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# taz.de -- Najem Wali über die Zukunft in Nahost: „Es scheint ein Domino-Ef…
> Schriftsteller Najem Wali, Vizepräsident PEN Deutschland, über
> Unterschiede beim Feiern. Und die Chancen für einen demokratischen
> Neuanfang in Syrien.
Bild: Mit Licht und Hoffnung ins neue Jahr: Iraner:innen bei der letztjährigen…
taz: Herr Wali, aktuell wirbt eine große deutsche Fluggesellschaft mit dem
Satz: „Der Nahe Osten ist ganz allgemein für einen Kurzurlaub super
geeignet und besticht durch etliche Möglichkeiten für einzigartige
Silvesterarrangements.“ Wie ist das mit Silvester und dem Neujahrsfest,
feiert man das auch im Nahen Osten – jüdisches Neujahr wäre am 2. Oktober,
persisches oder kurdisches Nouruz-Fest am 21.März?
Najem Wali: In einigen arabischen Ländern schon. In vielen leben ja auch
christliche Minderheiten. In Irak, Syrien, Libanon, Marokko oder den
Arabischen Emiraten ist der 1. Januar ein offizieller Feiertag. In Ägypten
war das früher auch so. Auch in Libyen, wo dies aber gerade abgeschafft
wurde.
taz: Sie leben seit Jahrzehnten in der Bundesrepublik. Geboren und
aufgewachsen sind Sie im schiitisch geprägten Südirak, in Basra. Wie hat
man dort Nouruz, Neujahr, gefeiert?
Wali: Es gab wunderbare Rituale. Mit meiner Mutter bin ich an das Ufer des
Schatt al-Arab gegangen. Man setzte Kerzen auf die Rinde von Palmen,
zündete sie an und ließ sie über das Wasser treiben. Das taten nur die
Frauen. Und es musste für jedes Kind eine eigene Kerze sein. Es sah
wunderschön aus, wie die Lichter in der Dämmerung auf die Reise geschickt
wurden.
taz: Heute praktiziert man diesen Brauch nicht mehr?
Wali: Nein. Nach den acht Jahren des Kriegs mit Iran in den 1980ern verband
man Feuer und Licht mit Gefahr. Während des Kriegs durfte man kein Licht
anmachen, schon gar nicht offen am Wasser. Diese Tradition wurde wie so
vieles vom Krieg zerstört. Im Sommer hatte ich früher immer auf dem Dach
geschlafen. Auch das ist vorbei.
taz: Gefeiert haben zuletzt viele Menschen in Iraks Nachbarland Syrien.
Woran dachten Sie, als Sie die Bilder vom Sturz des Regimes in Damaskus
sahen?
Wali: Die Aufnahmen erinnerten mich an den 9. April 2003 im Irak. Als die
amerikanischen Marines in Bagdad einmarschierten und Saddam Hussein
stürzte. In Syrien waren es natürlich hauptsächlich einheimische Milizen,
die den Tyrannen stürzten. Doch auch im Irak war zunächst die Freude groß.
Kinder und Jugendliche feierten auf den Straßen, Denkmäler wurden vom
Sockel geholt.
taz: Im Irak regierte wie in Syrien die Baath-Partei.
Wali: Der irakische und der syrische Flügel der Baath waren aber
verfeindet. Beide vertraten eine großarabische Ideologie, den Panarabismus
mit (national-)sozialistischer Prägung. In Syrien waren die Alawiten
gegenüber den Sunniten in der Minderheit. Über den Panarabismus suchten die
Alawiten und die al-Assads nach einer Legitimität für ihre Herrschaft über
das Land. Im Irak war es genau umgekehrt. Hier waren die Sunniten in der
Minderheit. Und Saddam nutzte die Ideologie des Panarabismus, um sich
gegenüber der Mehrheit der Schiiten durchzusetzen. Die verfeindeten
Baath-Parteien formulierten jeweils einen totalen Machtanspruch über die
Staatsgrenzen hinweg.
taz: Mit dem Bild der Aufständischen in der historischen Zitadelle von
Aleppo Anfang Dezember spürte man: Jetzt könnte das Regime in Syrien
fallen. Was ist Aleppo für eine Stadt?
