. Eine Rückkehr zum FC Bayern, der sich | |
erst offen gezeigt hatte, war am Fanwiderstand gescheitert. Man könnte die | |
Reihe fortführen. Sie macht deutlich, wie wichtig und einflussreich die | |
Positionierung der Fanszene ist. | |
Beim VfB Stuttgart spricht auch Sarah über den Fall Karazor. Sie ist | |
Podcasterin und wird zu ihrem Schutz ebenfalls nur mit Vornamen genannt. | |
Sarah sagt, in einzelnen Bubbles gebe es schon Kritik am Umgang, vor allem | |
an der „totalen Nicht-Kommunikation“ und dem Kapitänsamt. Auch sie hat | |
darüber nachgedacht, das Thema bei der Mitgliederversammlung anzusprechen – | |
und sich dagegen entschieden: „Ich fühle mich dann nicht mehr sicher in der | |
Kurve, wenn ich mich äußere.“ Als sie sich im Jahr 2022 öffentlich in | |
mehreren Medien zu erlebten Übergriffen im Stadion äußerte, habe sie sich | |
im Block Sprüche wie „Wenn ich dich berühre, zeig mich nicht an“ anhören | |
müssen. | |
Fan Julia wünscht sich derweil Glaubwürdigkeit und Transparenz. Dass der | |
VfB proaktiv Updates zum Fall gibt, dass der Klub einen Dialog mit Fans | |
anbietet, dass ein Spieler sich beim Thema sexualisierte Gewalt engagiert. | |
Sie fände es gut, wenn auch Atakan Karazor die Wichtigkeit des Themas | |
betont. | |
„Das Thema muss öffentlich diskutiert werden“, sagt auch die ehemalige | |
grüne Landtags-Vizepräsidentin und Dauerkarteninhaberin Brigitte Lösch. Sie | |
kritisiert die Entscheidung des Vereins, sich bedingungslos hinter Karazor | |
zu stellen. Lösch fordert, im Rahmen des mit der Frauenberatungsstelle | |
entwickelten VfB-Gewaltschutzkonzepts „Dächle“ Schulungen vom Vorstand bis | |
zur Security durchzuführen. | |
Das „Dächle“ wurde zur Saison 2022/23 eingeführt und beinhaltet ein | |
Awareness-Team an Heimspieltagen, ein Hilfetelefon sowie einen Mailkontakt | |
außerhalb der Spieltage. Auf Anfrage äußert sich die Fanbeauftragte, dass | |
es aufgrund der hohen Fluktuation nicht zweckmäßig sei, Ordner:innen | |
direkt zu schulen. Jedoch sei das Ordnungspersonal über das „Dächle“ | |
informiert. Auch Klubvorstände seien mit dem Konzept vertraut. | |
Lösch fordert auch einen Leitfaden für den Umgang mit Fällen und mehr | |
Sensibilisierung für Spieler. Eine Organisation, die Schulungen zu | |
sexualisierter Gewalt explizit für Nachwuchsprofis anbietet, ist mehreren | |
von der taz angefragten Fußballorganisationen nicht bekannt. | |
Die meisten Klubs, in denen es Kontroversen um einen Profi gibt, haben auch | |
ein Frauenteam. Was haben sie zu alldem zu sagen? | |
Es ist nicht leicht, Spielerinnen bei betroffenen Vereinen zu finden, die | |
sich zu dem Thema äußern möchten. Nicht mal anonym. Auch hier fanden | |
Hintergrundgespräche für diesen Text statt. Demnach variiert, ob ein Fall | |
überhaupt Thema im Frauenteam ist. Aber selbst wenn, wagt es keine | |
Spielerin, öffentlich Kritik zu üben. Eine Person, die sich im | |
Frauenfußball gut auskennt, sieht zudem einen kulturellen Unterschied: „In | |
Deutschland sprechen Spielerinnen nicht öffentlich über so was, anders als | |
zum Beispiel in den USA, aus Angst vor Konsequenzen durch ihre Klubs.“ | |
Schilderungen legen nahe, dass diese Angst begründet ist. Und eine Person, | |
die den Frauenteams des VfB nahesteht, sagt, es gehe auch dort sehr | |
hierarchisch zu. „Hinter der Hand wurde über die Personalie schon | |
getuschelt.“ | |
Es gibt eine Ex-Spielerin, die den Kampf dennoch aufgenommen hat: Die | |
ehemalige Torhüterin und heutige Torfrautrainerin Alisha Jahn vom FC | |
Blau-Weiß Linz/Kleinmünchen. Sie erlangte kurzzeitig Berühmtheit auf Social | |
