| # taz.de -- Anbrechender Wahlkampf: Eine Extraportion demokratischer Optimismus… | |
| > Unserer Kolumnistin fällt es schwer, in den Wahlkampf-Wahrnehmungsmodus | |
| > zu kommen. Hier versucht sie es trotzdem. | |
| Bild: Die Reichstagskuppel mit Besuchern und Besucherinnen im Abendlicht | |
| Vielleicht haben PolitikerInnen und JournalistInnen eine Art innere | |
| Legislaturperiodenuhr. Sie wird nach jeder Wahl frisch aufgezogen und | |
| schnurrt dann vier Jahre lang herunter – oder vielmehr drei Jahre und | |
| ungefähr acht Monate. Nach dieser Zeit stellt sich das Betriebssystem um, | |
| schaltet auf Wahlkampf und findet alles, was dann passiert, vollkommen | |
| normal. | |
| Meine innere Legislaturperiodenuhr jedenfalls ist durch das Vorziehen der | |
| Bundestagswahl komplett aus dem Takt. Ich komme schlicht nicht im richtigen | |
| Wahlkampf-Wahrnehmungsmodus an. Es will mir nicht gelingen, ausreichend | |
| ernst zu nehmen, was Olaf Scholz, Friedrich Merz, Christian Lindner, Robert | |
| Habeck und die hinter ihnen versammelten WahlkämpferInnen reden (die | |
| anderen Spitzenkandidierenden unterschlage ich hier einmal, auch wenn sie | |
| Kanzlerkandidatin heißen). | |
| Oder spielt deren innere Uhr ebenfalls verrückt, und sie finden einfach den | |
| richtigen Ton nicht? Wobei ich nicht einmal kritisieren möchte, dass Olaf | |
| Scholz am Montag im Bundestag Christian Lindner die „sittliche Reife“ zum | |
| Regieren [1][abgesprochen hat]. Darüber [2][regten sich erstaunlich] viele | |
| KommentatorInnen auf, dabei hatte der Mann recht. Den Begriff der | |
| sittlichen Reife, beziehungsweise deren Mangel, sollte man ohnehin viel | |
| häufiger verwenden, zum Beispiel in Bezug auf Markus Söder. | |
| Womöglich sind es auch gar nicht die Aggression in der Debatte zur | |
| Vertrauensfrage und deren Nachwehen im Lauf der Woche, die mich so | |
| irritieren. Vielleicht bekommen SPD und CDU das ja noch hin, zum Beispiel, | |
| ihre unterschiedlichen Rentenpläne so zu beschreiben, dass man sich nicht | |
| ständig gegenseitig [3][der Lüge bezichtigen] muss. | |
| Hier als kleiner Service ein vorsichtiger Formulierungsvorschlag: Die CDU | |
| will, dass die Renten weniger stark ansteigen, als die SPD es aber gern | |
| festlegen möchte. Nachdem die CDU jetzt im Wahlprogramm zu den Renten | |
| allerdings etwas ganz anderes behauptet, als sie noch vor einem Jahr im | |
| Grundsatzprogramm verkündet hat, weiß man sowieso nicht so recht. | |
| ## Der Zweifel an Umsetzung von Versprechen wächst | |
| Wahrscheinlich aber ist es insgesamt weniger der Sound des Versprechens – | |
| „dies und das: nur mit uns!“, als vielmehr das Versprechen selbst, dem es | |
| an Überzeugungskraft mangelt. Zwar war die Fallhöhe zwischen | |
| Parteiforderung und absehbarer Umsetzungsmöglichkeit in einer künftigen | |
| Regierung immer schon hoch. Damit hat die mündige Wählerin irgendwann im | |
| Laufe ihres Lebens eine Art augenrollenden Frieden gemacht: Okay, die | |
| Partei, die ich gewählt habe, hatte halt nicht 100, sondern nur XY Prozent, | |
| dann kommt eben auch immer nur eine Maus heraus, wo ein Elefant verkündet | |
| wurde. | |
| Doch gab es ja bis vor relativ kurzer Zeit immerhin politische Lager, mit | |
| denen sich gewisse Wahrscheinlichkeiten ergaben, dass Dinge klappten – | |
| sagen wir: ein Atomausstieg mit Rot-Grün. Schon die Großen Koalitionen | |
| haben da natürlich viele Erwartungen durchkreuzt, machten dies aber durch | |
| die Aura beruhigender Langeweile wieder wett. | |
| Mit der Zerteilung des Parteiensystems und den neuen Notwendigkeiten, in | |
| wild anmutende Koalitionen einzusteigen, schwinden allerdings auch diese | |
| Formen von Berechnungsmöglichkeit. Der Zweifel an der Umsetzung wächst über | |
| den Wunsch hinaus, einer Kandidatin ihre Absicht erst einmal glauben zu | |
| können. Die Frage „Aber mit wem soll das denn bitte klappen?“ steht immer | |
| schon im Raum, bevor eine Forderung überhaupt ganz ausgesprochen ist. | |
| Wahrscheinlich werden wir den Verlust an demokratischem Zutrauen durch eine | |
| Extraportion an demokratischem Optimismus kompensieren müssen. | |
| 21 Dec 2024 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.youtube.com/watch?v=BzX3BqQgvdo | |
| [2] https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/scholz-spricht-lindner-die-sittliche… | |
| [3] https://www.n-tv.de/politik/Scholz-zeigt-Nerven-und-luegt-bei-der-Rente-art… | |
| ## AUTOREN | |
| Ulrike Winkelmann | |
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