Wali: Die Bilder aus Aleppo waren tatsächlich ein starkes Symbol. Aleppo
ist eine sehr schöne Stadt und alte Handelsmetropole. Hier war man nicht
scharf auf den syrischen Bürgerkrieg. Doch die Stadt wurde nach 2011 zu
einem [1][Zentrum des Aufstands. Sie wurde von Regime-Truppen
eingeschlossen], von den Russen aus der Luft bombardiert und bis zur
Kapitulation ausgehungert. Was mir aber jetzt besonders auffiel, war, wie
leicht die Denkmäler der Assads vom Sockel zu holen waren. Als wären sie
aus Pappe. Bei den großen Statuen Saddam Husseins in Bagdad brauchte man
Bulldozer und Stahlseile. Al-Assads Herrschaft war aus Pappe, die Sockel
seiner Denkmäler hohl.
taz: Sie sind auch Vizepräsident der Schriftstellervereinigung PEN
Deutschland mit Sitz in Darmstadt. Die syrische Autorin Kholoud Charaf hat
den Sturz des Regimes in Damaskus auf der Website des PEN Deutschland
begrüßt, warnt aber auch vor islamistischen Gruppen wie HTS (Hai’at Tahrir
al-Scham). Was meinen Sie, können Syriens Islamisten sich so weit mäßigen,
dass sie Bürger-, Frauen- und Minderheitenrechte achten werden?
Wali: Ich zweifle daran. Bei aller Freude über den Sturz des
Assad-Regimes, den Rebellen gehören Gruppen an, die Teil von al-Qaida oder
IS waren. Der Chef der syrischen HTS-Rebellen, al-Jolani, hat nach 2003 im
Irak gekämpft. Er war in Abu Ghraib eingekerkert. Er wurde danach Chef der
Al-Nusra-Front in Syrien, auch wenn er später mit al-Qaida gebrochen haben
soll. Auf ihn sind 10 Millionen US-Dollar Kopfgeld von den USA ausgesetzt.
Er wird jetzt wohl auf eine Amnestie spekulieren.
taz: Unmittelbar nach dem Sturz Assads gaben sich die Rebellen aber doch
relativ gemäßigt?
Wali: Für die Medien, ja. Das haben wir [2][ebenso bei den Taliban] erlebt.
Oder [3][bei Chomeini 1979 in Iran]. Und auch im Irak. Al-Jolani
zelebrierte jedoch seinen großen Auftritt in Damaskus jetzt in der
Umayyaden-Moschee. Und der vorläufige Ministerpräsident, Mohammed
al-Baschir, stellte bei seiner TV-Ansprache neben die syrischen Fahne eine
Islamistenflagge.
taz: Millionen Menschen flüchteten seit 2011 aus Syrien ins Ausland. Im
Bürgerkrieg sollen über 600.000 Menschen gestorben sein, viele ermordet
durch das Regime. 100.000 Menschen sollen [4][in den Folterkellern Assads
verschwunden] sein. Wie ist da ein Friedensprozess überhaupt vorstellbar?
Wali: Es ist sehr schwierig. Wollte man eine Demokratie, müsste eine
Übergangsregierung alle Gruppierungen und vor allem die Minderheiten
beteiligen. Die Verbrechen müssten aufgearbeitet werden. Wenn ich aber die
neuen Minister mit den Bärten sehe, schwindet mein Vertrauen. Was ist mit
den Drusen im Süden, den Christen, den Jesiden oder den Kurden im
Nordosten? Was mit den laizistischen Kräften, was mit den Frauen? Und
welche Rolle wird Erdoğans Türkei weiter in Syrien spielen?
taz: Ihr Heimatland Irak versank nach dem Sturz Saddams im Chaos. Es wurde
zum Aufmarschgebiet extrem gewaltbereiter Dschihadisten sowie zum
Exportkorridor für Irans schiitischen Extremismus über den Irak und Syrien
hinweg bis zur Hisbollah in den Libanon.
Wali: Das ist die Gefahr. Für Erdoğan geht gerade ein Traum in Erfüllung.
Assad weg, Irans Mullahs zurückgedrängt und er mit den sunnitischen Milizen
in der Offensive. Er setzt die Kurden extrem unter Druck. Erdoğans
aggressive Rhetorik gegen Israel, aber auch Israels Vorrücken auf Golan und
Berg Hermon bergen die Gefahr weiterer Konfrontationen. Dabei haben Israels
Militärschläge nach dem 7. Oktober entscheidend dazu beigetragen, dass
Assad gestürzt werden konnte.
taz: Warum sind Israel die Kontrolle über die Golanhöhen und den Berg
Hermon so wichtig?
Wali: Damit sie vom Gebirge aus nicht beschossen werden können. Und es geht
um die Wasserressourcen. In der Region dreht sich vieles um das knappe
Wasser. Dort gibt es viele Quellen.
taz: Trauen Sie Erdoğans Türkei oder anderen wie den Arabischen Emiraten
eine mäßigenden Einfluss auf die sunnitischen Milizen in Syrien zu?
