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# taz.de -- Einseitiger Wahlkampf: Es reicht vorne und hinten nicht
> In diesem Wahlkampf geht es vor allem um Migration. Probleme wie
> Kinderarmut oder Wohnungsnot gehen unter. Wo bleiben Maßnahmen gegen
> soziale Verwahrlosung?
Bild: Hier könnte Ihre Werbung stehen – leere Plakatwände in Hannover. Wo b…
Es reicht, es reicht, es reicht. Wie viel eigentlich noch? Kinderarmut,
Altersarmut, Wohnungsnot. Was kommt vielleicht als Nächstes? Das sind alles
keine Zufälle, sondern die Folge einer Kette einer falschen jahrelangen
Sozialpolitik.
Diese Sätze kommen Ihnen möglicherweise bekannt vor. Das liegt daran, dass
sie der bayerische Ministerpräsident Markus [1][Söder mit etwas anderem
Inhalt] nach der Gewalttat von Aschaffenburg, bei der ein Mann aus
Afghanistan ein Kind und einen Mann getötet hatte, vorgetragen hat.
Wie viele andere vor und nach ihm hat der CSU-Politiker damit eine direkte,
kausale Verbindung zwischen Gewalttaten und der Einwanderung von Menschen
hergestellt. Dabei ist dieser behauptete [2][Zusammenhang ungefähr so
stichhaltig] wie die verschwörungsgläubige Verbindung zwischen der
Coronapandemie und dem herbeifantasierten Versuch dunkler Mächte, die
Weltherrschaft an sich zu reißen. Zum Glück hat es dieses Geschwurbel nicht
in den Mainstream geschafft.
Mainstream geworden ist dagegen, wie sich zuletzt eindrucksvoll im
Bundestag und in deutschen Talkshows beobachten ließ, eine andere extrem
rechte Verschwörungstheorie: die Erzählung vom großen Austausch. Diese
stilisiert die vermeintlich unkontrollierte Einwanderung zum großen
existenziellen Problem und zur alles entscheidenden Identitätsfrage
westlicher Gesellschaften hoch.
## Selbstbewusst eigene Themen setzen
Bis vor wenigen Jahren verbreiteten peinliche Nazi-Hipster diese Fantasie
noch auf Youtube. Heute bestimmt sie den deutschen Wahlkampf. Der Begriff
Zustrombegrenzungsgesetz, wie die Union ihren Entwurf genannt hat, könnte
aus der Feder von Martin Sellner stammen.
Dabei gibt es so viele echte Probleme in diesem Land. Die
Politiker:innen und Parteien, die das fiese Spiel der AfD und Union
nicht mitspielen wollen, könnten diese existenziellen, alles entscheidenden
Probleme aufgreifen und einen selbstbewussten eigenen Wahlkampf kämpfen –
statt sich die Themen von Rechtsaußen vorgeben zu lassen. Sie sollten doch
spätestens in der letzten Woche bemerkt haben, dass nur die Rechten
gewinnen, wenn man den Rechten hinterherläuft.
Zu den echten Problemen dieses Landes gehört, dass man Geld in die Hand
nehmen muss, wenn man Migration menschenwürdig gestalten will: nicht nur
für die Unterbringung, sondern auch die psychologische Betreuung der
Menschen, die zu uns kommen, und die wir auch brauchen, wollen wir als
demografisch herausgeforderte Gesellschaft funktionsfähig bleiben.
## Kein Essen, kein Geld, keine Wohnung
Zu den echten Problemen des Landes gehört aber auch die um sich greifende
soziale Verwahrlosung, die in einem so reichen Land wie Deutschland ein
besonders großer Skandal ist.
Da sind die Eltern, die sich keine gesunde Ernährung für ihre Kinder
leisten können. Fast jedes zehnte Elternteil spart an gesunden und oft
teuren Produkten, wie eine [3][aktuelle Forsa-Umfrage] im Auftrag der NGO
Save the Children zeigt. Und das sind nur diejenigen Eltern, die die Scham
überwunden und es zugegeben haben.
[4][Jedes siebte Kind] in Deutschland war 2023 armutsgefährdet, kann man
beim Statistische Bundesamt nachlesen. Laut der [5][neusten Zahlen dieses
Bundesamts] waren 2024 weiterhin ein Fünftel der Gesamtbevölkerung von
Armut und sozialer Ausgrenzung bedroht.
Da sind die 3,5 Millionen Menschen über 65 Jahren, die im vergangenen Jahr
von Altersarmut bedroht waren, wie ebenso aus [6][Zahlen des Statistischen
Bundesamts] hervorgeht. Damit hat diese Zahl einen Rekordwert erreicht.
## Ständig „Brandmauer“ zu sagen, reicht nicht
Da ist die grassierende Wohnungsnot, vielleicht die größte soziale Frage
unserer Zeit. Fast täglich gibt es neue Meldungen über die steigende Not
bei diesem menschlichen Grundbedürfnis. In Deutschland [7][fehlen aktuell
550.000 Wohnungen] und niemand hat einen Plan, wie die gebaut werden sollen
– so lautet eine Analyse, die im Auftrag des Bündnisses Soziales Wohnen
erfolgt und am Mittwoch veröffentlicht worden ist. Dabei hat die scheidende
Bundesregierung nicht einmal die 400.000 neuen Wohnungen pro Jahr
geschafft, die sie sich vorgenommen hatte.
Um es noch einmal mit Markus Söder zu sagen: Ja, es reicht – denn es reicht
vorne und hinten nicht.
Sich jetzt auf Union-Bashing zu beschränken und in Dauerschleife das Wort
Brandmauer zu wiederholen, ist deshalb zu wenig. Eines haben die letzten
Wochen wieder gezeigt: Was das wichtigste Wahlkampfthema ist, das bestimmen
Politiker:innen und Interessensgruppen, die Themen setzen,
Journalist:innen, die mit jenen über diese Themen sprechen, und die vielen
Menschen, die diese Interviews hören und lesen und das so gesetzte Thema
dann in Umfragen als sehr wichtig befinden.
Dass eine Mehrheit der Deutschen [8][laut Umfragen] den AfD-gestützten
migrationspolitischen Vorstoß der Union richtig findet, dass das Thema
Migration [9][laut Umfragen] das wichtigste Wahlkampfthema ist, das ist
keine naturgegebene Notwendigkeit. Das ist ein vorläufiger Sieg der
rechtsextremen Menschenfeinde und ihrer Mitläufer. Aber bis zur
Bundestagswahl sind es ja noch ganze zweieinhalb Wochen.
5 Feb 2025
## LINKS
[1] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/aschaffenburg-markus-soeder-drae…
[2] /Konservative-Anti-Migrations-Plaene/!6063398
[3] https://www.spiegel.de/wirtschaft/service/kinderarmut-viele-eltern-sparen-a…
[4] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/07/PD24_N033_63.h…
[5] https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2025/01/PD25_036_63.ht…
[6] https://www.zeit.de/gesellschaft/2025-02/altersarmut-rente-deutschland-mehr…
[7] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/deutschland/studie-wohnungsnot-buend…
[8] https://www.spiegel.de/politik/deutschland/cdu-csu-und-afd-mehrheit-der-deu…
[9] https://www.sueddeutsche.de/politik/bundestagswahl-umfrage-themen-migration…
## AUTOREN
Volkan Ağar
## TAGS
Soziale Gerechtigkeit
Wahlkampf
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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