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# taz.de -- Die Deutschen und der Krieg: Das Monster im Raum
> Einst konnten sie gar nicht genug von ihm bekommen, dann verdrängten sie
> ihn gründlich. Wie der Krieg dann doch wieder über die Deutschen kam.
Bild: Treffen von Soldaten der Wehrmacht und Roten Armee an der Demarkationslin…
Berlin taz | Wildschweine, die in den Gedärmen von Toten wühlen; Lazarette,
in denen erfrorene Gliedmaße im Akkord amputiert und vor die Tür geworfen
werden, wo die Dorfhunde sie fressen; ein gefangener deutscher Soldat, der
dumm zu grinsen scheint, und ein wütender GI, der ihn deswegen erschießen
will, ein Kamerad stößt den Gewehrlauf im letzten Moment weg: „Der hat doch
weder Lippen noch Augenlider!“ Die hatte der Deutsche im russischen Frost
an der Ostfront verloren.
Es waren solche ganz realen Horrorbilder, die ich vor sieben Jahren [1][in
einer Rezension zu einem Buch über die Ardennenschlacht 1944 zitierte];
und selten habe ich bei einer taz-Konferenz so viel kopfschüttelndes
Unverständnis geerntet: Warum ich nun ausgerechnet ein abseitiges Ereignis
wie ein winterliches Gemetzel am Ende des Zweiten Weltkriegs zum Thema
einer ganzen Seite machte.
Der Krieg und seine Schrecken, sie waren sehr weit weg im Berlin des Jahres
2017. Man machte sich ein wenig altmodisch-lächerlich, wenn man – weil zwar
als Nachgeborener, aber eben doch verwandtschaflich in die Sache verwickelt
– an sie erinnerte. Einer, der immer die Bedeutung des Friedens als
Hauptverdienst der europäischen Einigung betont hatte, Helmut Kohl, starb
in diesem Jahr. Wie sich überhaupt die Generation, die den Weltkrieg noch
erlebt hatte, peu à peu verabschiedete.
Dass der Krieg da allerdings längst auf die auch europäische Bühne
zurückgekehrt war, belegte der Prozess gegen Ratko Mladić. Am 22. November
2017 verurteilte das UN-Kriegsverbrechertribunal in seinem letzten
Völkermordprozess zum früheren Jugoslawien den damaligen
bosnisch-serbischen Militärchef wegen Kriegsverbrechen, unter anderem für
das Massaker von Srebrenica 1995, zu lebenslanger Haft.
## Alles Militärische in Parallelgesellschaft
Fast genau vier Jahre nach meinem Artikel über den Horror des realen
Krieges [2][sprachen der taz-Kollege Daniel Schulz und ich] über unser
Aufwachsen unter Soldaten des sogenannten Kalten – des Gott sei Dank nie
offen ausgebrochenen – Krieges: er im Osten als Kind eines NVA-Offiziers,
ich im Westen als Sohn eines Bundeswehrjuristen. Das zweiseitige Interview
schaffte es nicht zum Titel, es war Coronazeit, und die Schlagzeile lautete
„Die Verschwörungsindustrie“. Wir wunderten uns nicht zu sehr drüber, auch
weil wir viele Rückmeldungen auf unser Gespräch bekamen – allerdings
ausschließlich von Menschen, die selbst in ähnlichen Verhältnissen
aufgewachsen waren.
Seitdem wissen wir, wie viele taz-Kollegen Väter im Generalsrang haben; und
wir erfuhren im Allgemeinen, wie alles Militärische in der Bundesrepublik
in eine Art Parallelgesellschaft verwiesen worden war, in der sich die ihr
zugehörigen Menschen – ob Aktive oder Verwandte – mehr oder weniger
schicksalsergeben eingerichtet hatten.
## Deutschland wollte Helme schicken
Das war im März 2021. Wiederum ziemlich genau ein Jahr später, am 24.
Februar 2022, begann der russische Überfall auf die Ukraine. Die offizielle
deutsche Reaktion auf diesen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg war
immerhin schon vorab erfolgt. Die damalige Verteidigungsministerin
Christine Lambrecht (SPD) hatte am 22. Januar auf dringende Warnungen der
ukrainischen Regierung vor einem russischen Einmarsch mit der Zusage einer
Lieferung von [3][5.000 Schutzhelmen] reagiert.
