Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Christopher Wimmers „Land der Utopie?“: Revolutionäre Romantik…
> Wie sieht es im syrischen Rojava im zehnten Revolutionsjahr aus?
> Christopher Wimmer ist hingereist und analysiert die Situation.
Bild: Kundgebung 2019 gegen den Einmarsch der Türkei in Rojava
„New World Summit – Rojava“. Der Name, den der niederländische Künstler
Jonas Staal 2015 einem Kunstprojekt gab, demonstriert, wie die umkämpfte
Region in Nordsyrien als Modell herhalten muss. Denn [1][Staals
flaggengeschmücktes Rundgebäude für ein Parlament von Rojava] beherbergte
im selben Jahr eine Konferenz von Delegierten aus aller Welt, die das
Modell einer staatenlosen Demokratie proklamierten.
Selbst der [2][Occupy-Aktivist David Graeber] stilisierte bei einem Besuch
Rojava 2015 zur „echten Revolution“ und dem Vorschein der nichtstaatlichen
Assoziation, deren prähistorische Ursprünge er in seinem und David Wengrows
Bestseller „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ (2022)
ausbreitete. „In Rojava wird er weiterleben“, schrieb die internationale
Öcalan-Initiative in einem Nachruf auf den 2020 verstorbenen Anthropologen.
Diese Funktion Rojavas als „Sehnsuchtsort“ und „Projektionsfläche“ im
internationalen Solidaritätsdiskurs sieht der Journalist Christoph Wimmer
kritisch. Dem von „revolutionärer Romantik“ umflorten Bild des Gebildes,
das sich 2012 in einem aufsehenerregenden Akt des Widerstands gegen das
Regime von Baschar al-Assad und den Terror des Islamischen Staates (IS) für
unabhängig erklärte, will er das einer „vielschichtigen“ Realität
entgegensetzen.
## 10 Jahre nach der Revolution
Zehn Jahre nach der „Rojava-Revolution“ reiste Wimmer nach Rojava, um
Bilanz zu ziehen. Wenn die Lektüre des Reports etwas klarmacht, dann, dass
das vielbeschworene Modell der Selbstverwaltung dort nur bedingt als
utopische Blaupause taugt. Das beginnt schon mit der „absurden
Parallelstruktur“ mit dem syrischen Staat, der trotz seines Rückzugs 2012
immer noch Gebiete im Norden besetzt hält, Schulen betreibt, das Monopol
auf Geldautomaten hält und Beamte bezahlt.
Die Türkei hat ein Wirtschaftsembargo gegen die Selbstverwaltung verhängt
und interveniert regelmäßig militärisch. Die Tausenden inhaftierten
IS-Gefangenen in Rojava ticken als menschliche Zeitbombe.
Bei seiner Rundreise, von Krankenhäusern über die Gerichte bis zu den
landwirtschaftlichen Kooperativen stellt Wimmer fest, dass sich in allen
Bereichen die „Räte“ gebildet haben, die die Grundsteine des
„demokratischen Konföderalismus“ abgeben (sollen), den Abdullah Öcalan, d…
seit 1999 inhaftierte PKK-Gründer, als Antwort auf das Problem erfand, dass
den Kurden auf der Konferenz von Lausanne 1923 nach dem Ersten Weltkrieg
kein eigener Staat zuerkannt wurde.
## Autonome Frauenräte
Deutlich wird das in den autonomen Frauenräten und -komitees. Sie haben ein
ganz eigenes System der geschlechtsspezifischen zivilen Konfliktlösung
etabliert. Die „Ermüdungserscheinungen“, die viele Verantwortliche Wimmer
bei dem Rätewesen eingestehen, sind aber durchaus symptomatisch.
Weil viele der Ehrenamtlichen sich aus der „Partei der Demokratischen Union
(PYD) und der „Bewegung für eine demokratische Gesellschaft“ (TEV-DEM)
rekrutieren, mutiert das basisdemokratische Ideal schleichend zu einer
Funktionär:innen-Demokratie. Die Fragen von Krieg und Frieden werden in
Rojava von der Spitze der Autonomen Selbstverwaltung und der Generalität
entschieden. Seit 2017, so bemängelt Wimmer, hätte keine demokratische
Kontrolle durch Wahlen mehr stattgefunden.
Wimmers Buch ist lesenswert, gerade weil es so spröde geschrieben ist,
wegen seiner lebensnahen Beobachtungen und weil er nichts glorifiziert.
Sein Fazit ist schwer von der Hand zu weisen: „Der schmale Grat zwischen
dem Funktionieren als De-facto-Souverän mit Merkmalen eines Staates, bei
gleichzeitig mangelnder Legitimierung und dem selbstgesteckten Ziel, eine
Demokratie ‚von unten‘ zu sein, macht die Ambivalenzen und Widersprüche von
Nord- und Ostsyrien als umkämpften, politischen Raum am deutlichsten“.
Trotzdem bleibt es ein kleines Wunder, dass in einem Gebiet, das derart von
den Narben des Kolonialismus, Militarismus, des religiösen Fanatismus und
des Patriarchats durchzogen ist, wenigstens versucht wird, „eine
multiethnische Gesellschaft aufzubauen, die politische Dezentralisierung,
die Rechte der Frauen, Bildung sowie Toleranz in religiösen Fragen
fördert“.
Auch wenn mit Rojava der historische Moment, in dem „der Staat
bedeutungslos wird“, wie es das PYD-Programm formuliert, lange noch nicht
erreicht ist. Allein dieser Versuch ist Jonas Staals Rundbau wert.
26 Sep 2023
## LINKS
[1] /Aktionismus-zwischen-Kunst-und-Politik/!5019637
[2] /Kolumne-Leuchten-der-Menschheit/!5024305
## AUTOREN
Ingo Arend
## TAGS
Revolution
Schwerpunkt Syrien
„Islamischer Staat“ (IS)
Baschar al-Assad
Rojava
wochentaz
Politisches Buch
wochentaz
Türkei
Türkei
Feminismus
Rojava
Kurdendossier
## ARTIKEL ZUM THEMA
Architekten über Moderne in Syrien: „Das Werkzeug für eine politische Agend…
Mirma AlWareh und Ahmad Salah erforschen Bauten der Moderne in Syrien.
Dabei stoßen sie auf das Kontrollsystem Assads – und die Grenzen von
Wissen.
Pro-kurdische Aktivisten in Haft: Türkei setzt Delegation fest
Mehrere ausländische Aktivisten, darunter drei aus Göttingen, waren am
Donnerstag in der Türkei festgenommen worden. Nun wurden sie abgeschoben.
Nach dem Anschlag in Ankara: In der Wiederholungsschleife
Nach Jahren kocht die gewaltsame Konfrontation zwischen PKK und AKP-Staat
wieder hoch. Dabei sind Kurden wie Türken dieser Kämpfe müde.
Politikwissenschaftlerin über Iran: „Feminismus verbindet“
Werden die jüngsten Proteste Iran nachhaltig prägen? Ja, sagt Expertin
Dastan Jasim. Ein Beispiel in der Region seien die kurdischen Gebiete in
Syrien.
Aktivist über Revolution in Rojava: „Das Erreichte ist in Gefahr“
Seit zehn Jahren besteht in Nordsyrien das demokratische Projekt Rojava.
Felix Anton hat drei Jahre dort gelebt.
Pro & Contra Deutsche Linke und Kurden: Rojava – eine realisierte Utopie?
Das kurdische Rojava ist für viele deutsche Linke ein Ort gelungener
Revolution. Ist es das zu Recht – oder eine Projektionsfläche?
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.