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# taz.de -- Grünen-Politiker Sven-Christian Kindler: Ein letztes Mal
> 16 Jahre lang kämpfte Sven-Christian Kindler für eine Reform der
> Schuldenbremse. Jetzt musste er nochmal ran – für den Kompromiss mit
> Union und SPD.
Sein Zug aus Hannover ist fast pünktlich, trotz Schuldenbremse. Es ist
Donnerstagmorgen, und noch ist Deutschland ein Land mit sehr wenig Schulden
und sehr kaputten Schienen, als Sven-Christian Kindler aus dem ICE am
Berliner Hauptbahnhof springt und rüber zum Bundestag läuft. Er läuft
schnell und wird im Laufe des Tages immer schneller werden.
Seit 16 Jahren sitzt Kindler im Bundestag, er ist für die Grünen für
Haushaltspolitik zuständig. Seitdem kämpft er für eine Reform der
Schuldenbremse, bis zum Wahltag weitgehend erfolglos. Nun hört Kindler auf,
er will mehr Zeit mit den Kindern verbringen. In einem [1][Interview mit
der taz] sagte er: „Gleichberechtigte Elternschaft und ein Job in der
Spitzenpolitik sind nicht vereinbar.“ Der Großteil der Sorgearbeit liege
bei seiner Frau, „und das ist nicht gerecht.“
Kindler hat seine Abschiedsparty gefeiert, mit Mitarbeitern aus all den
Jahren, bis morgens um drei. Er hat sein Büro ausgeräumt, die Wände sind
nackt, nur noch wenige Ordner stehen im Regal. „Schon schön hier“, sagt
Kindler, als er an der Spree entlang Richtung Bundestag läuft. Er freue
sich darauf, privat in der Stadt zu sein, ohne Stress. „Gerade bin ich hier
ja auf Montage“.
Aber das Privatleben muss noch warten. Ausgerechnet jetzt, drei Wochen nach
der Wahl, erlebt Kindler die vielleicht wichtigsten Tage seiner politischen
Karriere.
## Er wird gebraucht
Union und SPD [2][brauchen Geld für ihre mögliche Koalition]. Mit den
Stimmen des alten Bundestags wollen sie beschließen, wofür es im neuen
womöglich keine ausreichende Mehrheit gibt. Sie wollen ein Sondervermögen
für Investitionen und die Schuldenbremse für Verteidigungsausgaben
aussetzen. Verfassungsrechtlich ist das heikel, finanzpolitisch umstritten.
Deswegen wird Kindler jetzt nochmal gebraucht. Er ist Haushaltsexperte,
davon haben die Grünen nicht allzu viele. Er berät seine Fraktionsspitze
bei den Verhandlungen mit SPD und Union. Anfang der Woche [3][haben sie
Nein gesagt zu den Plänen von Schwarz-Rot]. Dabei ist ihnen klar: Scheitern
ist nicht erlaubt. SPD und Union können immer mit der Weltlage, mit Trump
und Putin winken. Aber die Grünen wollen auch nicht mehr zu allem Ja und
Amen sagen.
Die Partei steht in diesen Tagen vor einem Dilemma.
Kindler hat an dem Gegenvorschlag mitgearbeitet: Mit dem alten Bundestag
wollen die Grünen eine Ausnahme für Verteidigungsausgaben beschließen. Der
neue Bundestag soll dann Investitionen möglich machen, mit den Stimmen der
Linken. Ob die Grünen hart bleiben oder sich mit Union und SPD einigen,
hängt auch von Kindler ab.
Wenn man Sven-Christian Kindler durch diesen Tag begleitet, immer
schnelleren Schrittes durch die Katakomben des Bundestags, von seinem Büro
zur Fraktionssitzung ins Plenum und weiter in den Haushaltsausschuss,
versteht man, warum er diesen Beruf aufgibt. Ständig klingelt sein Handy.
Eine Grünen-Mitarbeiterin aus der Verhandlungsgruppe braucht seinen Rat:
„Ja, das muss aus dem Haushalt gezahlt werden“, sagt er und legt schon
wieder auf. Wie könnten die Grünen mehr Investitionen für Klimapolitik
erreichen? Kindler schreibt SMS an die Fraktionschefinnen Britta Haßelmann
und Katharina Dröge.