Der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki, geografisch, historisch
und intellektuell deutlich näher dran am Geschehen als Lambrecht,
kommentierte das wörtlich und sehr verständlich, nämlich [4][auf Deutsch]:
„Das ist ein Witz. Das muss ein Witz sein.“
In dem Gespräch mit Daniel hatte ich auf die Frage, was von meinem
Aufwachsen geblieben sei, geantwortet: „Wenn ich sehe, die Politik schickt
Soldat:innen in den Krieg und die Ausrüstung ist nicht adäquat, dann
denke ich: So etwas macht man nicht. Dann lasst es mit der Armee. Da habe
ich ein starkes, mir unheimliches Kameradschaftsgefühl.“
## Intellektueller Totalausfall
Lambrechts Move war allerdings dermaßen grotesk, dass ich durch ihn ein
sehr klares, solidarisches Gefühl für die Lage der Ukraine entwickelte:
Eine Lage, die eben nicht zuletzt deswegen so fatal war, weil ein
potenziell wichtiger Partner, wenn nicht Verbündeter der Ukrainer:innnen,
die Bundesrepublik Deutschland, intellektuell, emotional und personell ein
Totalausfall war – fast.
Ein Helm war nämlich schon im Wahlkampf 2021 für [5][ein
schlagzeilenträchtiges Bild] gut gewesen. Ende Mai 2021 hatte Robert Habeck
ein zerstörtes Dorf in der Ostukraine besucht, sich sehr zivil hockend mit
Schutzweste und Helm abbilden lassen und gesagt, Waffen zur Verteidigung,
also Defensivwaffen, könne man der Ukraine „schwer verwehren“.
## „Kriegsgeile“ Grüne
Trotz Habecks frühem und klarem Blick auf die Lage – erwartet man
eigentlich nicht ebendas von einer politischen Führungsfigur? – wurde das
Bild zur negativen Ikone. Es war der Beginn der Kampagne gegen die
‚kriegsgeilen‘ Grünen. Und ob das nun individuell aus Angst oder Egoismus,
aus Kalkül oder Dummheit, zur Selbstberuhigung oder schlicht aus Bosheit
geschah – das Hufeisen von linken wie rechten Realitätsverweigerern,
moralischen Defätisten und unmittelbar vom Putinregime Korrumpierten hatte
sich Habeck, den Grünen sowie allen, die aus einer antifaschistischen
Grundhaltung heraus sich der Ukraine nah fühlten, damit fest um den Nacken
gelegt.
Klassisch war die Kommentierung des damaligen Chefs der damaligen
Noch-Fraktion der Linken im Bundestag, [6][Dietmar Bartsch]: „Robert Habeck
hat sich da total vergaloppiert. Sich als deutscher Parteichef mit
Stahlhelm in der Nähe der russischen Grenze ablichten zu lassen, ist
angesichts unserer Geschichte unangemessen, für einen Grünen-Parteichef
geradezu grotesk.“
## Persönliche Aufarbeitung des Jugoslawienkriegs
Auf diesen rhetorischen Trick, der weiß Gott nicht nur Bartsch einfiel,
fiel ich nun allerdings nicht mehr rein. Dass die deutsche
Nazivergangenheit bedeute, man dürfe sich nicht vor russischen Snipern
schützen, wenn man das Territorium eines souveränen Staats besuche: Darauf
musste man als ehemaliger Bürger eines Staates, Mitglied von dessen
Staatspartei und Soldat seiner Nationalen Volksarmee, die tatsächlich mal
an einem Überfall auf ein Nachbarland beteiligt war, nämlich dem der
Warschauer-Pakt-Staaten auf die Tschechoslowakei 1968, erst mal kommen.
Vor allem aber hatte ich meine ganz persönliche Aufarbeitung des
Jugoslawienkriegs hinter mir. Die zentrale Lehre, die mir von Betroffenen
aus Bosnien und Kroatien mit großer Geduld vermittelt worden war, lautete:
Hör auf, dich als Deutscher selbst zu bemitleiden. Hör auf, [7][linke
Pseudolehren] aus den Morden der Vergangenheit ziehen zu wollen, die in der
Gegenwart neues Morden erst ermöglichen. Fang an hinzuschauen und
wahrzunehmen, was vor deinen Augen geschieht.
## Opfer Serbien zum Täter Serbien
Eben dazu war ich während der Jugoslawienkriege nicht fähig gewesen. Dass
aus dem Opfer Serbien der Täter Serbien hatte werden können, aus dem im
Zweiten Weltkrieg von Deutschen Überfallenen der chauvinistische Aggressor:
Das überstieg nicht nur meine Vorstellungskraft, sondern schlicht auch
meine Bereitschaft, mich [8][mit den Tatsachen auseinanderzusetzen] und
empathisch zuzuhören, was die Menschen, die die serbische Aggression
erlebten, zu sagen hatten.
Ich habe heute fast täglich mit Menschen zu tun, die der russischen
Aggression mit der gleichen Beschränktheit, der gleichen Hemmung begegnen
wie ich einst der serbischen. Und ich versuche die gleiche Geduld zu
bewahren, von der ich einst profitieren konnte.
