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# taz.de -- Schule ohne Social Media: Und jetzt bitte Telefone wegpacken
> In einem bundesweit einzigartigen Projekt verbannt die Stadt Solingen
> Smartphones aus den fünften Klassen aller Schulen.
Bild: Handys weg, Klassenarbeit!
Solingen taz | Die Zahlen, die Markus Surrey, Leiter des
[1][Schulpsycholgischen Dienstes] im nordrhein-westfälischen Solingen,
präsentiert, sind erschreckend: Immer mehr Kinder und Jugendliche litten
unter psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen. 81.000 seien allein
2021 stationär behandelt worden, erklärt Surrey im Forum der
Sophie-Scholl-Gesamtschule – das entspreche 19 Prozent aller
Krankenhausaufnahmen bei den 10- bis 17-Jährigen.
Und dann erzählt Surrey, wie diese Zahlen vor allem mit der intensiven
Nutzung von Internet und Smartphones zusammenhängen. Vorher habe es so
etwas wie eine „Glückskurve des Lebens“ gegeben, sagt Surrey. Befragungen
zeigten, dass junge Menschen seit jeher mit 16, 17 am glücklichsten gewesen
seien. „Dieses Glücksgefühl ist verlorengegangen.“
Rund 100 Schüler:innen, Lehrkräfte und Eltern sind an diesem Januartag in
die Solinger Schule gekommen, um sich über eine bundesweit einzigartige
Kooperation zu informieren. Ab dem kommenden Schuljahr soll an allen
fünften Klassen der Stadt ein Social-Media-Verzicht gelten. Zudem sollen
insgesamt 50 Medienscouts ihren jüngeren Mitschüler:innen erklären, wie
sie sich besser vor Fake News, Hasskommentaren und Cybermobbing schützen
können.
Die Idee dazu hatte Burkhard Brörken, Schuldezernent bei der zuständigen
Bezirksregierung Düsseldorf. Seine Motivation legt Brörken auch bei der
Informationsveranstaltung in Solingen offen. Seit Jahren beobachtet der
langjährige frühere Schulleiter den Social-Media-Konsum von Kindern und
Jugendlichen mit Sorge.
Der führe nicht nur zu einem Mangel an realen sozialen Kontakten und
Schlaf. Instagram, Tiktok, Snapchat & Co sorgten auch zu einem zunehmenden
Verlust von Aufmerksamkeitsfähigkeit und könnten ihre Nutzer:innen
süchtig machen. Deshalb will Brörken die Kinder und Jugendlichen schützen –
zunächst mit dem Pilotprojekt in Solingen.
## 3 Stunden 21 Minuten
Laut der Studie [2][„Jugend, Information, Medien“ (JIM)] waren 12- bis
19-Jährige im vergangenen Jahr durchschnittlich 201 Minuten täglich online.
Dabei stießen 61 Prozent von ihnen auf Fake News, 40 Prozent berichteten
von Hate Speech, 25 Prozent von ungewollten Kontakt zu pornografischen
Inhalten – und 13 Prozent wurden persönlich beleidigt.
Wie problematisch Smartphones und Social Media für Kinder und Jugendliche
sein können, wissen auch die Ministerien. Von flächendeckenden Verboten an
Schulen schrecken die meisten Bundesländer aber zurück. Stattdessen
überlassen sie es den Schulen, [3][selbst einen guten Umgang mit dem Thema
zu finden].
Der Düsseldorfer Schuldezernent Brörken hält eine flächendeckende Regelung
jedoch für vorteilhaft. Mit Blick auf den geplanten Social-Media-Verzicht
in Solingen sagt er: „Alle Solinger Schulen ziehen an einem Strang und das
ist wichtig.“ Nur so entfalle der Gruppenzwang, schon Zehnjährige unbedingt
mit einem Smartphone ausstatten zu müssen, damit die nicht als Outsider
gelten.
Brörken beschreibt damit ein Dilemma, das viele Eltern kennen. Wie kann man
dem eigenen Kind ein eigenes Telefon verwehren, wenn es dann als einziges
kein Telefon hat? Was passiert, wenn nicht alle Eltern mitziehen wollen,
kann Brörken nicht beantworten.
