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# taz.de -- Dekolonisierung in der Ukraine: Kampf um die Erinnerung
> In der Ukraine sollen russische Namen und Symbole weichen. Das ist
> emotional und nicht ohne Widerspruch, doch mitreden kann die Bevölkerung
> kaum.
Bild: Ukrainische Flagge in Odessa auf einem Sockel, der bis 2023 eine Statue v…
Odessa/Dnipro taz | Der Platz mit der Verkehrsinsel zwischen den
prunkvollen Stadtpalais in der Altstadt von [1][Odessa] beschreibt den
Wandel ganz gut: Vor zwei Jahren wurde hier ein Denkmal für Katharina II.
abgebaut. Inzwischen weht auf dem Granitsockel die blaugelbe ukrainische
Flagge. 2024 wurde dann der Platz selbst umbenannt von Katerynynska-Platz
in Europaplatz. Russland und seine Symbole sind in der Ukraine nicht mehr
gefragt.
Angesichts des russischen Angriffskriegs, [2][der auch in der Altstadt von
Odessa seine Spur der Zerstörung hinterlassen hat], dürfte das Sentiment
nicht überraschen. Doch gerade dort protestiert der Bürgermeister. Die der
Zentralregierung in Kyjiw unterstehende Regionalverwaltung hatte im Sommer
80 Straßen und Plätze in der Hafenstadt umbenannt. Die Tschaikowskigasse
heißt jetzt Theatergasse, die Gagarin-Allee, benannt nach dem russischen
Kosmonauten, trägt nun den Namen der berühmtesten ukrainischen
Schriftstellerin Lessja Ukrajinka.
Hennadii Truchanov führt als Bürgermeister die Stadt seit 2014 und gehörte
früher der inzwischen verbotenen prorussischen Partei Oppositionsblock an.
Die Entscheidung würde die Geschichte der Stadt auslöschen, empörte sich
Truchanov.
Er kündigte an, dass die Stadt alle zur Verfügung stehenden rechtlichen
Mittel ausschöpfen werde, um die Umbenennungen rückgängig zu machen. Um dem
Nachdruck zu verleihen, startete er eine Umfrage per Telegram-App. Ergebnis
etwa 50:50. Die Umfrage war auch fleißig in russischen Telegram-Kanälen
geteilt worden.
## „Verbot der Propaganda der russischen imperialen Politik“
Rechtlich steckt hinter den einzelnen Umbenennungen das Gesetz „Über die
Verurteilung und das Verbot der Propaganda der russischen imperialen
Politik in der Ukraine und die Dekolonisierung der Toponymie“. Das ist seit
2023 in Kraft. Bis zum Jahresende 2024 hätten die Bestimmungen offiziell
umgesetzt werden müssen.
Die meisten davon stehen im Zusammenhang mit der Umbenennung von Städten,
Straßen und anderen Orten. Die Erinnerung an das Zarenreich und die
Sowjetunion soll aus dem öffentlichen Raum verschwinden.
Truchanov hat auch prominente Fürsprecher. So bat die Anthropologin
Anastasia Piljawsky im Oktober in einem offenen Brief die
Unesco-Generalsekretärin Audrey Azoulay, sich gegen die Umbenennungen und
den Abbau von Denkmälern bei Präsident Wolodymyr Selenskyj einzusetzen.
Denn Odessas Innenstadt hat seit mehr als einem Jahr Welterbestatus. Mehr
als 100 UnterzeichnerInnen aus dem In- und Ausland zählt der Brief
inzwischen.
Wie in anderen Städten auch gab es in Odessa eine vom Stadtrat eingesetzte
Kommission, die das Gesetz umsetzen sollte. Diese traf sich zwar und
diskutierte fleißig, aber am Ende wurde der Termin zur Entscheidung
gerissen. Dem Gesetz folgend übernahm die Regionalverwaltung.
## Stadtratsmitglied: „Die Bürger hätten entscheiden müssen“
Petro Obuchov sitzt für die Partei des früheren Präsidenten Petro
Poroschenko im Stadtrat. Er hat einen differenzierten Zugang zur Debatte.
„Die neuen Namen sind weitgehend in Ordnung“, sagt der 40-Jährige. Aber
grundsätzlich denke er auch, dass die Einwohner hätten entscheiden müssen.
Die Empörung des Bürgermeisters hält er jedoch für übertrieben. „Es war
klar, was passieren würde.“ Es stehe genau so im Gesetz. Truchanov habe
sich bei der vorangegangenen Welle von Umbenennungen ähnlich verhalten.
Das Thema sei emotional, so Obuchov. Tatsächlich habe der Stadtrat selbst
bereits der [3][Umbenennung von 200 Straßen mit den Namen gefallener
Kriegsteilnehmer] aus der Stadt zugestimmt. „Die Verwandten wünschen sich
das für jeden Gefallenen, aber so viele Straßen haben wir nicht.“ Künftig
sollen nur noch Straßen nach Gefallenen benannt werden, die mit den
höchsten Orden ausgezeichnet wurden.