Inhaltlich verrät er nichts aus den Verhandlungen mit Union und SPD, auch
nicht vertraulich. Aber Atmosphärisches erzählt er: „Da ist viel
Männlichkeit im Raum“, sagt er mit Blick auf Söder, Merz, aber auch
Klingbeil.
Kindler sitzt seit 2009 im Bundestag, da war er gerade 24 Jahre alt. Er
kam, kurz nachdem die Schuldenbremse beschlossen worden war. Vorher war er
Controller bei Bosch. Bei den Grünen setzt er sich für eine keynesianische
Wirtschaftspolitik ein, für mehr Investitionen. Lange gegen den Zeitgeist
und gegen Widerstand in der Partei. Im Wahlprogramm 2021 fordern die Grünen
dann eine Reform der Schuldenbremse, aber in der Koalition mit der FDP ist
da nichts zu machen.
2020 habe er beschlossen, nach dieser Legislatur aufzuhören. „Ich muss mal
runterkommen, den Stress aus meinem Körper kriegen“, sagt er. Der Betrieb
sei „crazy“.
Doch nach der Wahl musste Kindler seiner Familie erklären, dass er noch ein
letztes Mal ran muss: Noch einmal lange Tage und kurze Nächte, ständig
unter Strom. Wie hat sie reagiert? Kindler zögert. „Ich bin jetzt mehr weg,
als ich wollte.“ Die Arbeit sei gerade völlig entgrenzt. „Aber es ist
absehbar. Bald ist es wirklich vorbei.“
Noch eine Stunde bis zur Debatte im Plenum. Die Grünen strömen aus dem
Fraktionssaal, Haßelmann und Dröge geben der Presse ein Statement. Sie
wollen hart bleiben. Kindler stürmt vorbei. „Ich hab’ neue Aufträge
bekommen, es ist alles zu viel“, sagt er. Kindler muss neue Vorschläge für
die grünen Verhandler erarbeiten. Das Verfahren sei eine „völlige
Zumutung“. In Windeseile muss man sich einigen, auf das womöglich
folgenreichste Gesetz seit langem. Die Einführung der Schuldenbremse hat
drei Jahre gedauert. Und jetzt soll eine grundlegende Neuausrichtung der
deutschen Politik innerhalb weniger Tage beschlossen werden?
Kindler erzählt von Angeboten, die man der Union gemacht hat im vergangenen
Jahr. Alle abgelehnt, bis zum Dienstag nach der Wahl. „Merz hat die Wähler
verarscht“, sagt Kindler.
Wenn Schwarz-Rot von den Grünen bekommt, was sie wollen, werden die Grünen
nicht mehr gebraucht. Eine echte Reform der Schuldenbremse, für dauerhafte
Investitionen ohne Sondervermögen, wird es dann wohl niemals geben. Könnte
es sein, dass ausgerechnet Kindler da gerade an einem Deal arbeitet, der
die Schuldenbremse in neuer Form zementiert?
Er wiegt den Kopf. „Die Gefahr besteht“, sagt er, „deswegen muss ich jetzt
kämpfen.“ Er könne sich nicht verweigern, weil er das Verfahren falsch
finde, dafür ginge es um zu viel. Um zu viele Milliarden. Um Sicherheit und
Klimaschutz. Die Grünen wollen einen Kompromiss, das wird deutlich. Und das
schwächt ihre Verhandlungsposition.
Die Grünen verhandeln so hart, wie es sich manche in der Ampel von ihnen
gewünscht hätten. Sie balancieren zwischen Regierungspartei und Opposition.
Sie klingen entschiedener als vor ein paar Wochen. Selbst Unionsabgeordnete
auf den Fluren des Bundestags raunen sich zu: Das kann noch schiefgehen.
Eine reine Oppositionspartei wollen die Grünen aber auch nicht werden. „Das
habe ich lange genug gemacht“, sagt Kindler.
