# taz.de -- Grünen-Realo Sergey Lagodinsky: „Vollgas in die Sackgasse tragen… | |
> Wie weiter nach Habeck und Baerbock? EU-Politiker Lagodinsky plädiert für | |
> den „Modus einer Verantwortungsopposition“, will aber nicht alles | |
> mitmachen. | |
Bild: Künftig bei den Grünen nicht mehr in der ersten Reihe: Wirtschaftsminis… | |
taz: Herr Lagodinsky, nach Robert Habeck hat letzten Mittwoch auch Annalena | |
Baerbock ihren Rückzug aus der ersten Reihe verkündet. Was sind die Grünen | |
jetzt noch? | |
Sergey Lagodinsky: Eine selbstbewusste Partei lässt sich nicht auf zwei | |
Gesichter reduzieren. Die Frage ist: Wie kriegen wir es hin, jetzt eine | |
gute Politik mit klaren Zielen zu fahren? Die richtigen Persönlichkeiten | |
dafür müssen wir aufbauen. | |
taz: Mit den Leuten, die jetzt an der Spitze von Partei und Fraktion | |
stehen, sind die Grünen also nicht gut aufgestellt? | |
Lagodinsky: Der Parteivorstand wurde im Herbst in einer heißen Phase | |
hineingeworfen und hat einen für grüne Verhältnisse guten Wahlkampf | |
gemanagt. Wichtiger als das Personaltableau ist aber die Frage, wofür wir | |
stehen. | |
taz: [1][Robert Habeck hat nach der Wahl gesagt], das Angebot sei top | |
gewesen, nur die Nachfrage nicht. Sehen Sie das auch so? | |
Lagodinsky: Ich finde es schwierig, wenn man sich nach einem Wahlkampf zu | |
sehr lobt – gerade, wenn das Ergebnis nicht stimmt. Was wir jetzt sehen, | |
bestätigt aber die Arbeit von Robert und Annalena. Die CDU macht das, was | |
die Grünen seit drei Jahren gesagt haben. | |
taz: Hat Habecks Konzept der Bündnispartei vielleicht nicht mehr in diese | |
polarisierten Zeiten gepasst? | |
Lagodinsky: Ich weiß nicht genau, was das Konzept einer Bündnispartei sein | |
soll – außer vielleicht: Wir dürfen keinen Blasenpopulismus betreiben. Also | |
nicht nur das sagen, was die eigene Blase hören will. Wir müssen die | |
Verantwortung für das große Ganze sehen. Wegen dieser Haltung sind zuletzt | |
viele in die Partei eingetreten. Es wäre falsch, das über Bord zu werfen, | |
nur weil wir bei der Wahl zwei Prozentpunkte weniger bekommen haben als | |
erhofft. Daraus folgt auch, dass wir in der Opposition eine ernsthaftere | |
und ehrlichere Rolle spielen sollten als die Union in den letzten drei | |
Jahren. | |
taz: Das heißt? | |
Lagodinsky: Ernsthaftigkeit und Ehrlichkeit gehört zur Politik dazu, egal, | |
ob man regiert oder opponiert. Unsere Antwort auf die unverantwortliche | |
Polarisierung muss der Modus einer Verantwortungsopposition sein. Wir | |
müssen auf der Oppositionsbank die Kraft bleiben, die zwar kritisch | |
beobachtet, aber weiterhin gestalten will. Anders als AfD und Linke wollen | |
wir Opposition für die ganze Gesellschaft machen, nicht nur für Nischen. | |
Die anderen Beiden denken jeweils nur an den nächsten Schritt. Wir denken | |
darüber nach, ob wir eine Position auch durchhalten können, wenn wir wieder | |
in Verantwortung sind. | |
taz: Heißt verantwortungsbewusste Opposition auch, [2][dass die Grünen die | |
Grundgesetzänderungen mittragen sollen], die Union und SPD mit der alten | |
Mehrheit durch den Bundestag bringen wollen? | |
Lagodinsky: Das entscheidet die Bundestagsfraktion. Es gibt aber keine | |
Zwangsläufigkeit, dass wir zustimmen. Verantwortung bedeutet auch, Nein zu | |
sagen, wenn die Sache falsch ist. | |
taz: Die Parteispitze sagt, das schwarz-rote Sondierungspapier habe sie | |
[3][„ein Stück weiter weggebracht von einer Zustimmung“]. | |
Lagodinsky: Es steht mir wirklich nicht zu, der Entscheidung der Fraktion | |
vorzugreifen. Fest steht: Die ursprünglich angekündigten Investitionen in | |
die Infrastruktur entsprachen dem, was wir immer schon verlangt hatten. | |
Aber davon ist im Sondierungspapier wenig zu finden. Grüne sind keine | |
Steigbügelhalter für Wahlversprechen der anderen. Wir standen nie auf der | |
verrosteten Schuldenbremse, aber Vollgas in die Sackgasse tragen wir auch | |
nicht mit. Wenn investieren, dann nach vorne – grüne Innovationen, | |
