# taz.de -- Femizide in Deutschland: „Das größte Sicherheitsproblem ist pat… | |
> In Deutschland gibt es fast einen Femizid pro Tag. Bei einer | |
> taz-Veranstaltung in Hamburg fragten die Sprecherinnen: Wann schlagen wir | |
> das Patriarchat zurück? | |
Bild: Sylvia Haller, Julia Habermann, Katharina Schipkoswki und Stefanie Knaab … | |
„Heute geht es um das größte Problem der inneren Sicherheit in Deutschland: | |
patriarchale Gewalt“, eröffnet Katharina Schipkowski, Journalistin und | |
Moderatorin des Abends, am 8. März die [1][„Seitenwende“-Veranstaltung zu | |
geschlechtsspezifischer Gewalt]. Es geht um unterfinanzierte Hilfsstellen | |
und um die steigende Zahl der Femizide in Deutschland. | |
Laut [2][Lagebericht des Bundeskriminalamtes (BKA) hat es allein im Jahr | |
2023 ganze 360 Femizide] gegeben, also Tötungen von Frauen und Mädchen | |
aufgrund ihres Geschlechts. Fast jeden Tag stirbt eine Frau oder ein | |
Mädchen, nur wegen ihres Geschlechts. Fast jeden Tag in Deutschland ein | |
Femizid. | |
Kann das stimmen? Die Sozialwissenschaftlerin Julia Habermann forscht zu | |
Partnerinnentötungen an der Universität Bochum. Für sie ist die Zahl des | |
Bundeskriminalamts (BKA) problematisch. Denn erstens, so Habermann, fasse | |
das BKA den Begriff des Femizids als die Tötung von Frauen und Mädchen zu | |
eng. | |
Auch in der öffentlichen Diskussion werde sich stark auf die Tötungen | |
beschränkt. Laut der Sozialwissenschaftlerin können aber auch die Selektion | |
weiblicher Föten oder der Tod durch misogyne Praktiken wie dem fehlenden | |
Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen unter den Begriff Femizid fallen. | |
Zweitens gebe das BKA selbst an, Femizide eigentlich nicht statistisch | |
abbilden zu können. Den Begriff nutzt das Amt aber trotzdem. Es gebe laut | |
Habermann aber auch Tötungen von Frauen und Mädchen ohne | |
geschlechtsspezifische Tötungsabsicht. „Hier findet also eine Gleichsetzung | |
statt“, sagt die Sozialwissenschaftlerin. Und an dieser Stelle müsse die | |
öffentliche Debatte genauer werden, sagt sie. | |
## Kein individuelles Problem | |
Ein zentrales Element beim Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt bilden | |
Frauenhäuser. Dort können von Gewalt Betroffene Zuflucht finden, mit | |
Kindern, ohne Kinder. Sylvia Haller ist im Vorstand des Deutschen | |
Frauenrates und Mitarbeiterin beim Autonomen Frauenhaus Heidelberg. Bei | |
geschlechtsspezifischer Gewalt handele es sich nicht um ein individuelles | |
Problem, sagt sie: „Wir müssen immer klarmachen, dass es eine politische | |
Komponente gibt. Geschlechtsspezifische Gewalt kann nur | |
gesamtgesellschaftlich, vor dem patriarchalen Hintergrund betrachtet | |
werden“. | |
„Viele Frauen, die zur Gewaltberatung kommen, wissen nicht, ob sie hier | |
richtig sind“, sagt Stefanie Knaab, Geschäftsführerin des Vereins | |
Gewaltfrei in die Zukunft e.V. [3][Sie hat die erste getarnte App in | |
Deutschland entwickelt], die Betroffenen von geschlechtsbasierter | |
Partnerschaftsgewalt hilft. Mit der App lassen sich etwa Übergriffe | |
dokumentieren und Hilfseinrichtungen finden. In akuten | |
Bedrohungssituationen dient die App als unauffälliger Notruf. | |
Gewaltausübende Personen, meist die Partner, sind in der Regel sehr | |
kontrollierend. Die App sei von ihnen deswegen nicht erkennbar. Deshalb, so | |
Knaab, werde sie auch nicht beworben und hat auch keinen Namen. | |
## Wo die Gewalt anfängt | |
Wo patriarchale Gewalt anfängt, fragen wir uns viel zu selten, findet | |
Stefanie Knaab. „Es fängt ab da an, wo es Ungleichheiten in der | |
Gesellschaft gibt. Und die gibt es sehr viel“. Ungleichheiten wie in den | |
Bereichen Care-Arbeit, Altersarmut oder der Bezahlung begünstigten Gewalt | |
massiv. | |
„Betroffene sagen oft, sie konnten nicht gehen, weil sie es sich nicht | |
leisten konnten, oder weil sie sich um jemanden kümmern müssten. Wir müssen | |
sehen, Gewalt ist immer strukturell und wir alle tragen dazu bei, weil wir | |
alle diese Dinge reproduzieren“, so Knaab. | |
## Wir alle kennen Betroffene | |
„Wer von Ihnen kennt jemanden, der von Partnerschaftsgewalt betroffen ist, | |
