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# taz.de -- Pragmatismus in der Krise: Fatalismus ist keine Option
> Wir klagten schon, dass alles schlimmer werde, als noch vieles besser
> wurde. Jetzt, da vieles tatsächlich auf dem Spiel steht, ist es Zeit für
> einen Aufbruch des Pragmatismus.
Das Angenehme an der adornitischen Kultur von unsereins war, dass man –
Moderne hin oder her – leider nichts Richtiges machen kann im grundsätzlich
Falschen. Und trotzdem lustig leben kann mit dem billigen US-amerikanischen
Schutz, dem billigen russischen Gas, dem Exportweltmeistertum. So heulten
wir in den vergangenen Jahrzehnten munter, dass alles immer schlimmer
werde, während vieles immer besser wurde.
Vor allem war vielen nicht bewusst, dass die EU den Nationalismus gebändigt
und die Demokratie auch in Mittel- und Osteuropa gefestigt hatte.
Beispielsweise spricht niemand von der Rechtsstaatlichkeit und Stabilität
der baltischen Länder, Ungarn fällt deshalb so aus dem Rahmen, weil es
„normal“ geworden ist, dass demokratische Standards gelten, oder, wie in
Polen, wiederhergestellt werden können.
Nun stellt sich die Frage: Was machen wir jetzt, da wirklich vieles
schlechter zu werden droht, die genannten Grundlagen wegfallen, die
Erderhitzung auf drei Grad zusteuert und die Krisen sich kumulieren? Das
Übliche: ein bisschen demonstrieren, lauter klagen, wie schlimm alles ist,
lauter heulen als nach Trumps erster Wahl oder aber die Augen schließen aus
Fatalismus oder Wut? Ganz verzweifeln?
Die in Polen lebende Publizistin Anne Applebaum hat etwas gesagt, das ich
gern ein paar Jahre früher verstanden hätte: „Sie und ich gehören zu den
privilegiertesten Menschen auf dem Planeten. Wir haben nicht nur das Recht
auf freie Meinungsäußerung, wir können es auch ausüben, wir können
politisch engagierte Bürger sein. Es ist absurd, wenn Leute wie wir darüber
nachdenken, zu verzweifeln oder aufzugeben.“
Das ist die Grundlage und letztlich der Segen und Fluch der Aufklärung.
Gott ist tot, der König ohne Kopf, Adorno – no offense – hat es nicht ins
21. Jahrhundert geschafft: Freie Bürger können ihre Zukunft selbst in die
Hand nehmen und gestalten, aber sie müssen es jetzt auch anpacken, wenn sie
frei bleiben wollen. Ob das tatsächlich noch funktioniert, weiß man nicht,
aber wenn man es nicht versucht, klappt es ganz sicher nicht. Jetzt ist
Crunchtime, die alles entscheidende Phase, in der sich herausstellt, ob man
gewinnt oder verliert.
## „Wir“ schaffen „das“
Schön und gut, aber wie soll das gehen, wenn man auf bestimmte Dinge selbst
als Nationalstaat keinen direkten Zugriff hat, etwa die Erderhitzung und
die Folgen der globalisierten Ökonomie? Der wichtigste Schritt, weil
Voraussetzung für alles andere, ist, dass man „das“ „schaffen“ will. A…
den berühmten Peptalk-Satz Angela Merkels „Wir schaffen das“ nicht als
Zumutung verstehen, sondern als einzig erfolgversprechende Haltung. „Wir
schaffen das sowieso nicht“, ein bisschen moralisch oder ironisch gewürzt,
ist sicher bequemer und wäre in meinem persönlichen Fall konsequent, aber
ich habe darauf überhaupt keine Lust mehr, das kann ja jeder.
Der nächste Schritt ist die Klärung der berechtigten Frage: Wer ist „wir“?
Man könnte sagen: die Weltgesellschaft. Oder alle Menschen und Tiere.