## Gar nicht erst kaufen!
Am Ende der Präsentation über das Solinger Pilotprojekt bleiben weitere
Fragen offen. Haben Surrey und Brörken gerade nur für den Verzicht auf
Social Media geworben – oder für ein generelles Handyverbot? „Die logische
Konsequenz ist ein Handynutzungsverbot für den fünften Jahrgang, gerade in
den Pausen“, antwortet Brörken: „Die Kinder sollen ihr Handy zu Hause
lassen.“
Surrey geht sogar noch weiter: „Ich würde empfehlen, ein Smartphone erst
gar nicht zu kaufen“, sagt der Psychologe – und wirbt für den Verzicht auf
das vereinzelnde Internet, für handyfreie Zonen auch zu Hause: „Beobachten
Sie doch einmal, wie sich Ihr Familienleben verändert, wenn am
Abendbrottisch kein Handy benutzt wird.“ Anderes zeige, wie groß die
Abhängigkeit vom Smartphone wirklich ist.
Was die Kinder denn ohne in den Pausen machen sollen, fragt Kerstin Sherif,
Lehrerin an der Sophie-Scholl-Schule. Gerade dies biete die Möglichkeit,
wieder in die reale Umgebung zurückzukehren, antwortet Surrey mit Verweis
auf den US-amerikanischen Forscher Jonathan Haidt, dessen Buch „Generation
Angst“ auch in Deutschland zum Bestseller wurde.
Das Netz und gerade Social Media schafften die Illusion, mit der ganzen
Welt verbunden zu sein – und lasse seine Nutzer:innen im Real Life
faktisch aber vereinzelt und dadurch depressionsanfällig zurück. Ohne
Smartphone seien dagegen die anderen Kinder „das einzige Spielzeug“, sagt
Surrey. Der Verzicht intensiviere echte soziale Kontakte, glaubt der
Psychologe.
Ob das Social-Media-Verbot nur für Fünftklässler:innen nicht viel zu
klein gedacht sei, will die Mutter einer 15-jährigen Gymnasiastin wissen.
„Ein Minimalkonsens“ sei das Projekt erst einmal, räumt Surrey ein:
„Eigentlich gehört das auch in die Grundschule, in die Kita, in die
Schwangerenberatung“ – schließlich gebe es auch Eltern, die bereits für
ihre Babys Handyhalterungen an Kinderwagen installierten.
Auf die Frage, ob ein generelles Social-Media-Verbot für unter 16-Jährige,
wie es Australien gerade in ein Gesetz gegossen hat, nicht sinnvoller sei,
antworten die Projektinitiatoren zurückhaltend. Zwar empfiehlt Psychologe
Surrey eine „Ausweitung auf andere Kommunen“. Schuldezernent Brörken bittet
um Verständnis, dass er in seiner Funktion keine politischen Stellungnahmen
abgeben kann. Schließlich weiß er, mit wem er sich anlegt: „Social Media,
das sind milliardenschwere Konzerne mit weltweit führender Technologie, die
Werbezeit verkaufen wollen“, sagt er – und deren Algorithmen so
programmiert seien, die Nutzer:innen möglichst lange auf den Plattformen
zu halten. „Wir sind nicht deren Kunden, wir sind deren Produkt“, fasst
Brörken das Suchtpotenzial zusammen.
## Ordentliche Moderation
„Wir diskutieren das Falsche“, sagt daher Elias Bala von der
[4][Landesschüler * innenvertretung NRW]. Zwar mache das Solinger
Projekt aufmerksam auf „Mobbing, Gewalt, politische Propaganda, Rassismus
und Antisemitismus“ im Netz. Und natürlich führten von Algorithmen immer
wieder neu gefütterte Gefühle wie Hass zu mehr Interaktionen, zu längerer
Verweildauer auf den Plattformen – und damit zu mehr Geld für die
dahinterstehenden Konzerne.
Ändern müsse sich deshalb nicht nur deren „Design“, findet der 18-Jährig…
Nötig sei auch eine „ordentliche Moderation“. Doch die habe etwa Mark
Zuckerbergs Meta-Konzern etwa auf Instagram und Facebook mit Trumps
Wahlsieg gerade erst abgeschafft.
„Die Politik“, fordert Bala deshalb, „muss endlich den Mut fassen, die
Plattformen in die Verantwortung zu nehmen.“ Denn geschützt würden so dann
nicht nur Schüler:innen: „Erwachsene können mit Social Media doch auch
nicht besser umgehen.“
19 Mar 2025
## LINKS
[1] https://www.bra.nrw.de/bildung-schule/unterricht/unterstuetzungsmassnahmen/…
[2] https://mpfs.de/studien/jim-studie/
[3] /Smartphones-an-Schulen/!6076748
[4] https://lsvnrw.de/
## AUTOREN
Andreas Wyputta
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