# taz.de -- Kinder in Frauenhäusern: „Jetzt ist mein Leben besser“ | |
> Frauenhäuser bieten auch Kindern Schutz. Ein Besuch im Berliner | |
> Frauenhaus Cocon, das für 22 Frauen und 23 Kinder Platz hat. | |
Bild: Auch Kinder können in Frauenhäusern Schutz vor Gewalt finden | |
Berlin taz | Das graue Haus in einem Berliner Randbezirk sieht aus, wie die | |
anderen Häuser in der Nachbarschaft. Mehrfamilienhäuser, Gartenzäune und | |
Vorgärten reihen sich aneinander. Nichts deutet darauf hin, dass hier | |
Frauen und Kinder wohnen, die sich vor häuslicher Gewalt in Sicherheit | |
bringen mussten. | |
Das [1][Frauenhaus Cocon] ist ein Ort, an dem Frauen und ihre Kinder Schutz | |
finden können. Die Bewohnerinnen leben dort wie in einer WG, die Adresse | |
des Frauenhauses ist geheim. „Bei Anruf einer Frau geben wir nie die | |
komplette Adresse raus. Das ist sicherer“, erklärt Aylin Dogan*. Dogan | |
arbeitet im Frauenhaus Cocon und betreut dort vor allem Kinder und | |
Jugendliche. Zu ihnen gehört auch Olivia*. Sie ist 16 Jahre alt und wohnt | |
seit einigen Monaten mit ihrer Schwester, ihrem Bruder und der Mutter im | |
Frauenhaus. Olivia sagt: „Keiner weiß, dass wir hier sind. Deswegen sind | |
wir hier sicher.“ | |
22 Frauen und 23 Kinder finden im Frauenhaus Cocon Platz, betreut werden | |
sie von einem Team aus 13 Menschen. „Für den Kinderbereich haben wir vier | |
Mitarbeiterinnen und eine Kinderpsychologin“, erklärt Dogan. Sie hätten | |
immer ein offenes Ohr für die Kinder und würden mit ihnen über ihre | |
Anliegen reden. „Heute Vormittag habe ich mit den Kindern über Gefühle | |
gesprochen“, sagt Dogan. „Ich habe den Kindern einen Spiegel gegeben und | |
sie haben angeguckt, wie sie aussehen, wenn sie wütend sind. Dann haben sie | |
das gemalt.“ | |
Auf einem kleinen Tisch im Kinderbereich liegen noch einige Zeichnungen: | |
Mondgesichter mit roten Mündern, große Zähne, ausgestreckte Fäuste. Hier | |
liegen außerdem Spielzeuge, Sportmatten und Brettspiele, die die Kinder | |
benutzen können. | |
## Mehr Kinder als Frauen in Frauenhäusern | |
Laut der bundesweiten Frauenhausstatistik der [2][Frauenhauskoordinierung | |
e. V.] aus dem Jahr 2023 kommt mit jeder von Gewalt betroffenen Frau im | |
Durchschnitt mehr als ein Kind ins Frauenhaus. „Für viele Frauen sind | |
Frauenhäuser die letzte Option. Sie sind ein bisschen wie Krankenhäuser: | |
Sie bieten Frauen und Kindern eine Notversorgung“, sagt Juliane Kremberg, | |
Referentin Kinder bei der Frauenhauskoordinierung. 2023 lebten so mehr | |
Kinder als Frauen in Frauenhäusern. | |
Dogan führt durch das große Haus. Im Erdgeschoss befindet sich die | |
Verwaltung. Auf den drei Etagen wohnen die Frauen, mit und ohne Kinder, in | |
eigenen Zimmern. Küchen und Bäder werden geteilt, es gibt einen Putzplan | |
und Dienste für die Allgemeinheit. „Da kommt es auch manchmal zu | |
Konflikten“, sagt Dogan, „einfach weil viele Menschen auf engem Raum | |
zusammenleben.“ Trotzdem: „Die meisten sind einfach glücklich, hier ihre | |
eigenen vier Wände zu haben.“ | |
Das sieht Olivia auch so. „Jetzt, wo wir im Frauenhaus sind, ist mein Leben | |
besser. Mein Leben davor war nicht so perfekt, weil ich mit meinem | |
Stiefvater gelebt habe. Er hat uns nicht gut behandelt.“ Olivia und ihre | |
Geschwister Lara* und David* wohnen mit ihrer Mutter im Frauenhaus. Die | |