ist vielleicht selbst betroffen oder glaubt, jemanden zu kennen?“, fragt | |
Journalistin Katharina Schipkowski in den restlos gefüllten | |
Veranstaltungssaal. Viele Hände schnellen sofort in die Höhe, andere heben | |
sich zaghafter. „Und jetzt Sie sich einmal um“. Im Saal sitzen fast | |
ausschließlich weiblich gelesene Personen, nur vereinzelt Männer. | |
Auch App-Entwicklerin Stefanie Knaab war von Partnerschaftsgewalt | |
betroffen. „Ich habe erst nach der Trennung herausgefunden, dass das, was | |
ich erlebt habe, Gewalt war. Gewalt fängt nicht erst bei Knochenbrüchen an | |
und sollte auch viel früher aufgedeckt werden“. Auch sie habe früher | |
niemanden gekannt, der von Gewalt in der Partnerschaft betroffen war. | |
„Heute weiß ich, wir alle kennen jemanden“, so Knaab. „Wir müssen darü… | |
sprechen, das Stigma muss beseitigt werden“. | |
## Politisches Versagen | |
Binär gedacht seien 52 Prozent unserer Gesellschaft Frauen. Jede Dritte ist | |
oder war von Gewalt in der Partnerschaft betroffen. Dieses Problem werde | |
politisch nicht ernst genommen, sagt Sylvia Haller vom Autonomen Frauenhaus | |
Heidelberg. „Es gibt vor allem Lippenbekenntnisse. Natürlich sind immer | |
alle dagegen und total betroffen. Das reicht aber nicht. Davon gibt es | |
keine Frauenhäuser, kein Geld, kein Personal“. Es ist ein politisches | |
Versagen. | |
Das [4][Gewalthilfegesetz sei zwar ein Meilenstein], sagt Haller. „Es ist | |
aber kein diskriminierungsfreies, intersektionales Gesetz. Menschen mit | |
problematischem Aufenthaltsstatus sind zum Beispiel herausgefallen.“ Das | |
sei kein Zufall. „Das ist in den Verhandlungen zwischen CDU, SPD und Grünen | |
gestrichen worden. Migrantische Verbände, Transverbände etc. können das | |
Gesetz nicht feiern. Es hilft zwar weißen Cis-Frauen, ja, aber nur ihnen“, | |
so Haller. | |
## „Wir leben in einer frauenhassenden Gesellschaft“ | |
Dazu komme, dass Gewalt in Deutschland oft exotisiert und kulturalisiert | |
werde. „Wenn Wolfgang tötet, ist der Aufschrei nicht so groß. Doch da | |
müssen wir als Gesellschaft aufstehen“, sagt Haller. Dem wird mit lautem | |
Applaus aus dem Publikum begegnet. | |
Warum wir es als Gesellschaft nicht schaffen, Frauen besser zu schützen, | |
ist für Stefanie Knaab eindeutig: „Wir leben in einer frauenhassenden | |
Gesellschaft“. Frauen seien schuld, wenn ihnen Gewalt widerfährt. Oft würde | |
gefragt „Warum verlässt du ihn nicht einfach?“. Aber auch wenn Frauen | |
getötet werden, weil sie sich trennen oder es versuchen, werde die Schuld | |
der Frau gegeben. | |
In Prozessen um Partnerinnentötungen werde der Trennungsversuch oft als | |
strafmilderndes Merkmal des Täters gewertet. Für den Tatbestand Mord | |
benötigt es ‚niedere Beweggründe‘. „Macht und Besitzanspruch des Täters | |
etwa. Geht man aber von der Verzweiflung eines Täters aus, kann man dieses | |
Merkmal verneinen. Dann wird es zu Totschlag“, so Sozialwissenschaftlerin | |
Julia Habermann. | |
## Kontrolle und Gewalt durch die Täter | |
[5][Kontrollierendes Verhalten von Tätern] ist in der Forschung ein | |
zentrales Thema, in Gerichtsprozessen wird es meist jedoch nur in | |
Randnotizen erwähnt, so Habermann. „Dabei ist die Kontrolle, diese | |
vorausgehende Gewalt, der größte Risikofaktor für zukünftige Tötungen“, | |
betont die Wissenschaftlerin. | |
Was können wir also gegen patriarchale Gewalt tun? Die Expertinnen sind | |
sich einig: Eingreifen. Bei sexistischen Aussagen im Freundeskreis, bei den | |
NachbarInnen unter einem Vorwand (zum Beispiel nach Zucker fragen) | |
klingeln, wenn man Gewalt vermutet oder intervenieren, wenn ein Partner | |
seine Partnerin beim Grillabend herabwürdigt. Den Frauen müsse signalisiert | |
werden: Ihr seid nicht allein. | |
9 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Tour-zur-Seitenwende-am-73-in-Hamburg/!vn6066437/ | |
[2] https://www.bka.de/SharedDocs/Kurzmeldungen/DE/Kurzmeldungen/241119_BLBStra… | |
[3] https://www.gewaltfrei-in-die-zukunft.de/app | |
[4] /Gewalthilfegesetz-im-Bundestag/!6062298 | |
[5] /Juristin-ueber-Macht-am-Familiengericht/!6070278 | |
## AUTOREN | |
Marco Fründt | |
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