Media, als sie zum Spiel des Blau-Weiß-Frauenteams gegen den Linzer ASK – | |
wo Jérôme Boateng jetzt angestellt ist – mit der Aufschrift „Kasia | |
Lenhardt“ auf ihrer Jacke erschien. | |
[6][Kasia Lenhardt], ehemalige Lebensgefährtin von Jérôme Boateng, hatte | |
nach Medienhetze durch ihren Ex-Partner Suizid begangen. Jahn sagt, sie | |
habe damals viel Zustimmung bekommen. „Die Medien waren kurz ganz Ohr, aber | |
binnen Stunden war’s dann auch wieder vorbei.“ Fans in der ganzen | |
Bundesliga hätten Protest angekündigt, dem sei aber wenig gefolgt. | |
Der Fall Linz und Boateng ist einer der heftigsten unter diesen sehr | |
unterschiedlichen Fällen. Jérôme Boateng wurde wegen Körperverletzung | |
verwarnt, Investigativ-Journalist:innen vom Spiegel haben starke | |
Indizien dafür gefunden, dass er physische und psychische Gewalt gegen | |
Frauen ausgeübt hat. Wohl auch deshalb war der Widerstand hier größer als | |
anderswo: Ein Ultra-Kollektiv protestierte gegen den Transfer, ein Fanblog | |
veröffentlichte ein anonymes Protestschreiben, bei seinen seltenen | |
Einsätzen wird Boateng ausgepfiffen. LASK-Fans sammelten rund 31.000 Euro | |
für das Projekt StoP Linz (Stadtteile ohne Partnergewalt) des Linzer | |
Frauenhauses. | |
Der Transfer habe zu einer Auseinandersetzung mit Gewalt gegen Frauen | |
geführt, erklärt Jahn. Und doch soll Jérôme Boateng nun als U19-Coach beim | |
LASK anfangen. „Ich fasse es immer noch nicht. Ich bin wütend“, schreibt | |
Jahn. Wie kann es sein, fragt sie sich, dass sie als ehrenamtliche | |
Betreuerin für Jugendarbeit einen erweiterten Strafregisterauszug abgeben | |
muss – aber bei dem Star ist das offenbar egal? Der Verein lässt eine | |
Anfrage dazu unbeantwortet. Jahn will weitermachen, sie sei mit NGOs in | |
Kontakt, habe eine Petition aufgesetzt. Und sie fordert von Profiklubs ein | |
Durchgreifen schon bei Verdachtsfällen: „Den Spieler so lang auf Eis legen, | |
bis die Vorwürfe geklärt sind.“ | |
Aber was, wenn diese Vorwürfe nicht klärbar sind? Bei allem berechtigten | |
Wunsch nach deutlichen Zeichen und starkem Handeln wird wenig über | |
Wiedereingliederung gesprochen. Dabei geht es hier doch um junge Menschen, | |
die all ihre Freizeit und Jugend für den Traum einer Profikarriere geopfert | |
haben. Ein Quasiberufsverbot wegen einer möglichen Straftat wäre | |
drakonisch. | |
Eine zweite Chance zu bekommen, ist ein urdemokratischer Gedanke. Aber | |
dritte, vierte und fünfte Chancen? In den Gesprächen mit weiblichen Fans | |
sagen viele: Ein möglicher Wiederholungstäter wie Boateng, der sich zudem | |
öffentlich völlig uneinsichtig zeigt, sollte nicht mehr als Vorbildfigur im | |
Spitzenfußball aktiv sein dürfen. Es gibt einen Punkt, ab dem die | |
Grenzziehung einer Gesellschaft wichtiger wird als das Schicksal eines | |
Einzelnen. Aber wo liegt der? | |
Nicht viele Klubs setzen sich differenziert mit so einer Frage auseinander. | |
Aber es gibt sie. | |
## Klubs sind keine Streetworker | |
Jermaine Greene sagt, er sei ein Freund davon, von Fall zu Fall zu | |
entscheiden. „Eine Schablone gibt es nicht.“ Greene ist gelernter | |
Sozialarbeiter, Fan- und Antidiskriminierungsbeauftragter bei Werder | |
Bremen, einem Klub, der als progressiv gilt, auch wegen seiner aktiven | |
Fanszene. | |
Greene glaubt in vielen Fällen an eine zweite Chance, aber unter | |
Bedingungen: „Uns ist es wichtig, dass die Einsicht aufrichtig ist. Dass | |
die Person sich bessern möchte und verstanden hat, warum etwas nicht okay | |
ist.“ Im Fußball erlebt er das mitunter anders: „Teils habe ich das Gefüh… | |
Spieler werden begnadigt, und dann geht es weiter.“ Eine Resozialisierung | |