Mädchen und die Mutter hatten Gewalt durch den neuen Partner der Mutter | |
erlitten. | |
„Früher hat er die Tür immer ohne zu klopfen aufgemacht. Aber hier kommt | |
niemand rein“, sagt Olivia. Ihre Schwester Lara erinnert sich: „Einmal | |
saßen wir in der Küche und haben über Mädchensachen geredet. Da kommt er | |
rein, und sagt: ‚Wenn ihr nochmal die Tür zumacht, dann mach’ ich sie | |
kaputt!‘ Ich weiß nicht, warum wir die Tür nicht zumachen durften. Er hat | |
sie immer zugemacht. Ich fühle mich wohler, wenn die Tür zu ist.“ Olivia | |
und Lara erzählen, ihr Stiefvater habe ihnen auch Hausarrest gegeben, | |
Handyverbote erteilt und sie zum Aufräumen und Putzen gezwungen. „Wir | |
durften nie nur sitzen, wir mussten immer aufräumen, Müll wegschmeißen, | |
staubsaugen …“, sagt Lara. | |
## Häusliche Gewalt hat mit Macht und Kontrolle zu tun | |
Olivia und ihre Familie sind kein Einzelfall. Laut der | |
Frauenhauskoordinierung e. V kommt Gewalt gegen Kinder am häufigsten im | |
eigenen Bekanntenkreis vor. [3][Die Berliner Initiative gegen Gewalt an | |
Frauen] (BIG) weist in einer Kampagne ausdrücklich darauf hin, dass das, | |
was Olivia und Lara erlebt haben, häusliche Gewalt ist. Denn: | |
„Grundsätzlich hat häusliche Gewalt immer mit Macht und Kontrolle zu tun“, | |
sagt Nua Ursprung von der BIG. Es gehe in der Regel darum, dass im | |
Patriarchat ein Mann die Kontrolle über das Leben und die Entscheidungen | |
einer Frau haben will. „Kontrolle, mit wem man sich trifft oder nicht, | |
Kontrolle übers Geld, Kontrolle über das Handy …“, so Ursprung. Gewalt | |
könne körperlich, psychisch oder sozial sein. | |
Auch vor sexueller Gewalt fliehen Frauen mit ihren Kindern in Schutzräume | |
wie das Cocon. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass | |
bis zu einer Million Kinder und Jugendliche in Deutschland sexuelle Gewalt | |
durch Erwachsene erfahren mussten. Das sind rund ein bis zwei Kinder in | |
jeder Schulklasse. | |
Asma* ist 15 Jahre alt und wohnt seit 8 Monaten mit ihrer Mutter in | |
Deutschland. Sie erzählt auf Türkisch, was ihr widerfahren ist. Dogan | |
übersetzt. Nach der Flucht aus Afghanistan hätten Asma und ihre Mutter in | |
einer Flüchtlingsunterkunft in Berlin gewohnt. Der Bruder von Asmas | |
verstorbenem Vater, Asmas Onkel, habe schon in Berlin gewohnt, allerdings | |
nicht in der Flüchtlingsunterkunft. Trotzdem habe er sich immer wieder in | |
die Unterkunft geschlichen, Asmas Mutter sexuell belästigt und versucht, | |
sie zu vergewaltigen. Er habe auch versucht, Asma zu küssen und sie zu | |
berühren. Sie haben sich nicht mehr sicher gefühlt, bis sie mithilfe einer | |
Psychologin in Frauenhaus gekommen sind. | |
## Hilfe durch Therapie im Frauenhaus | |
Nua Ursprung betont: „Kinder sind immer in einem Abhängigkeitsverhältnis.“ | |
Das war bei Olivia und Lara sowie Asma der Fall. Olivia und Lara erzählen, | |
dass sie sich zunächst nicht getraut haben, über die häusliche Gewalt zu | |
sprechen. „Wir hatten Angst, dass sie David wegnehmen.“ Durch eine Freundin | |
der Mutter sind sie auf das Frauenhaus aufmerksam geworden und haben im | |
zweiten Anlauf einen Platz dort bekommen. Seit mehr als einem halben Jahr | |
sind sie nun dort. | |
Aus der [4][Frauenhausstatistik] geht hervor, dass diejenigen Frauen am | |
längsten im Frauenhaus blieben, die im Anschluss in eine eigene neue | |
Wohnung zogen: Ihre durchschnittliche Aufenthaltsdauer lag bei 145 Tagen, | |
