# taz.de -- Hilfe bei sexualisierter Gewalt: Wo die Not am größten ist | |
> Die künftige Bundesregierung muss die Hilfe für Betroffene sexualisierter | |
> Gewalt bewahren. Tut sie es nicht, hätte das verheerende Folgen. | |
Bild: Zwei Frauen nachts auf dem Heimweg: ein Symbol für eine bedrohliche Situ… | |
Mitte März hat das [1][Familienministerium] bekanntgegeben, dass das | |
Ergänzende Hilfesystem (EHS) für Betroffene sexualisierter Gewalt in den | |
nächsten zwei Jahren [2][abgewickelt wird]. Nur noch bis zum 31. August | |
2025 kann man Anträge stellen, danach nicht mehr. Das wird verheerende | |
Folgen für die in Kindheit und Jugend von sexualisierter Gewalt Betroffenen | |
haben. | |
Das EHS besteht aus dem [3][Fonds Sexueller Missbrauch im familiären | |
Bereich] und außerdem einem Teil zum institutionellen Bereich. Menschen, | |
die im familiären Bereich oder in einer Institution wie einer Kirche oder | |
einem Sportverein sexualisierte Gewalt in Kindheit oder Jugend erlebt haben | |
und unter den Folgen leiden, können einen Antrag auf Hilfe stellen. Die | |
Hilfen müssen geeignet sein, Beeinträchtigungen aufgrund der erlittenen | |
Gewalt abzumildern. Dazu können Hilfen für einen Umzug, eine Namensänderung | |
oder Sicherungsmaßnahmen an der Wohnung ebenso zählen wie die Unterstützung | |
für das Nachholen eines Schulabschlusses oder Physiotherapie. | |
Die Bedeutung des Ergänzenden Hilfesystems ist für viele Betroffene hoch; | |
das hängt mit der Ausgestaltung des sonstigen Hilfesystems zusammen. Viele | |
Menschen, die sexualisierte Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend erlitten | |
haben, fallen nämlich durch sämtliche staatlichen Hilferaster. Viele | |
Betroffene können ihren Fall nicht „beweisen“, wenn außer ihnen und dem | |
Täter niemand anwesend war. | |
Die Anforderungen an eine strafrechtliche Verurteilung sind hoch, und viele | |
entscheiden sich gegen eine Anzeige. Einige sehen sich in einer | |
innerfamiliären Gewaltsituation so unter Druck, dass sie sich die Anzeige | |
nicht trauen. Andere befürchten, im Rahmen des Strafverfahrens | |
retraumatisiert zu werden, und möchten sich dem nicht aussetzen. | |
## Anträge auf soziale Entschädigung werden oft abgelehnt | |
Das soziale Entschädigungsrecht unterstützt Menschen, die durch ein | |
Ereignis, für das die staatliche Gemeinschaft eine besondere Verantwortung | |
trägt, eine gesundheitliche Schädigung erlitten haben, bei der Bewältigung | |
der Folgen. Aber auch im Rahmen des sozialen Entschädigungsrechts müssen | |
Betroffene darlegen, dass sie ein schädigendes Ereignis erlitten haben. | |
Selbst wenn ihnen der Nachweis gelingt, müssen sie darlegen, dass die | |
Schädigung kausal für ihre gesundheitliche Beeinträchtigung war. Damit | |
entsteht eine weitere Hürde. | |
Nach Auskunft des Weißen Rings sind 2023 48,1 Prozent der Anträge auf | |
soziale Entschädigung abgelehnt worden. Dabei ist die Antragsquote schon so | |
gering: 2021 wurden lediglich 15.125 Anträge gestellt – bei 214.099 | |
Gewalttaten. Laut einer Forsa-Umfrage des Weißen Rings aus dem Jahre 2022 | |
[4][kannten 76 Prozent der Befragten das Opferentschädigungsrecht nicht]. | |
Die Schwierigkeit lässt sich an einem fiktiven Fall nachvollziehen. Ein | |
Mädchen erleidet im Alter von elf bis dreizehn Jahren sexualisierte Gewalt | |
durch ihren Stiefvater. In der Schule verschlechtert sie sich seit dem | |