Und auch die Regionalverwaltung habe Fehler gemacht: Es gebe jetzt zwei
Unabhängigkeitsstraßen, zwei Straßen seien nach Lessja Ukrajinka benannt
und auch einen Kriegshelden gebe es zwei Mal. „Das müssen wir wieder
ändern.“
In Dnipro kann man das Thema schon im Stadtnamen ablesen. Zwar nennen die
Menschen die Stadt schon seit Jahrzehnten so, wie sie jetzt heißt. Aber der
offizielle Name lautete bis 2016 Dnipropetrowsk. Namensgeber Grigori
Petrowski war ein General der Roten Armee und als Parteiführer in der
Ukraine für den Holodomor, den Hungertod von Millionen Menschen,
mitverantwortlich.
Es war ohnehin nicht der erste Name der Stadt. Gegründet wurde die Stadt
von General Potjomkin im Jahr 1776. Zu Ehren seiner Kaiserin Katharina II.
nannte er sie Jekaterinoslaw, was so viel wie „zum Ruhm Katharinas“
bedeutet. Sie sollte so etwas wie eine dritte Hauptstadt Russlands in den
seinerzeit in den Türkenkriegen eroberten Gebieten nördlich des Schwarzen
Meeres werden.
## Umbenennungen von 97 Straßen allein in Dnipro
[4][Dnipro] liegt am östlichen Ende des großen Dniprobogens. Von dort sind
es rund 200 Kilometer in den Donbass und nur 130 Kilometer zur Front im
Süden bei Saporischschja.
Bürgermeister Boris Filatov ist nicht für irgendwelche Sympathien für
Russland bekannt. Aufgrund der Umbenennung von 97 Straßen in seiner Stadt
platzte aber auch ihm der Kragen. Ähnlich wie Odessa hatte auch Dnipro den
Termin nicht eingehalten.
Mit dem Ergebnis ist Tetjana Adamenko hingegen ganz zufrieden. Sie setzt
sich auf künstlerischem Weg mit dem Thema auseinander. Die 37-Jährige
zeichnet Porträts ukrainischer Künstler und Wissenschaftler, nach denen nun
einige der Straßen in ihrer Heimatstadt benannt sind. Die veröffentlicht
sie dann in sozialen Medien. Einige lässt sie auch auf Postkarten drucken.
Dazu recherchiert sie deren Biografie. „Für mich ist das Teil der
Auseinandersetzung mit unserer Geschichte“, sagt sie.
Adamenko führt durch die Innenstadt. Der Platz vor dem Gebäude, in dem mal
die lokale Parteizentrale der Kommunisten saß, wirkt irgendwie zu groß. So
als ob etwas fehlt. „Hier stand natürlich mal eine Lenin-Statue.“ Aber die
ist schon vor vielen Jahren abgebaut worden.
## Transparency: 3.225 Straßenumbennungen in 42 Städten
Der Platz liegt an der Hauptachse der Innenstadt: Der breite Boulevard, der
über fünf Kilometer vom Hauptbahnhof bis zu den Klippen über dem Fluss
führt, trug jahrzehntelang den Namen Karl Marx. Seit 2016 ist er nach dem
ukrainischen Historiker Dmytro Yavornitsky benannt, der lange in der Stadt
lebte.
Viele Straßen in Dnipro hätten bisher Namen von Menschen getragen, die mit
der Stadt nichts zu tun hatten, erklärt Adamenko. Ob im Zarenreich oder in
der Sowjetunion – das Imperium war stets bedacht, nicht nur den
öffentlichen Raum zu kontrollieren, sondern auch, an wen erinnert wird.
Ein Beispiel sei die Malerin Halyna Masepa, die in Dnipro aufgewachsen ist.
Vor den Bolschewiken flüchtete sie über Prag und Paris bis nach Venezuela,
weil ihr Vater in der kurzlebigen Ukrainischen Volksrepublik 1919 das Amt
des Premierministers innehatte.
„Sie hatte keine Gelegenheit mehr, in der Ukraine tätig zu sein. Das müssen
wir ehren“, meint Adamenko. Platz machen musste dafür die russische
Mathematikerin Sofia Kovalevska.
## Umbenennungen treiben manchmal seltsame Blüten
Viele andere Städte sind weiter. Nach Angaben von Transparency
International Ukraine haben 42 Stadträte von 50 untersuchten bereits 3.225
Straßennamen geändert. Allerdings treibt die Umbenennungsaktion auch
manchmal seltsame Blüten.
Ein Beispiel hierfür ist Pervomaisk im südukrainischen Gebiet Mykolajiw.
Die Stadt mit rund 60.000 Einwohnern wurde 1919 aus drei Ortschaften mit
drei verschiedenen Namen zusammengelegt. „Pervomaisk“ stammt von der
russischsprachigen Bezeichnung für den 1. Mai. Nach langem Hin und Her
entschied sich die Kommunalverwaltung für den Namen Olviopol – nach einem
der drei Orte, aus denen die Stadt hervorgegangen war.
Dieser Name selbst war jedoch im Zarenreich einer dort bestehenden Festung
der Kosaken verpasst worden. Namen mit der griechischen Endung „pol“ gibt
es im Süden der Ukraine einige. Meist wurden sie im 18. Jahrhundert
gegründet – zur Zeit der russischen Kaiserin Katharina II. Das war damals
Mode und passte politisch. Denn die Herrscherin sah ihr Russland als
legitimen Nachfolgestaat des Byzantinischen Reiches. Die Namensgebung war
ein koloniales Projekt. Entsprechend wurde der Vorschlag in Kyjiw nicht
befürwortet. Eine Entscheidung steht noch aus.
21 Jan 2025
## LINKS
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## AUTOREN
Marco Zschieck
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