| # taz.de -- Wahlerfolg der Linken: Das rote Berlin | |
| > Überraschend hat die Linke in Berlin die Bundestagswahl gewonnen. Sie | |
| > positioniert sich als Bollwerk gegen den Rechtsruck – und als | |
| > Kümmererpartei. | |
| Bild: Umjubelter Sieger: Ferat Kocak | |
| Berlin taz | Weit nach Mitternacht auf der Afterparty der Linken im Arena | |
| Club reißt Spitzenkandidatin Heidi Reichinnek beim Tanzen die Arme in die | |
| Luft und singt mit zu Destiny’s Child Klassiker: „I’m a survivor“. Als | |
| Überlebende können sich die Linken nach dieser Bundestagswahl allemal | |
| fühlen. Die Partei durchzieht aber mehr als Erleichterung – wo auch immer | |
| man hinschaut, egal mit wem man spricht: Die Stimmung ist geradezu | |
| euphorisch. Mitten im gesellschaftlichen Rechtsruck haben die Linken das | |
| Gefühl, gesiegt zu haben. | |
| In Berlin haben sie das tatsächlich. [1][Mit 19,9 Prozent der Zweitstimmen | |
| ist die Partei stärkste Kraft geworden] – zum ersten Mal überhaupt. Es ist | |
| eine Zäsur für die Stadt und für die Partei, deren Vorläufer PDS zwar lange | |
| den Ostteil dominierte, aber im Westen nur vereinzelte Hochburgen hatte. 35 | |
| Jahre nach der Wiedervereinigung ist diese Grenze gefallen: Mit Neukölln | |
| hat die Linke den ersten alten West-Wahlkreis ihrer Geschichte erobert – | |
| bundesweit. Es ist ein Ereignis von historischer Dimension – auf einer | |
| Stufe mit dem 2002 erstmals durch Hans-Christian Ströbele gewonnenen | |
| Direktmandat für die Grünen in Friedrichshain-Kreuzberg. | |
| Dass der Linke Pascal Meiser nun auch diese Grünen-Bastion für die Linke | |
| eroberte, ist ebenso ein Zeichen für eine fundamentale Links-Verschiebung – | |
| zumindest innerhalb des Mitte-links-Spektrums. Dass Grüne und SPD in der | |
| Bundesregierung und im Wahlkampf nicht das Bollwerk gegen den Rechtsschwenk | |
| waren, dass beide einen Diskurs, der Migration vor allem als Problem sieht, | |
| zum Teil mit befeuert haben, all das hat der Linken Räume geöffnet. | |
| Vor allem viele sich als links verstehende ehemalige Grünen-Wähler:innen | |
| wurden so zur Linken getrieben. Die SPD, von der kaum noch einer weiß, | |
| wofür sie steht, ist in Berlin gar auf den fünften Platz abgerutscht, noch | |
| hinter der AfD. Deren Aufstieg hat die Linke wohl mit abgebremst. Nirgends | |
| in der Bundesrepublik fiel ihr Zuwachs geringer aus als in Berlin. | |
| ## Comeback nach der Krise | |
| Noch vor drei Monaten wäre all das unvorstellbar gewesen. Zur Erinnerung: | |
| [2][Mit Klaus Lederer hatte der mit Abstand prominenteste Berliner | |
| Landespolitiker die Partei mit Schimpf und Schande verlassen], mit ihm eine | |
| Handvoll weiterer Altgedienter. Die Partei, zusätzlich geschwächt durch die | |
| Abspaltung des Wagenknecht-Flügels, lag am Boden. In einer Umfrage zur | |
| Abgeordnetenhauswahl im November gaben noch fünf Prozent der befragten | |
| Berliner:innen an, die Linke wählen zu wollen. Das Überleben der Partei | |
| auch in ihrer Hochburg Berlin schien alles andere als sicher. Man könnte | |
| auch sagen: Sie war fast klinisch tot. | |
| Ihre Wiederauferstehung lässt sich derweil nicht nur vor dem Hintergrund | |
| der bundespolitischen Rahmenbedingungen eines Migrationswahlkampfes samt | |
| Merz’schem Dammbruch verstehen – sie ist auch das Ergebnis eines | |
| Wahlkampfes, in dem die Partei sehr viel richtig machte. Die Fokussierung | |
| auf soziale Themen – Mieten, Preise, Umverteilung – verschaffte ihr | |
| Kenntlichkeit und ließ keinen Raum für innerparteilichen Streit, für den es | |
| durch die Abgänge ohnehin weniger Potenzial gibt. Sie arbeitete erfolgreich | |
| an ihrem Image als Kümmererpartei, bot Sozialsprechstunden, Mieten- und | |
| Heizkostenrechner an. | |
| Dazu schüttelte sie ihr altbackenes Image durch einen Onlinewahlkampf auf | |
| der Höhe der Zeit ab. Spitzenkandidatin Reichinnek legte reichweitenstark | |
| vor, viele andere zogen erfolgreich nach. So beantwortete auch Gregor Gysi, | |
| der in Treptow-Köpenick mit mehr als 40 Prozent bereits sein neuntes | |
