| # taz.de -- „Märtyrer!“ von US-Autor Kaveh Akbar: Der Märtyrer als junger… | |
| > Popkulturell überhöhter Individualismus trifft auf Politik und | |
| > Weltgeschehen. Sein Romandebüt macht Kaveh Akbar zum Shootingstar der | |
| > US-Kulturszene. | |
| Bild: Der Autor Kaveh Akbar in New York, Dezember 2022 | |
| Kaveh Akbar, geboren 1989, ist Lyriker und unterrichtet Kreatives Schreiben | |
| an der Universität von Iowa. Sein Debütroman „Martyr!“ wird in den | |
| Feuilletons von New York Times, Publishers Weekly, The Atlantic, National | |
| Public Radio oder New Yorker umfangreich gewürdigt. Für nicht wenige ist es | |
| der Roman des Jahres 2024. | |
| Tatsächlich verspricht der nun bei Rowohlt in deutscher Übersetzung von | |
| Stefanie Jacobs erscheinende, poppig gestaltete Titel „Märtyrer!“ so | |
| einiges an halluzinogenem Spaß. Neues hedonistisches Hippietum trifft | |
| literarisch auf existenziell Gefährliches. „Märtyrer!“, der Titel ist ohne | |
| Zweifel provokativ gewählt. Doch um welches Märtyrertum geht es diesem | |
| US-amerikanischen Autor hier? | |
| Als Märtyrer gelten gemeinhin Menschen, die um des Bekenntnisses ihres | |
| Glaubens willen leiden und dafür auch bereit sind, in den Tod zu gehen. | |
| Hierzu gleich eine Entwarnung: Kaveh Akbar, Sohn einer US-amerikanischen | |
| Mutter und eines iranischen Vaters, geboren 1989 und laut eigener Aussage | |
| seit seinem zweiten Lebensjahr in den USA lebend, geht es weniger um ein | |
| religiöses als um ein künstlerisches Märtyrertum. Also kein 9/11-Syndrom. | |
| ## Erleuchtung durch wahre Poesie | |
| Das, was in dem Roman in Andeutungen mitschwingt, ist eher ein Spiel mit | |
| Radical Chic, radikalem Individualismus, Vorstellungen von Rassismen, | |
| Historie und einem ethnisch geprägten Verständnis kultureller Hierarchien. | |
| Akbars Hauptfigur Cyrus Shams, eine Art Alter Ego des Autors, ist ein | |
| trockener Alkoholiker, Ende 20, in Indiana. Neben der homosexuellen Liebe | |
| zu seinem Freund Zee sucht der junge Mann Erleuchtung durch wahre Poesie. | |
| Er bemüht sich, Kunst- in Lebenspraxis in allen Lagen seines Alltags zu | |
| überführen. | |
| Diesem Zwangscharakter in „Märtyrer!“ zu folgen, ist anfänglich durchaus | |
| unterhaltsam. Akbars Figur reagiert launisch, literarisch unberechenbar, | |
| etwa als Proband für Studierende der Medizin, um ein wenig Geld in | |
| Rollenspielen zu verdienen. Cyrus beansprucht fortwährend die Hauptrolle; | |
| Statist zu sein, ist nicht sein Ding. Anziehung wie Abscheu vor „Normalos“ | |
| gehen Hand in Hand. Republikaner hassen, aber mit Töchtern wohlhabender | |
| Republikaner schlafen? Geht doch. Aber nicht lange. | |
| Die Schilderungen seiner existenziell-grüblerischen Hauptfigur gelingen dem | |
| Autor literarisch scheinbar mühelos. Innere Monologe, eingeflochten in | |
| Beobachtungen und Erlebnisse aus dem US-amerikanischen Universitätsumfeld | |
| oder bei den Anonymen Alkoholikern, wirken authentisch und lebensnah. | |
| Dieser Typ berauscht sich an sich selbst und ist im nächsten Moment wieder | |
| zu Tode betrübt. Auf narzisstische Auftritte folgen depressive Schübe. | |
| Kaveh Akbars Protagonist zitiert auch lieber nordamerikanischen Underground | |
| („Twin Peaks“) als religiöse Mythen des Dschiihadismus. Aber auch immer | |
| wieder [1][und sehr viel persische Hochkultur]. Cyrus hat ein | |
| ethnisch-kulturelles Identitätsproblem. Und so bemüht der Schriftsteller | |
| neben leichthin ausgestreuten Bezügen zu Wagner, Borges, T-Rex oder David | |
| Lynch auch ausgiebig persische Dichtergrößen wie Ferdausi oder Hafiz. | |
| ## Grundkurs in persischer Hochkultur | |
| Manches klingt dabei wie ein gönnerhaft gegebener Grundkurs in persischer | |
| Hochkultur, leicht ethnisch-exotistisch wirkend. Diese philosophische | |
| Kunstwelt soll aber das Korsett sein, in dem sich Autor und seine Figur | |
| Cyrus bewegen. Denn da draußen lauert die üble (republikanische) Realität, | |
| die banale (aber doch auch reizvolle) Geschöpfe hervorbringt. Und das böse | |
| Ganze: die Politik. | |
| Mit etwas Glück trifft Hyper-Individualist Cyrus auf Gleichgesinnte. Der | |
| Märtyrer als junger Poet reist auf der Suche nach absoluter Schönheit und | |
| der Auflösung eines Schmerzes am Rande des Sagbaren von Indiana nach New | |
| York. Dort will er die iranische Konzeptkünstlerin Orkideh sprechen. | |
| Die Exiliranerin lebt seit Jahrzehnten in den USA. Todkrank lässt sie der | |
| Autor nun öffentlich im Brooklyn Museum residieren. In ihren letzten | |
| Lebenstagen lädt sie Interessierte zu einer stillen Performance ins Museum, | |