müsse auch nicht bei jedem auf der großen Plattform stattfinden. | |
Die Sache mit der aufrichtigen Einsicht ist bei Werder mehr als nur | |
Theorie. Im Jahr 2024 verpflichtete der Klub einen Jugendspieler, der bei | |
einem anderen Verein im Zuge eines rassistischen Vorfalls rausgeflogen war. | |
Werder entschied sich für etwas Bemerkenswertes im Spitzenfußball: Der | |
Verein führte mit dem Spieler soziale Maßnahmen durch. Greene hat sie | |
initiiert und den Nachwuchsspieler betreut. Der Spieler habe Input zum | |
gesellschaftlichen Engagement des Klubs bekommen, regelmäßig in Greenes | |
Abteilung mitgearbeitet und mehrere Antirassismus-Workshops besucht. Am | |
Ende habe er vor seinem Team eine Präsentation zu einem selbstgewählten | |
Thema gehalten. „Mir war wichtig, dass wir uns mit ihm beschäftigen und | |
dass er dahintersteht.“ Und er rechnet dem Jugendlichen hoch an, dass er | |
diesen Weg mitging, obwohl er woanders ohne Maßnahme hätte kicken können. | |
Greene weiß auch, dass diese Idee Grenzen hat: „Wenn wir jemanden nicht | |
nehmen, findet er einen anderen Verein. | |
Klubs sind keine Streetworker.“ Er glaubt, man müsse im Kampf gegen | |
sexualisierte und misogyne Gewalt bereits bei den Grundfesten ansetzen. | |
„Toxische Männlichkeit zieht sich im Fußball durch die Strukturen.“ Häuf… | |
sieht er sich mit dem Satz konfrontiert, dass es in der Kabine doch bereits | |
Völkerverständigung und Diversity gebe. „Aber ein diverses Team kann | |
zusammen toxische Männlichkeit ausüben.“ | |
Es gibt keine Zahlen dazu, ob Profifußballer überdurchschnittlich oft mit | |
sexualisierter oder misogyner Gewalt auffällig werden. Aber immer wieder | |
kritisieren Gesprächspartner:innen die patriarchale Prägung, die | |
Tausende Jungs hier durchlaufen. Viele Fußballer leben ab dem Alter von 13 | |
oder 14 Jahren in einer Bubble, die fast nur aus Männern besteht, mit einem | |
archaischen, hierarchischen Männlichkeitsbild. Sie haben kaum Kapazität für | |
Horizonterweiterung, nicht selten ermutigen Berater und Klubs ihre Klienten | |
zu einer „stabilen“ Partnerbeziehung mit Kindern. Ihre Partnerinnen, meist | |
noch junge Frauen, sind oft hochgradig finanziell vom reichen Mann | |
abhängig, ziehen mit dem Spieler an dessen Arbeitsort, erfüllen ein | |
Hausfrauendasein. Es ist nicht nur ein Bildungsproblem, sondern ein | |
Strukturproblem. Umso mehr, wenn diese Ex-Profis heute Entscheider sind. | |
Um Männlichkeitsbilder zumindest etwas aufzulösen, fordert Jermaine Greene | |
mehr Bildungsarbeit in Nachwuchszentren. „Es braucht noch mehr pädagogische | |
Betreuung und weitere Aufklärung, die sich direkt an die Klientel richtet.“ | |
Er könnte sich externe Schulungen vorstellen. Wichtig seien auch im | |
Breitensport Trainer:innen, die die Themen in die Teams tragen. Bei den | |
Lehrgängen für die A-, B- und C-Trainer-Lizenz müsse die Auseinandersetzung | |
mit Diskriminierung, männlichen Rollenbildern und sexualisierter Gewalt | |
mehr im Fokus der Ausbildung stehen, fordert er. Auch könne mehr | |
geschlechtergemischter Fußball enorm helfen. „Es braucht ein anderes | |
Mindset.“ | |
Das kann aber erst dann entstehen, wenn Schweigen und Leugnen ein Ende | |
haben. | |
21 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Machtmissbrauch-durch-Fussballprofis/!5885703 | |
[2] https://correctiv.org/top-stories/2022/10/14/machtmissbrauch-profi-fussball/ | |
[3] /Schwerpunkt-metoo/!t5455381 | |
[4] /DFB-Fussballerinnen-gegen-Maenner-Gewalt/!6048694 | |
[5] /Jerome-Boateng/!t5231677 | |
[6] /Podcast-zu-Kasia-Lenhardt/!5996496 | |
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