# taz.de -- Architekten über Moderne in Syrien: „Das Werkzeug für eine poli… | |
> Mirma AlWareh und Ahmad Salah erforschen Bauten der Moderne in Syrien. | |
> Dabei stoßen sie auf das Kontrollsystem Assads – und die Grenzen von | |
> Wissen. | |
Bild: Wer kennt die brutalistische Pyramide von Architekt Bourhan Tayara? Das Z… | |
taz: Frau AlWareh, Herr Salah, während des Kriegs in Syrien sorgte man sich | |
hierzulande auch um die gefährdeten antiken Stätten in Ihrem Land, aber | |
kaum um eine Architektur der Moderne. Warum? | |
Ahmad Salah: Ein Land wie Syrien mit seiner antiken Geschichte ist ein | |
zweischneidiges Schwert. Man hat all diese jahrtausendealten Bauten, im | |
Vergleich dazu erscheint die moderne Architektur nebensächlich. Dass man | |
sich so wenig für sie interessiert, hat aber auch mit der zentralen | |
Stellung der europäischen und amerikanischen Moderne im Architekturdiskurs | |
zu tun. Obwohl man aufmerksamer für die verschiedenen lokalen Modernen | |
geworden ist – es gibt immer mehr Literatur über den Libanon oder Marokko | |
zum Beispiel –, scheint der Diskurs noch immer von einem gewissen | |
Orientalismus geprägt zu sein, als ob man im Osten nur die Antike und im | |
Westen die Moderne vorfände. | |
taz: Liegt es nicht eher an einem fehlenden Zugang zu Informationen, den | |
Sie ja jetzt erst mit Ihrem [1][Online-Archiv] auf eigene Initiative | |
beschaffen? | |
Mirma AlWareh: Ein Grund für ihre geringe Erforschung mag auch sein, dass | |
die syrische Architekturmoderne in einem anderen Kontext entstanden ist als | |
in Europa oder in den USA. Als diese Art des sachlichen Bauens Ende des 19. | |
Jahrhunderts in Syrien auftrat, war das Land noch Teil des Osmanischen | |
Reiches. Dann war es von 1920 an französisches Mandatsgebiet, 1946 wurde es | |
unabhängig. Architektur aus der Zeit des Mandats gilt als französisch, auch | |
wenn sie von syrischen Architekten entworfen wurde. Über diese frühen | |
Phasen versuchen wir mehr herauszufinden. Wie der Übergang hin zur | |
Modernität stattgefunden hat. Den sieht man etwa am Parlamentsgebäude in | |
Damaskus aus den 1930ern. Dass man heute noch nicht einmal die Namen der | |
beteiligten Architekten weiß, wäre in Europa wohl nicht passiert. | |
Salah: Es gibt von öffentlicher Seite in Syrien keine systematische | |
Dokumentation einer Architektur der Moderne. Zudem waren Forschung und | |
Vermittlung allgemein seit 1970, als die Baath-Partei und die Assads an die | |
Macht kamen, einem starken Druck ausgesetzt. Das wurde nach Kriegsausbruch | |
2011 noch schlimmer. | |
taz: Was wäre unter Assad das Risiko gewesen, über moderne Architektur zu | |
forschen? | |
Salah: Nur im Entferntesten zu kritisieren, was vom Regime gebaut wurde. | |
Nach 1970 entstanden viele öffentliche Bauten, Universitäten, etwa die von | |
Damaskus, Aleppo und in Homs, kommunale und nationale Regierungsgebäude. | |
taz: Gab es ein Rechercheverbot? | |
AlWareh: Nein. Aber alleine Fragen zu stellen, was ja zum Forschen | |
dazugehört, konnte als Bedrohung für die Regierung angesehen werden. Alle | |
Institutionen, die sich mit Architektur oder Ingenieurwesen befassten – | |
Universitäten, Gewerkschaften, Verbände – waren irgendwie an die | |
Baath-Partei gebunden, man kontrollierte sich gegenseitig. Das schuf eine | |
Struktur des Argwohns. Im Regime war es leicht, jemanden wegen irgendetwas | |
zu beschuldigen. Einige unserer Kollegen kamen ins Gefängnis wegen | |
einfacher Recherchen. Daher haben wir auch immer versucht, so diskret wie | |
möglich zu sein. | |
taz: War die Erforschung antiker Bauten sicherer, weil sie weit vor der | |
Zeit des Assad-Regimes entstanden? Und mag das der Grund sein, warum man | |
auch hierzulande mehr über die antiken Stätten Syriens weiß? | |
Salah: Es ist anders. Die Dokumentation des kulturellen Erbes wurde von | |
einigen wenigen Nichtregierungsorganisationen kontrolliert, die ganz offen | |
mit Assads Regierung zusammenarbeiteten. Das Regime hatte ein Interesse | |
[2][an den antiken Stätten, auch da sie den ausländischen Tourismus | |
anzogen]. | |
taz: Wie arbeiten Sie jetzt, zwei Monate nach Assads Flucht? | |
AlWareh: Wir Syrer befinden uns jetzt auf einem Weg der Erholung. Da dieses | |
umwälzende Ereignis erst kürzlich stattgefunden hat, ist es zu früh, um | |
seine Auswirkungen gänzlich zu beurteilen. Viele öffentliche Institutionen | |
arbeiten auf einem minimalen Level weiter. In Damaskus ist nun alles | |
leichter zugänglich. Es gibt etwa kaum Beschränkungen mehr beim | |