Infrastruktur, kluge Verteidigung. Zurzeit stellen sich die künftigen | |
Regierungsparteien politisch blöd an. Der Sinn für Verantwortung ist auch | |
für die Opposition in einer Krise ein hohes Gut, aber nicht als | |
Erpressungsinstrument der Regierungsparteien. | |
taz: Nach dieser Entscheidung werden die Grünen als Oppositionspartei nicht | |
mehr viele Gelegenheiten bekommen, mitzugestalten. | |
Lagodinsky: Auch in Zukunft können wieder verfassungsändernde Mehrheiten | |
benötigt werden. Die Grünen spielen außerdem eine Rolle auf der Länder- | |
und Kommunalebene. Und es kommt auch darauf an, die Tonalität der | |
gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung vorzugeben. Man kann auch | |
gestalten, indem man nicht wie die AfD aufhetzt, sondern Gegenpositionen | |
formuliert, die aus Verantwortungsbewusstsein resultieren. | |
taz: Mit dem Sound der Verantwortung könnte es schwer werden, zwischen AfD, | |
Koalition und Linkspartei gehört zu werden. | |
Lagodinsky: Menschen, die sachliche Politik wollen, werden sich darin | |
wiederfinden. Wenn man es geschickt macht, gibt es dafür eine Chance. | |
Außerdem haben wir inhaltliche Alleinstellungsmerkmale, zum Beispiel unser | |
Freiheitskonzept, zu dem Ökologie genauso gehört wie digitale Bürgerrechte | |
und gelebte Vielfalt in der Gesellschaft. Die anderen in der Opposition | |
werden entweder über die Freiheit von wenigen völkisch Verwandten sprechen | |
– oder sie werden nur über Gleichheit sprechen, ohne auf die Freiheit zu | |
schauen. Wir denken Freiheit, Gleichheit und Nachhaltigkeit zusammen. | |
taz: Ihr Parteichef Felix Banaszak [4][hat gerade in der Zeit gesagt]: Wir | |
haben zu wenig über Ökologie als Wert an sich gesprochen und zu viel über | |
den Nutzen für Wirtschaft und Wohlstand. Sehen Sie das auch so? | |
Lagodinsky: Selbstverständlich ist es ein Wert für sich, sonst wären wir | |
keine grüne Partei. Wir müssen aber auch aufpassen, nicht den Großteil der | |
Gesellschaft dadurch zu verlieren, dass wir dafür wie ein Bulldozer über | |
alle anderen Sorgen fahren. Wie schnell das geht, haben wir beim Thema | |
Gasheizungen gesehen. Den Fehler dürfen wir nicht wiederholen. | |
taz: Ist das Problem nicht eher, dass sie die Deutungshoheit über Ihre | |
Inhalte verloren haben? Die wurden von rechts umgedeutet und dagegen kommen | |
Sie nicht an. | |
Lagodinsky: Klar, wir befinden uns in einem harten Kulturkampf. Gerade in | |
diesem Bundestagswahlkampf habe ich selbst erlebt, dass die Union auf | |
Podien für jedes Problem der Welt am Ende die Grünen verantwortlich gemacht | |
hat. Da müssen wir raus, aber das geht nicht dadurch, dass wir die | |
Polarisierung mitmachen. Sondern wir müssen opponieren, erklären und | |
bessere Vorschläge machen als die anderen. Politik bedeutet eben nicht nur | |
angreifen, sondern auch überzeugen und vor allem liefern. | |
taz: Es gibt in der Partei die Analyse, dass die Grünen zu wenig | |
dagegengehalten haben. Die CSU habe hundert Mal die Zusammenarbeit | |
ausgeschlossen und Habeck sich trotzdem der Union angedient. Müssen Sie | |
konfrontativer werden? | |
Lagodinsky: Europa ist in einer historischen Krise und die Grünen bleiben | |
in diesem Bundestag die dritte potenziell staatstragende Kraft. Natürlich | |
müssen wir Klartext reden, wenn die künftigen Regierungsparteien Mist | |
bauen. Aber es darf sich nicht so weit hochschaukeln, dass sich alle | |
demokratischen Kräfte gegenseitig zu Unberührbaren erklären. | |
taz: Halten Sie es für möglich und erstrebenswert, mit Blick auf die | |
Zukunft wieder an Mitte-links-Mehrheiten zu arbeiten? | |
Lagodinsky: Ich hatte gehofft, dass die Linkspartei nach der Abspaltung von | |
Sahra Wagenknecht außenpolitisch verantwortungsbewusster auftritt. Aber | |
viele der Äußerungen, die ich gerade höre, lassen den Sinn für den Ernst | |
der Lage vermissen. | |
taz: Die Linkspartei bewegt sich doch. [5][Parteichef Jan van Aken benennt] | |
[6][zum Beispiel] [7][klar, wer im Ukrainekrieg Aggressor und wer Opfer | |
ist.] | |