## Die polnische Erfahrung
Dabei hilft mir auch eine andere Erfahrung, die schon angeklungen ist – die
polnische. Es ist unmöglich, sich mit Polen über die Vergangenheit zu
unterhalten, ohne über die polnischen Teilungen zu reden, die zum
mehrmaligen Verschwinden des polnischen Staates geführt haben. Die letzte,
die vierte Teilung ist noch gar nicht so lange her, es leben noch Menschen,
die sich an sie erinnern können.
1939 teilten Russland und Deutschland sich Polen auf, einvernehmlich und
mit militärischem Zeremoniell: Mein Großvater, der Pionierhauptmann Johann
Waibel, war an der Demarkationslinie dabei (siehe Foto). Polen war das
erste Opfer des Zweiten Weltkriegs; und man muss nicht im entferntesten die
sowjetische Okkupation (die sich dann 1945 fortsetzte) mit der der
Nazideutschen gleichsetzen, um dennoch genau hinzuhören, wenn Polen vor
Russlands Imperialismus warnen – und das schon lange vor dem Angriff auf
die Ukraine.
Für mich gibt es – und vielleicht war der hier skizzierte Erfahrungsverlauf
zum Nachvollziehen hilfreich – deswegen nur eine Leitlinie, was den
Widerstand der Ukraine angeht: Wir müssen ihn unterstützen, solange das
ukrainische Volk ihn leisten kann und will beziehungsweise in freier
Selbstbestimmung darüber entscheiden kann: Voraussetzung dafür ist der
bedingungslose Abzug der russischen Okkupanten und Entschädigung für die
von ihnen angerichteten Verwüstungen.
## Whatever it takes
Unterstützung bedeutet, mit den Worten Mario Draghis zur Eurorettung:
[9][Whatever it takes]. Und nicht zuletzt eben mit modernen Waffen, die die
personelle Unterlegenheit ausgleichen und ganz konkret Leben retten. Dass
die Herkunft des dafür nötigen Geldes im dauernden Klassen- wie im
aktuellen Wahlkampf umstritten ist und vor allem von denen aufgebracht
werden müsste, die es sich leisten könnten, ist [10][offensichtlich],
ändert aber nichts an der [11][Tatsache,] dass die derzeitige Unterstützung
der Ukraine gering ist „im Vergleich zu dem, was ein möglicher Sieg
Russlands im Angriffskrieg auf die Ukraine Deutschland kosten würde“, wie
das Institut für Weltwirtschaft Kiel aufgezeigt hat.
Ich finde, dass wir uns das tatsächlich als insbesondere westdeutsche
Nazinachkommen schuldig sind. Sind es im Westen eher Denkfaulheit und
allgemeine Abneigung gegen Ereignisse, die einen irgendwie aus dem
Wohlstandstrott herausreißen könnten, die den militärischen Widerstand der
Ukrainer:innen gegen das mafiös-faschistische Putinregime nicht würdigen
und adäquat unterstützen können, so mag man dem Osten eine gewisse
geschichtliche Erschöpfung zugutehalten: eine Stimmung, die von AfD-Nazis,
den Bauernfängern der Wagenknecht-Kader und dem Generalsekretär der SPD,
[12][Matthias Miersch], nur zu gern [13][bedient wird.]
Aber [14][wie im Spanischen Bürgerkrieg], als die Demokratien allerdings
damit scheiterten, dem Guten – oder jedenfalls dem Besseren – zum Sieg
gegen den Faschismus zu verhelfen, muss die Devise, ob in Kyjiw oder in
[15][Hannover,] gegen die Putinisten lauten: No pasarán!
21 Jan 2025
## LINKS
[1] /Buch-zur-Ardennenoffensive-der-Nazis/!5395675
[2] /Militaer-in-Deutschland/!5754927
[3] /Befuerchtete-Invasion-durch-Russland/!5832101
[4] https://www.youtube.com/watch?v=Z2wPijegqT8
[5] /Gruene-Aussen--und-Sicherheitspolitik/!5771141
[6] https://www.welt.de/politik/deutschland/article231491385/Dietmar-Bartsch-kr…
[7] https://www.amazon.de/Serbien-muss-sterbien-jugoslawischen-B%C3%BCrgerkrieg…
[8] /FB-Analysen-zum-russischen-Ueberfall/!5943137
[9] /Waffen-fuer-die-Ukraine/!5935243
[10] /Tiefgefrorene-Ukrainedebatte/!5997400
[11] https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/aktuelles/militaerhilfe-fuer-die-…
[12] https://www.spiegel.de/politik/gerhard-schroeder-spd-generalsekretaer-matt…
[13] https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/auf-afd-niveau-angekommen…
[14] https://www.theguardian.com/world/2022/mar/12/no-pasaran-anti-fascist-ukra…
[15] /Schroeder-Dokumentation-im-Ersten/!5999311
## AUTOREN
Ambros Waibel
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