| Direktmandat in Folge gewann, in Tiktok-Videos Fragen zu seiner Hautpflege | |
| oder scherzte mit DJ-Gysi, einem Vermummten, der Gysi-Redeschnipsel mit | |
| elektronischer Musik vertont. Gysi sagte dazu am Montag: „Ich weiß, dass | |
| ich jetzt ein Meister bei Titok bin, ich weiß aber nicht, was ich da | |
| mache.“ | |
| Für einen Sieg bei der U18-Wahl hatte das für die Linke schon zuvor | |
| gereicht – und nun also auch bei den Großen. Vor allem junge Menschen | |
| rannten der Linken zuletzt die Bude ein. Allein in Berlin hat sich die | |
| Mitgliederzahl seit Jahresbeginn von mehr als 7.000 Menschen auf aktuell | |
| 12.700 erhöht, bundesweit sind Zehntausende in die Partei geströmt. | |
| ## Intensiver Haustürwahlkampf | |
| Doch die Basis für die Siege in Neukölln oder auch in Lichtenberg, wo | |
| Parteichefin Ines Schwerdtner die AfD-Adlige Beatrix von Storch | |
| demontierte, war ein Haustürwahlkampf, den es in dieser Form noch nicht | |
| gegeben hat. [3][In Neukölln klopften 2.000 Freiwillige aus dem ganzen Land | |
| an zwei Drittel aller Türen] dort – am Ende gab es kaum jemand, der Koçak | |
| nicht kannte. Der frisch Gewählte erzählt am Rande auf seiner Wahlparty, | |
| wie er im Wahlkampf von einer Klasse von Grundschulkindern umringt wurde, | |
| die ihn erkannt hatten und Autogramme wollten. 17 Prozent mehr Erststimmen | |
| und stärkste Partei nach den Zweitstimmen ist das Ergebnis eines | |
| regelrechten Hypes, in denen sich die Neuköllner Wahlkämpfer:innen | |
| hineinsteigerten. Zu erleben auch auf der Wahlparty der Linken Neukölln, | |
| für die es nach 800 Anmeldungen schon vorher keine Tickets mehr gab. Später | |
| sangen alle kollektiv „Bella Ciao“. | |
| Auch in Lichtenberg gelang es Schwerdtner mit vielen | |
| Unterstützer:innen an jede zweite Tür zu klopfen. Bundesweit waren es | |
| 630.000 Haustürgespräche, bilanzierte sie am Montag – etwa die Hälfte | |
| dürfte auf das Konto der Berliner gehen. Mit dem „massiven | |
| Wahlkampfeinsatz“ habe man zu ihrer „besonderen Freude Beatrix von Storch | |
| vom Hof gejagt“, so Schwerdtner. Dass Lichtenberg gehalten wurde, wo PDS | |
| und Linke bisher stets das Direktmandat gewannen, hat für die Partei einen | |
| besonderen Wert. | |
| Am Tag nach der Wahl auf der Pressekonferenz der Berliner Linken gibt es | |
| Blumen für die vier Wahlkreissiger:innnen, aber auch für Katalin | |
| Gennburg und Stella Merendino, die über die Landesliste in den Bundestag | |
| einziehen. | |
| Gennburg war bislang Aktivposten ihrer Partei im Abgeordnetenhaus, | |
| verfehlte aber das Direktmandat in Marzahn-Hellersdorf, wo die AfD siegte. | |
| Merendino ist Krankenpflegerin, am Dienstag hätte sie „eigentlich | |
| Frühdienst“, nun müsse sie ihrem Chef beibringen, dass da aber schon | |
| Fraktionssitzung ist, sagte sie auf der Pressekonferenz am Montag. An einem | |
| Sensationssieg in Mitte war Merendino nur hauchdünn vorbeigeschrammt – | |
| „völlig verrückt“, wie sie befand. | |
| ## Zeichen für Berlin? | |
| Der Landesvorsitzende Maximilian Schirmer interpretierte das | |
| Bundestagsergebnis auch als Schlappe für die Regierenden auf Landesebene: | |
| „Der schwarz-rote Senat ist mit seiner Politik des sozialen Kahlschlags | |
| abgestraft worden.“ Mit seiner Kürzungspolitik habe er „die Stadt gegen | |
| sich aufgebracht“. | |
| Und schon werden der gerade noch taumelnden Linken Fragen nach einem | |
| möglichen Wahlsieg bei der Abgeordnetenhauswahl gestellt, die bereits im | |
| nächsten Jahr wieder ansteht. Die Partei sei „bestens vorbereitet“, befand | |
| Schirmer; stecke bereits mitten in der Arbeit für eine linke | |
| Zukunftsvision. Womöglich heißt die ja auch in Berlin dann wieder | |
| Rot-Rot-Grün – in welcher Reihenfolge auch immer. Am Sonntag stimmten 51,8 | |
| Prozent für die drei Parteien. Berlin bleibt eben doch eine linke Stadt. | |
| 24 Feb 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Erik Peter | |
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