Lagodinsky: Aber die Geschwindigkeit, mit der sich die Welt und dieser | |
Kontinent verändern, kann nicht auf die Linkspartei warten, die sich in | |
homöopathischen Schritten wandelt. | |
taz: Die Grünen haben bei der Wahl 700.000 Stimmen an die Linkspartei | |
verloren. Welche Lehren ziehen Sie daraus? | |
Lagodinsky: Ich würde daraus auf keinen Fall die Schlussfolgerung ziehen, | |
dass wir uns jetzt nach links bewegen müssen. Die Linke ist das Original | |
und wird in einem Linkswettbewerb im Zweifelsfall gewinnen. Unser Unique | |
Selling Point ist, dass wir die Partei der ökologischen Transformation sind | |
und zugleich einen bürgerrechtlichen, emanzipatorischen und freiheitlichen | |
Anspruch haben. | |
taz: Einen Teil der Wähler*innen haben Sie eben verloren, weil Sie bei | |
diesen Themen zu viele Kompromisse gemacht haben und dem Rechtsruck nicht | |
genug entgegensetzt haben. | |
Lagodinsky: Wir sind ganz klar antifaschistisch. Es gibt keinerlei Zweifel | |
daran, dass die Grünen bei diesen Themen auf der richtigen Seite stehen. | |
Aber noch mal: Wir haben die gesamte Gesellschaft im Blick und wollen | |
Verantwortung für sie übernehmen. Bei der Linkspartei gibt es diesen | |
Anspruch gar nicht. | |
taz: Besonders viele junge Wähler*innen haben sich von den Grünen | |
abgewendet. Wie erklären Sie sich das? | |
Lagodinsky: Bei den Jungen spielen die digitalen Medien eine wichtige | |
Rolle, wo vieles verkürzt oder polarisiert dargestellt wird. Da sind wir | |
manchmal langweilig, weil wir auf Ernsthaft tun und nicht mit Verkürzungen | |
arbeiten. Wir müssen dort präsenter werden. Aber wir müssen auch klar | |
sagen: bis hierhin und nicht weiter. Wir arbeiten nicht mit unehrlichen | |
Polarisierungen. Für uns ist wichtig, dass wir den Frieden auf diesem | |
Kontinent retten. Und das Klima und die Wirtschaft auch. Hier kommt man mit | |
TikTok alleine nicht weit. | |
taz: Sie haben auch Wähler*innen an die Union verloren. | |
Baden-Württembergs grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann sagt, das | |
Ergebnis sei so schlecht gewesen, weil Sie beim Thema Migration nicht klar | |
genug waren. Müssen sich die Grünen bei diesem Thema endlich entscheiden? | |
Lagodinsky: Eine klare Entscheidung ist gar nicht möglich, dafür ist die | |
Thematik viel zu komplex. Sie ist nicht reduzierbar auf ein binäres Ja oder | |
Nein. Das ist für die Gesellschaft unbequem, aber das müssen wir als | |
Gesellschaft aushalten. | |
taz: Möglicherweise sind all diese abgewogenen Positionen am Ende nur für | |
eine Nische von etwa 12 Prozent interessant. Müssen Sie sich von der Idee | |
der grünen Volkspartei verabschieden? | |
Lagodinsky: Mehr als 12 Prozent sind möglich, das haben wir an | |
verschiedenen Stellen gesehen. Aber ich war nie einer, der von der grünen | |
Volkspartei geredet hat. Dass wir Verantwortung für die ganze Gesellschaft | |
übernehmen, heißt ja nicht, dass uns die gesamte Gesellschaft wählen muss. | |
taz: Und was ist mit dem Ziel, die führende Kraft im Mitte-links-Lager zu | |
werden? Gelingt das nur noch über den Niedergang der SPD? | |
Lagodinsky: Ich halte nichts vom Links-rechts-Schema, die Zeit der alten | |
Kategorien ist vorbei. Es gibt jetzt ein Lager von Menschen, für die | |
Demokratie, Nachhaltigkeit und Repräsentanz wichtig sind. Viele dieser | |
Menschen definieren sich nicht links oder rechts. Die Grünen positionieren | |
sich schon lange nicht mehr nur links. Wir haben einen ganzheitlichen | |
Ansatz und das ist unsere Chance. | |
9 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Die-Gruenen-nach-der-Bundestagswahl/!6068460 | |
[2] /Schuldenbremse-und-Sondervermoegen/!6073883 | |
[3] https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/reaktionen-sondierungen-100.h… | |
[4] https://www.zeit.de/politik/deutschland/2025-03/felix-banaszak-gruene-bunde… | |
[5] /Jan-van-Aken-gegen-Aufruestungspolitik/!6073757 | |
[6] /Jan-van-Aken-gegen-Aufruestungspolitik/!6073757 | |
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