fast fünf Monaten. „Für Kinder kann diese Zeit im Frauenhaus eine positive | |
Erfahrung sein, weil sie dort Kinder treffen, die ähnliche Erfahrungen | |
gemacht haben“, sagt Juliane Kremberg. Das helfe, die eigenen Erfahrungen | |
biografisch einzuordnen und zu enttabuisieren. Olivia bestätigt das: „Wir | |
können hier mit den Therapeuten sprechen und die helfen mir.“ | |
Kremberg betont aber auch: „Andererseits sind Frauenhäuser nur eine | |
Übergangslösung. Manche Mütter sagen ihren Kindern zum Beispiel, dass sie | |
in den Urlaub fahren. Und Kinder können das manchmal nicht einordnen.“ So | |
sei das Leben im Frauenhaus oft mit einer großen Unsicherheit verbunden, | |
auch darüber, wie es danach weitergeht. | |
Aylin Dogan erzählt, von einer Frau, die das Frauenhaus Cocon kürzlich | |
verlassen hat. „Als die Frau angekommen ist, war sie schwanger. Jetzt ist | |
sie ausgezogen und das Kind ist ein knappes Jahr alt.“ Das komme nicht | |
selten vor. „Es gibt Frauen, die wohnen hier zwei bis drei Jahre, weil sie | |
einfach keine Wohnung finden“, so Dogan. „Die Wohnungssituation in Berlin | |
ist halt so, wie sie ist.“ Immerhin: Im Gegensatz zu anderen sozialen | |
Einrichtungen und Projekten sind Frauenhäuser nicht von der | |
[5][Kürzungspolitik] des Senats betroffen. | |
## Es braucht einen gesamtgesellschaftlichen Wandel | |
Trotzdem gibt Juliane Kremberg Dogan recht: „Die Wohnungssituation ist | |
insbesondere für Frauen schwierig, die sich aus einer ökonomischen | |
Abhängigkeit befreien müssen.“ Sie finden, vor allem in Berlin, keine | |
bezahlbare Wohnung. „Es braucht spezielle Wohnungsangebote und sozialen | |
Wohnungsbau für Menschen in schwierigen Lebenslagen“, sagt Kremberg. Diese | |
Forderung richte sich an die Politik, aber auch an Menschen, die über | |
Immobilien verfügen. Insgesamt brauche es mehr Gesamtstrategien, um | |
geschlechtsspezifische Gewalt zu verhindern. „Prävention, Intervention, | |
Nachsorge und Täterarbeit gehören immer zusammen“, so Kremberg. | |
„Wir von BIG bringen den Kindern bei, wo sie sich Hilfe holen und [6][an | |
wen sie sich wenden können]. An einen Kindernotdienst zum Beispiel oder | |
eine Lehrerin oder Nachbarin, der sie vertrauen“, sagt Ursprung. | |
Nichtsdestotrotz findet sie: „Wenn wir heute die Gewalt beenden wollen, | |
brauchen wir einen gesamtgesellschaftlichen Wandel und ein | |
gesamtgesellschaftliches Umdenken. Wir müssen anfangen, die Täter richtig | |
in die Verantwortung zu nehmen.“ | |
Ein paar Gesetze gibt es. Das Gewalthilfegesetz zum Beispiel, das erst | |
kürzlich auf Bundesebene beschlossen wurde. Es soll allen Betroffenen von | |
häuslicher Gewalt Schutz und Unterstützung garantieren. Aber: „Das Problem | |
mit diesen Gesetzen ist, dass es immer erst um Personen geht, wenn sie | |
schon Gewalt erlebt haben. Es sind keine präventiven Gesetze, sondern | |
Pflaster auf eine Wunde“, so Ursprung. | |
6 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.frauenhaus-cocon-berlin.de/ | |
[2] https://www.frauenhauskoordinierung.de/ | |
[3] https://www.big-berlin.info/ | |
[4] https://www.frauenhauskoordinierung.de/publikationen/frauenhaus-statistik | |
[5] /Demonstration-gegen-die-Kuerzungspolitik/!6070972 | |
[6] https://www.big-berlin.info/big-intervention | |
## AUTOREN | |
Leonore Kogler | |
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