| um über Gefühle, Biografien und die Endlichkeit zu reden. Eine echte | |
| Märtyrerin, wie Cyrus sie sucht, eine Wahlverwandte, vielleicht sogar noch | |
| mehr. | |
| Denn Cyrus hat seine eigene (iranische) Mutter als Baby, so Kaveh Akbars | |
| grundlegende Romankonstruktion, bei einem Flugzeugunglück verloren. | |
| Abgeschossen von der US-Marine über dem Persischen Golf. So viel Gegensatz, | |
| so viel Polarisierung muss literarisch sein: Verderbnis durch einen Staat, | |
| in den Cyrus dann ausgerechnet mit seinem Vater Ali Shams wird einwandern | |
| müssen. Was für eine Konstruktion. | |
| ## Trauer, Zweifel, Freude, Sex | |
| Akbar lässt seinen Protagonisten Cyrus im Gespräch mit Orkideh im Brooklyn | |
| Museum den existenziellen Schmerz so ausdrücken: „Na ja, ich schreibe diese | |
| Sätze und versuche, Trauer, Zweifel, Freude, Sex oder was auch immer so zu | |
| formulieren, dass es so eindringlich klingt, wie es sich anfühlt. Und dabei | |
| weiß ich, dass Worte sich nie so anfühlen werden wie die Sache selbst. | |
| Sprache wird nie die Sache selbst sein. | |
| Also ist das Ganze doch eigentlich von vornherein verdammt, oder? Und ich | |
| bin ein Verdammter, wenn ich dem mein Leben widme. Weil ich weiß, dass ich | |
| durch mein Schreiben keinem dieser Tode die Bedeutung verleihen kann, die | |
| er verdient. Mein Schreiben wird weder den Faschismus aufhalten noch die | |
| Erde retten. Es wird meine Mutter nicht zurückbringen, weißt du?“ Und | |
| Orkideh erwidert spröde: „Auch sonst niemanden aus diesem Flug.“ | |
| Solch lapidare Kommentierungen machen den Roman in seiner ersten Hälfte | |
| durchaus zu einem komplexen und unterhaltsamen Lesevergnügen. Die | |
| ironischen Brechungen verhindern, dass der Autor und dessen Hauptfigur sich | |
| allzu affirmativ in Selbstgewissheit oder Selbstmitleid ergehen. Doch | |
| Ironie kann auch ein Trick sein, um ein Werk und seine allzu klaren | |
| Botschaften gegen Kritik vorab zu immunisieren. | |
| Die größere politische Setzung des Romans blitzt in dem Zitat aus dem | |
| Dialog von Cyrus und Orkideh bereits auf. Cyrus’ Schmerz und Depression und | |
| selbst auferlegtes poetisches Märtyrertum sollen schließlich von einem | |
| tatsächlich stattgefundenen weltpolitischen Ereignis herrühren. | |
| ## Unterbezahlt auf einer Geflügelfarm arbeitend | |
| Der Abschuss des Iran-Air-Fluges 655 am 3. Juli 1988 in der Straße von | |
| Hormus über dem Persischen Golf ist die ultimative Anklage. Noch dazu mit | |
| Cyrus’ Mutter an Bord. Während Vater Ali Shams zusammen mit dem Baby in | |
| Teheran geblieben war. Im Anschluss wird Vater Ali mit Kleinkind Cyrus in | |
| die USA auswandern, um dort unterbezahlt auf einer Geflügelfarm zu | |
| arbeiten. | |
| Ihre Erfahrungen im neuen Umfeld beschreibt Akbar so: „Ali hatte Cyrus | |
| eingeschärft, auf die Frage ‚Wo kommst du her?‘ mit ‚Ich kann mich nicht | |
| erinnern‘ zu antworten und ahnungslos zu tun, bis sein Gegenüber aufgab. | |
| Die Alternative – sich als Iraner zu erkennen zu geben – würde Ali zufolge | |
| nur Gewalt und Gefahr heraufbeschwören. Inwiefern genau, führte Cyrus’ | |
| Vater nicht weiter aus, und auch diese Unbestimmtheit hielt Cyrus wach.“ | |
| Die iranische Familie erscheint so als zweifaches Opfer: eines für den | |
| Flugzeugabschuss verantwortlichen US-Militärs sowie eines ausbeuterischen, | |
| rassistischen US-Kapitalismus. | |
| Als literarische Gesellschaftskritik wirkt dies sehr klischeehaft. | |
| Hunderttausende mit der politischen Opposition gegen die Mullahs verbundene | |
| Iraner:innen emigrierten seit 1979 in die USA. Viele von ihnen gut | |
| ausgebildet, einige sehr wohlhabend, an religiös-mystischen Konstruktionen | |
| wenig interessiert. | |
| Den Abschuss des iranischen Passagierflugzeugs über dem Persischen Golf | |
| [2][während des Irak-Iran-Krieges] bezeichnete die US-Regierung als | |
| tragischen Unfall. 290 Menschen starben. USA und Iran einigten sich vor dem | |
| Internationalen Gerichtshof 1996 auf eine Entschädigung von 61,8 Millionen | |
| US-Dollar. Anders als etwa die Russische Föderation für den Abschuss von MH | |
| 17 mit 298 Toten am 17. Juli 2014 über der Ostukraine gestand sie ihre | |
| Schuld ein. | |
| Kaveh Akbars Debütroman ist dort stark, wo er von seinem tatsächlichen | |
| Erfahrungshintergrund ausgehen kann. Aber schwach, wo er Rassismus als | |
| abstrakte Welterklärungsformel einsetzt. | |
| 17 Mar 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Andreas Fanizadeh | |
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