Naheliegend ist der Nationalstaat, aber ich würde die Europäische Union
nehmen. Im engeren Sinne könnte dann „wir“ zunächst einmal die Leute
meinen, die kulturell aufbruchsbereit und ökonomisch aufbruchsfähig sind,
Leute, die sich selbst etwas abverlangen können, wenn sie das wollen.
Gemäßigte Progressiv-Konservative, die bewahren wollen, was gut läuft, aber
auch bereit sind, zu ändern, was nicht mehr funktioniert. Das ist eben
nicht begrenzt auf Berlin, Bayern oder die Bundesrepublik. Unsere
Demokratie ist europäisch, auch wenn es vielen schwerfällt, das zu denken.
Verteidigung, Klimaschutz, Demokratie und Rechtsstaat: Auf der EU-Ebene
liegen größere Chancen und Risiken als im Nationalen.
Wer sich selbst realistisch sieht, weiß, dass die Erwartungen nicht zu hoch
sein dürfen, deshalb nenne ich uns „bedingt aufbruchsbereit“. Jetzt kann
man einwenden, dass diese Leute allenfalls 30 Prozent ausmachen und nie
eine demokratische Mehrheit bilden werden. Werden sie auch nicht, aber von
ihrer starken Präsenz hängen die Zukunftspolitik der Regierungen und die
gesellschaftliche Dynamik ab.
Der dritte, ungleich schwerere Schritt ist die Definition des „das“. Also
die Klärung der Dinge, um die es prioritär geht, und die Rahmenkultur, mit
der man sie anstrebt. Es ist nicht hilfreich, wenn in diesen Tagen jeweils
anders tickenden Liberaldemokraten der „Anstand“, die „sittliche Reife“…
so weiter abgesprochen wird. Das ist ein hilfloser Versuch, der Komplexität
der Gegenwart durch Charakterzuschreibungen auszuweichen.
## Wie schaffen wir das?
Genauso wenig hilfreich ist die fiktive Wiederherstellung klassischer
Lager. Hier „bürgerlich“, da „links“, hier Schwarz-Gelb, da Grün-Rot.…
entscheidende Differenz liegt zwischen dem Lager innerhalb der liberalen
Demokratie und dem außerhalb. Es sind die Rechtsradikalen und
Rechtspopulisten, die in Lagern denken und Feindschaft in die Politik
tragen. Das ist Orbán in Ungarn gelungen, hat die PiS in Polen praktiziert,
und nach diesem Muster verfahren Wilders in den Niederlanden und Meloni in
Italien.
Klar, das klingt angenehm simpel: hier mehr Staat, da mehr Markt, hier mehr
Moral, da weniger Moral, hier mehr Gängelung, da mehr Freiheit, hier
unmenschlicher Sozialismus, da unmenschlicher Neoliberalismus. Aber dieser
innerdemokratische Entweder-oder-Dualismus bringt keine Lösung offener
Probleme. Schon gar nicht taugt der Versuch, ein Lager der Guten auf
moralischer Überlegenheit und einer als progressiv etikettierten
Flüchtlingspolitik zu gründen, dem ein empathieloses konservatives
gegenübersteht. In den Niederlanden führte das zu einer unheilvollen
Allianz von Mitte-rechts und radikal rechts.
Wenn die liberale Demokratie sich weiter gegen die Fantasie einer Befreiung
durch Aufgehen in der gehorchenden Masse durchsetzen will, kann die nächste
Bundesregierung eben nicht ein Entweder-oder sein, sondern muss politische
Innovation und gute Kompromisse deutlich besser entwickeln, als es Scholz,
Habeck und Lindner hinbekommen haben.
Die Frage, ob die nächste Regierung Markt oder Staat geil findet, ist nicht
hilfreich. Wichtig ist, wie sie beides politisch zusammenbringt. Eine
erfolgreiche Wirtschaft braucht nicht nur – aus Kosten- und
Wettbewerbsgründen – eine postfossile Grundlage, sondern auch eine
intelligente Politik, die beides balanciert und den Markt durch staatlichen
Eingriff dynamisiert.