elften Lebensjahr rapide. Während das erste Jahr am Gymnasium sehr gut | |
verlief, sackten ihre Leistungen so stark ab, dass sie die Schule wechseln | |
muss und am Ende knapp die Realschule abschließt. Sie hat seit dem Beginn | |
der Gewalt Albträume, Schlafstörungen und massive Ängste und Depressionen. | |
Sie erstattet Anzeige. Es gibt außer ihrer Aussage keine Beweise. Ihr wird | |
nicht geglaubt. | |
Es gibt keine Fotos, keine Videos und keine Personen, die die Taten gesehen | |
haben. Das Verfahren wird eingestellt. Sie stellt einen Antrag auf soziale | |
Entschädigung. Dieser wird abgelehnt. Das Vorliegen eines schädigenden | |
Ereignisses sei zu bezweifeln. Im staatlichen Gesundheitssystem hat sie | |
Anspruch auf Psychotherapie. Den Versuch mit einer dritten Therapeutin | |
bricht sie ab. Schon als kleines Kind hatte sie großes Vertrauen zu | |
Pferden, aber eine tiergestützte Therapie zahlt ihre Krankenkasse nicht. | |
Sie stellt einen Antrag beim EHS und erhält einen Brief, der mit dem Satz | |
beginnt: „Wir erkennen an, dass Sie als Kind Opfer sexualisierter Gewalt | |
wurden.“ Sie beginnt zu weinen und realisiert in diesem Moment, welche | |
Bedeutung die Anerkennung der Gewalt für sie hat. Ihr Antrag auf eine | |
tiergestützte Therapie wird bewilligt, und innerhalb eines Dreivierteljahrs | |
geht es ihr so gut, dass sie den gymnasialen Schulabschluss nachholen | |
möchte. | |
Betroffene konnten durch den Fonds den Ort verlassen, an dem ihnen die | |
Gewalt widerfahren ist. Der Fonds hat den Umzug, den Kauf gebrauchter | |
Möbel, die Kaution ermöglicht. Andere waren in dem Beruf, den ihre Mutter, | |
die Täterin, ausgesucht hatte, gefangen. Der Fonds hat ihnen eine | |
Weiterbildung finanziert, mit der sie einen Beruf ihrer Wahl ausüben | |
können. | |
Jedes Mal, wenn ein Fall sexualisierter Gewalt gegen Kinder öffentlich | |
wird, heißt es, es müsse mehr getan werden, um solche Gewalttaten zu | |
verhindern und Betroffene gut zu unterstützen. Das ist richtig. | |
Gleichzeitig ist es deprimierend, dass weder ausreichend Ressourcen in | |
Prävention und Unterstützung wie etwa spezialisierte Fachberatung gesteckt | |
wird, noch bestehende Strukturen wie das Ergänzende Hilfesystem sicher sind | |
und zukunftsfest gemacht werden. Das EHS muss gesetzlich verankert und | |
dauerhaft strukturell gewährleistet werden. | |
Es ist für Betroffene oft die letzte und einzige Möglichkeit, Hilfe zu | |
erhalten. Wenn es in der bestehenden Form nicht weiterhin bestehen bleiben | |
soll, darf es erst aufgelöst werden, wenn es eine Alternative bereits gibt. | |
Es besteht Hoffnung, dass im Koalitionsvertrag festgehalten wird, dass der | |
Fonds Sexueller Missbrauch und das damit verbundene Ergänzende Hilfesystem | |
fortgeführt werden sollen. | |
Nicht nur ein Bekenntnis dazu, sondern auch das schnelle Entwickeln einer | |
zukunftsfähigen Struktur für den Fonds Sexueller Missbrauch ist dringend | |
nötig. Sicherheit und Verlässlichkeit müssen geschaffen werden, und dafür | |
braucht es ein Gesetz zur Gewährleistung des Ergänzenden Hilfesystems. | |
1 Apr 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Familienministerium/!t5013840 | |
[2] /Fonds-fuer-Opfer-sexualisierter-Gewalt/!6007748 | |
[3] /Fonds-Sexueller-Missbrauch/!6072685 | |
[4] https://forum-opferhilfe.de/oeg-umfrage/ | |
## AUTOREN | |
Franziska Drohsel | |
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