In der Bundestagsdebatte [4][überrascht Friedrich Merz die Grünen dann mit
einem neuen Vorschlag]. Kindler sitzt in der dritten Reihe, direkt hinter
den Fraktions- und Parteichefs, als Merz ans Rednerpult tritt. „Wir hatten
außerordentlich gute Gespräche“, sagt er Richtung Grüne, zahm wie ein
Kätzchen. Auf offener Bühne geht er auf sie zu – und setzt sie unter Druck.
Aus dem Sondervermögen sollen 50 Milliarden in den Klimaschutz fließen.
Dann wechselt Merz den Tonfall: „Was wollen Sie denn noch?“, ruft er den
Grünen zu. Kindler schlägt die Hände vorm Gesicht zusammen. Es ist auch
dieser Ton, der eine Einigung schwer macht.
Während die Debatte weiterläuft, geht Kindler vor die Tür. Er wusste, dass
die Union ein neues Angebot unterbreiten würde. Die Zahl war aber neu für
ihn. „Das kann ich nicht ernst nehmen.“ Die 50 Milliarden sind nicht
zusätzlich zum Sondervermögen geplant, sondern sollen abgezogen werden. Auf
12 Jahre verteilt sind sie ein Bruchteil von dem, was gebraucht wird für
Investitionen in den Klimaschutz. Der Expertenrat der Bundesregierung geht
von jährlich 85 Milliarden aus, wobei das auch Investitionen etwa in die
Bahn umfasst. Allein die Aufstockung der Mütterrente würde jährlich ähnlich
viel kosten wie das, was Merz den Grünen anbietet.
Ein weiterer Knackpunkt: Die Grünen fordern, dass das Sondervermögen für
zusätzliche Investitionen ausgegeben wird, nicht für ohnehin geplante. Das
steht nicht im Vorschlag von SPD und Union, obwohl sie es in ihren Reden
beteuern. „Sorry, das ist handwerklich einfach schlecht“, sagt Kindler.
Ist ein Scheitern noch möglich? Ja, sagt Kindler später, auf dem Weg in den
Haushaltsausschuss. In den Ausschuss haben die Abgeordneten Ökonomen und
Expertinnen eingeladen, um den Gesetzentwurf zu beraten. Es ist 16 Uhr,
Kindler hat bis auf eine Banane nichts gegessen. Überm Bundestag geht die
Sonne unter. Am Abend trifft Kindler einen alten Freund in einer Kneipe,
wirft Pfeile auf eine schwarz-rote Dartscheibe. Dann fährt er zurück in den
Bundestag, zu einem Treffen mit den Haushaltsexperten von SPD und Union.
Sein Tag endet morgens um ein Uhr, 19 Stunden nachdem er in Hannover in den
Zug gestiegen ist.
Kurz vor Redaktionsschluss am Freitag ruft Kindler an: „Es riecht nach
Einigung.“ Am Mittag soll er in Merz’ Büro, letzte Details klären. Dann d…
Einigung: Schwarz-Rot ist auf die Grünen zugegangen. 100 Milliarden Euro
aus dem Sondervermögen fließen in den Klimaschutz, außerdem müssen
Investitionen nun tatsächlich „zusätzlich“ sein. „Es ist ein vertretbar…
Kompromiss“, sagt Kindler. „Wir haben teure Wahlgeschenke von Schwarz-Rot
verhindert, Klimaschutz verankert und den Sicherheitsbegriff erweitert. Die
strukturelle Reform der Schuldenbremse für Investitionen haben wir jetzt
nicht geschafft. Das bleibt als Aufgabe weiterhin bestehen.“
In seinem Abschiedsinterview hatte Kindler der taz gesagt, sein großes
Ziel, die Reform der Schuldenbremse, müsse der neue Bundestag beschließen,
ohne ihn. Nun kommt es anders, und Kindler wird kommende Woche seine
allerletzte Rede im Bundestag halten. Die Fraktionsspitze hatte ihm
angeboten, schon an diesem Donnerstag zu reden, aber er wollte bis zum
Finale warten.
14 Mar 2025
## LINKS
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[4] /Sondierungen-von-Union-und-SPD/!6071849
## AUTOREN
Kersten Augustin
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