## Jenseits des Links-rechts-Denkens
Entscheidende Dinge sind weder in Union noch in SPD ansatzweise vertreten.
Die postfossile Wirtschafts- und Klimapolitik wird mit beiden schwer und
bei einer Koalition vermutlich unmöglich. In der Ukraine-Russland-Frage
geht es eben nicht um „Pazifismus“, „Besonnenheit“ oder „Kriegstreibe…
Es geht um die Entwicklung europäischer Geopolitik, um Europas Zukunft, um
Investitionen in die europäische Verteidigungsfähigkeit sowie um die heikle
damit verbundene Frage, was eine Prioritätenänderung jenseits von
„Sondervermögen“ speziell für den Sozialstaat bedeutet. Wenn die SPD etwa
mitregiert, rückt Putin näher, als wenn die Grünen mitregieren, sagt der
CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter. Das sind die Dinge, die
man bedenken muss, auch in anderen Bereichen, und die sich jenseits von
links/rechts abspielen.
Die Bundesrepublik und die Europäische Union mit all ihren Annehmlichkeiten
wird als „normal“, ja sogar als Menschenminimalrecht verstanden und nicht
als positivste Ausnahme der Weltgeschichte. Doch wie ein älter werdender
Mensch sind EU und Bundesrepublik nun in einer Phase, in der sie sich
eingestehen müssen, dass sich nicht mehr alles von selbst schön weiter
entwickeln wird. Es ist Zeit, harte Bilanz zu ziehen und sich dabei auch
von manch großem moralischen Anspruch zu verabschieden, für den es keine
reale Welt und konkrete Methode gibt („globale Gerechtigkeit“,
„1,5-Grad-Ziel“, „Antikapitalismus“).
Das ist keine Resignation, sondern das Gegenteil: Eine Aktivierung der
Kräfte und der Kultur auf sehr ambitionierte, aber im Rahmen unserer
politischen Institutionen, des gesellschaftlichen Engagements und des
individuellen Arsch-hoch-Kriegens erreichbare Ziele: ein gemeinsames Europa
mit starker, postfossiler Wirtschaft bei Bewahrung der
liberal-emanzipatorischen Errungenschaften. Aber eben auch
Stadtteilengagement, Jugendtrainer-Job, Wärmepumpe und Balkonkraftwerk.
Ich verstehe, wenn man immer noch versucht ist, zu stöhnen, dass das doch
alles nichts bringt, wenn die Chinesen und so weiter nicht mitmachen. Aber
es stimmt eben nicht. Mit einem Balkonkraftwerk produziert man Strom selbst
und emissionsfrei, und das bringt was. Und als Jugendtrainer kann man
jungen Leuten im Idealfall viel mehr als Laufwege zeigen.
Aber bevor ich jetzt ins Rührselige kippe, will ich zu meinem Punkt
zurückkommen: Mit Apokalypsen und Fatalismus kann man die großen Probleme
nicht bewältigen, mit messerscharfer Kritik allein auch nicht. Mit
paternalistischer Politik, wie sie SPD und CDU traditionell anbieten, auch
nicht mehr. Mit autoritärer Politik sowieso nicht. Mit Entweder-oder nicht,
mit „Machtworten“ nicht, mit Gut-böse- und Links-rechts-Denken nicht. Es
geht nur, indem man sich mit einer positiven Grundhaltung neu auf die
Komplexität und die Widersprüchlichkeit der Realität einlässt und einen
produktiven Umgang damit findet.
Wir brauchen liberaldemokratische Mehrheiten für eine neue
Prioritätenpolitik, und die gibt es nur durch Kompromisse. National,
europäisch, global, meinetwegen auch (Hey, Elon!) interplanetar. Das ist
nicht a priori schlecht, sondern nur, wenn wir es nicht gut machen.
23 Feb 2025
## AUTOREN
Peter Unfried
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Schwerpunkt Bundestagswahl 2025
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