Fotografieren. Wir planen sogar, an öffentlichen Diskussionsveranstaltungen | |
teilzunehmen, das wäre noch vor zwei Monaten unvorstellbar gewesen. | |
taz: Wie konnten Sie die Arbeit an Ihrem Online-Architekturachiv 2023 unter | |
so schwierigen Bedingungen überhaupt beginnen? | |
Salah: Wir haben häufig Kontakt mit den Architekten oder ihren Familien | |
aufgenommen. Zum Beispiel mit der Tochter von Nizar Al-Farra, die uns | |
seinen künstlerischen Nachlass zur Verfügung gestellt hat. Nizar Al-Farra | |
ist 2020 gestorben. Ein Pionier. Er hat viel gebaut – Kinos im Damaskus der | |
1960er während des Booms der arabischen Filmindustrie, in den 1970ern | |
öffentliche Projekte wie einen Fakultätsbau an der Universität Damaskus. | |
taz: Wie sind Sie auf Bourhan Tayara gestoßen? Sein Zentrum für | |
Meeresforschung in Latakia aus den 1970er Jahren ist wirklich | |
beeindruckend, eine brutalistische Pyramide. | |
AlWareh: Die ungewöhnliche Gebäudeform ist auch funktional, die | |
angewinkelten Außenwände vermitteln Stabilität am stürmischen Meer. Bourhan | |
Tayara ist eine bedeutende Figur für die Moderne Syriens, wir konnten über | |
ihn auch viel in Architekturmagazinen finden, die eine weitere Quelle für | |
uns sind. Bis in den 1960er Jahren die erste Ingenieurschule in Syrien | |
gegründet wurde, studierten die meisten Architekten an einer École des | |
Beaux-Arts im Libanon oder in Frankreich. Tayara aber studierte in den USA, | |
arbeitete eine Zeit lang in Texas. Das merkt man seiner Architektur an. | |
Einer seiner wichtigsten Bauten war die Architekturhochschule in Damaskus. | |
Er kehrte kurz in die USA zurück, war dann auch in Saudi-Arabien und den | |
Emiraten tätig. | |
taz: Wo sind die Architektinnen? | |
AlWareh: Das fragen wir uns auch. Dass man in den frühen Phasen der Moderne | |
für eine Architektur- und Ingenieursausbildung ins Ausland gehen musste, | |
mag dazu beigetragen haben, dass Frauen zunächst nur in geringem Maße | |
beteiligt waren. Unter den ersten Absolventen der syrischen | |
Ingenieurhochschulen gab es aber viele Frauen. Dennoch haben wir die Werke | |
von Architektinnen in Syrien bislang nicht identifizieren können. Das | |
wollen wir noch tun. | |
taz: Was haben Architekten für Strategien entwickelt, um der Kontrolle des | |
Regimes zu entgehen? | |
Salah: Nizar Al-Farra bereitete manchmal zwei verschiedene Entwürfe für | |
Architekturwettbewerbe vor: einen, der den angegebenen Anforderungen | |
entsprach, und einen nach seinen eigenen architektonischen Vorstellungen, | |
um die Behörden zu überzeugen. In Zeiten des Einfuhrverbots war es auch | |
nützlich, gute Beziehungen zu Regierungsbeamten zu haben, um Baumaterialien | |
zu beziehen. Man sollte aber wissen, Architektur in Syrien nach 1970 wurde | |
nicht ausschließlich von Assads Regime diktiert. | |
taz: Eines der wenigen hier bekannten modernen Gebäude in Syrien wurde – | |
zumindest anfangs – [3][vom japanischen Pritzker-Preisträger Kenzō Tange] | |
entworfen: der Präsidentenpalast für Hafis al-Assad. War es ein Versuch | |
Assads, Syrien ein internationales Antlitz zu verschaffen? | |
AlWarah: Diese Frage können wir so nicht beantworten. Wir erforschen die | |
Arbeit von Architekten hier vor Ort. Aber wir können sagen, dass Tanges | |
Entwurf eine Ausnahme darstellt. Die Politik Hafis al-Assads war von einer | |
Annäherung an den Ostblock gekennzeichnet, und das spiegelte sich auch in | |
der Architektur wider. Viele Projekte aus dieser Zeit sind von Architekten | |
des kommunistischen Lagers geplant worden. Das betraf einzelne Gebäude, | |
aber auch den Städtebau und die Infrastruktur. | |
taz: Zur Geschichte der architektonischen Moderne zählen auch utopische | |
Entwürfe, die sich nicht realisieren lassen. Ihr Land ist im Umbruch, die | |
Zukunft ungewiss. Sind Sie eventuell auf visionäre Ideen gestoßen, die in | |
dieser Lage ein Vorbild sein könnten? | |
Salah: Der Architekt als Künstler, der persönliche Visionen und Ideologien | |
in seine Entwürfe einspeist, das entspricht doch einer westlichen | |
Auffassung von einer Moderne. Nach unseren Erkenntnissen war die moderne | |
Architektur Syriens stets an einen realen Kontext gebunden. Ohnehin kann | |
für uns, angesichts von Krieg und gewaltsamer Besatzung in Syrien, | |
Architektur nicht als utopische Kraft fungieren; vielmehr ist sie oft | |
bloßes Werkzeug für eine politische Agenda. | |
8 Feb 2025 | |
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## AUTOREN | |
Sophie Jung | |
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