Wali: Die laizistische Opposition in Syrien hat sich zuletzt bei
Großdemonstrationen gezeigt. Aber da Assad und die Baath-Partei sich einen
laizistischen Anstrich gaben, hat sie es gegen die religiöse Propaganda
schwer. Am stärksten wären die Kurden. Aber sie werden von Erdoğan
militärisch in die Zange genommen. Vielleicht gab es auch Absprachen
zwischen der Türkei, Russland und Iran. Vor dem Sturz Assads saßen sie in
Doha alle zusammen.
taz: Zieht sich Russland aus der Region nun ganz zurück?
Wali: Libyen soll wohl Russlands neue Drehscheibe werden. Mit den dortigen
Islamisten hat Putin genau so wenig ein Problem wie mit Kadyrow in
Tschetschenien. Geschwächt sind vor allem Irans Mullahs. Aus dem Irak haben
sich viele ihrer Leute bereits nach Iran abgesetzt. Seit Damaskus gefallen
ist, trauen sich ihre Milizen dort nicht mehr, Israel mit Raketen und
Drohnen aus dem Irak anzugreifen. Es scheint ein [5][Dominoeffekt: erst
Hamas und Hisbollah, dann Assad, Irak und am Ende die Mullahs in Iran
selbst]. Der Ton in Bagdad ist jedenfalls schon ein ganz anderer. Das merke
ich auch persönlich.
taz: Woran?
Wali: Da ich als ein arabischer Schriftsteller Israel nicht boykottiere,
werde ich als „Normalisierer“ beschimpft. Jetzt bekomme ich plötzlich
freundliche Einladungen aus Bagdad und Artikelanfragen. Zuletzt galt ich
als Persona non grata, weil ich Israel ein Existenzrecht zugestehe und für
die Zweistaatenlösung bin. Die Stimmung ist auch dort gekippt.
taz: Hetze gegen USA, Israel und Juden wurden in Syrien über Jahrzehnte
systematisch betrieben. Könnte das nicht auch mit den al-Assads einfach
verschwinden?
Wali: Wenn es hier um Logik ginge, schon. Aber wir befinden uns im
arabischen Raum. Israel ist ein Thema für alle. Die Machthaber Ägyptens,
Jordaniens oder der Emirate haben formal Frieden mit Israel geschlossen.
Ihre Staatenlenker sind also „Normalisierer“, denn die Straße und die
Prediger sind weiter dagegen. Wie die meisten arabischen Intellektuellen
auch, selbst wenn sie Exil im europäischen Ausland finden. Das erlebe ich
immer wieder.
taz: Islamisten, Militärs und Autokraten sind oft Komplizen bei der
Unterdrückung von Minderheiten oder Meinungsfreiheit. Der PEN Deutschland
unterstützt den Aufruf zur Freilassung des laizistischen Schriftstellers
Boualem Sansal in Algerien. Das [6][Medienportal Perlentaucher und der
Börsenverein] des Deutschen Buchhandels haben ihn initiiert. Wie stark ist
die Unterstützung für Sansal?
Wali: Immerhin setzt sich Frankreichs Präsident Macron für Sansals
Freilassung ein. Sansal hat das algerische Regime schon lange
herausgefordert. Er setzt sich [7][in seinen Romanen kritisch mit der
Situation in Algerien] auseinander. 2003 wurde es aus dem Staatsdienst
entfernt. In Deutschland wurde er mit dem Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels 2011 ausgezeichnet. Er kritisiert die postkoloniale korrupte
Elite seines Landes, ebenso den politischen Islam. Zuletzt hatte er gegen
Algeriens Haltung gegenüber Marokko und der Westsahara-Frage polemisiert.
Als PEN Deutschland fordern wir seine unverzügliche Freilassung.
taz: Der PEN Deutschland existiert seit nun 100 Jahren. Zum Jubiläum
erscheint im Januar die Anthologie „25 Jahre Writers in Exile“ mit
Beiträgen von Barbaros Altuğ, Aslı Erdoğan, Volha Hapeyeva, Sergei Lebedew
oder Swetlana Alexijewitsch. Das größte Kapitel trägt den Titel „Beheimatet
im Exil“. Warum diese Überschrift?
Wali: Für viele wie mich liegt die Heimat eines Schriftstellers in seinem
Schreiben. Egal wo man lebt. Die besten Texte sind oft die, in denen man
sich frei machen konnte von dieser Exilsituation. Man hat seine neue
Heimat im Schreiben gefunden. Das sollte sich damit ausdrücken.
28 Dec 2024
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[5] /Geopolitik-nach-Assads-Sturz-in-Syrien/!6053988
[6] https://www.perlentaucher.de/intervention/herta-mueller-daniel-kehlmann-nav…
[7] /Algerischer-Schriftsteller-verschwunden/!6048221
## AUTOREN
Andreas Fanizadeh
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