# taz.de -- Zwangsbehandlung psychisch Kranker: Im eigenen Zuhause | |
> Psychisch Erkrankte können bald ambulant zwangsbehandelt werden. Das | |
> zeigt: Die Menschenrechte von psychisch Kranken haben in unserer | |
> Gesellschaft zu wenig Wert. | |
Bild: Bald auch zuhause möglich: Fixierte Hand eines Patienten | |
Bisher können Menschen nur in Krankenhäusern oder Psychiatrien | |
zwangsbehandelt werden. Wenn andere aufgrund von Demenz oder eines | |
psychischen Ausnahmezustandes davon ausgehen, dass die betroffenen Menschen | |
nicht selbst entscheiden können, wird dort zur Not für sie entschieden. Das | |
ist legal, wenn die Betroffenen als selbst- oder fremdgefährdet gelten. | |
Beispielsweise können sie ans Bett fixiert und Medikamente eingeflößt | |
bekommen. Jährlich betrifft das in Deutschland rund 4.000 Patienten und | |
Patientinnen. | |
Jetzt ändert sich die Lage: Das [1][Bundesverfassungsgericht hat im | |
November entschieden,] dass Menschen mit psychiatrischen Diagnosen auch | |
ambulant Zwangsmaßnahmen erfahren dürfen. Jedoch nur unter bestimmten | |
Umständen und wenn es, wie immer, das „letzte Mittel“ ist. Bis Ende des | |
Jahres 2026 muss sich die Regelung entsprechend geändert haben – so will es | |
das Gericht in Karlsruhe. | |
Dass mit dem Urteil zumindest teilweise anerkannt wird, dass die mit | |
Psychiatrien häufig verbundene Gewalt für Menschen schrecklich sein kann, | |
ist ein Fortschritt. | |
## Präzedenzfall vor Gericht | |
Auslöser dafür war, dass der Betreuer einer Frau in Karlsruhe klagte. Die | |
Klinik inklusive der Fixierung am Bett habe sie retraumatisiert, so die | |
Beschwerde. Weil die Patientin von selbst keine Medikamente nahm, hatte man | |
die Frau regelmäßig in eine Klinik gebracht. Künftig könnte sie stattdessen | |
im betreuten Wohnen gegen ihren Willen Substanzen bekommen. Ihr war eine | |
Schizophrenie diagnostiziert worden. | |
Ist es die richtige Antwort auf das Problem, den Zwang aus der Psychiatrie | |
zu den Betroffenen nach Hause zu holen? | |
„Der Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener ist bestürzt über das heutige | |
Urteil des Bundesverfassungsgerichtes, das ambulante Zwangsbehandlungen | |
erlaubt“, heißt es auf der Seite des Verbandes. Und der Verein Kellerkinder | |
von Menschen mit seelischen Beeinträchtigungen schrieb: „Mit großer | |
Besorgnis erfüllt uns die Aussicht, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen nun auch | |
noch außerhalb eines Krankenhauses zugelassen und verdeckte | |
Medikamentengabe legalisiert werden könnten.“ Beides führe zu einem | |
weiteren Entzug von Grundrechten. | |
Die Vereinten Nationen lehnen den Einsatz von Zwangsmaßnahmen daher ab. So | |
forderte der UN-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderung | |
Deutschland im Jahr 2023 dazu auf, den Freiheitsentzug und die | |
Zwangsbehandlung von Menschen mit Behinderung zu verbieten. | |
## Das letzte Mittel ist subjektiv | |
In Karlsruhe wird erklärt, dass Zwang nur angewendet werden dürfe, wenn er | |
notwendig sei. Dabei wird übersehen, dass dieses letzte Mittel subjektiv | |
ist. [2][Allein die Gabe von Neuroleptika] an Menschen, die Psychosen | |
erleben oder erlebt haben, ist unter Ärzt:innen umstritten. | |
Die Deutsche Gesellschaft für Soziale Psychiatrie beantwortet den | |
Fragenkatalog des Gerichts unter anderem so: Bei Psychosen sei eine | |
Reduktion der Pillen oder sogar das Absetzen häufig besser für die Erholung | |
des Patienten oder der Patientin, als bei einer durchgängigen Medikation. | |
Dass Zwang bereits unterschiedlich angewendet wird, zeigt nicht nur ein | |
Blick auf andere Länder. Auch Statistiken über Deutschland weisen darauf | |
hin, dass sich die Häufigkeit von Betreuung und Unterbringung zwischen | |
Bundesländern signifikant unterscheiden. | |
Innerhalb von [3][Städten gibt es zwischen Kliniken Differenzen]. Und | |
innerhalb von Kliniken gibt es Stationen, die mit weniger oder ohne Zwang | |
auskommen, darunter etwa in einzelnen Städten die Soteria-Stationen. | |
Diese Stationen mit begrenzten Plätzen sind speziell für Menschen gedacht, | |
die Psychosen erleben. Dort ist man zumindest im Kleinen bemüht, eine | |
möglichst angstfreie Atmosphäre mit weniger Medikamentenvergabe zu | |
schaffen. | |
## Verpasste Chance für sensible Alternativen | |
Wie unübersichtlich dürfte der Umgang mit psychiatrischem Zwang erst | |
werden, wenn dieses „letzte Mittel“ auf den privaten Wohnraum übergreift? | |
Der aktuelle Fall ist eine Gelegenheit gewesen, sich als Gesellschaft | |
grundsätzliche Fragen in Bezug auf die Psychiatrie zu stellen. Also | |
beispielsweise sensible Alternativen zu beängstigenden Behandlungen zu | |
finden, bestehende Angebote zu überprüfen und [4][innovative Wege für | |
Inklusion] zu schaffen. | |
Diese Chance ließ man ungenutzt. Stattdessen sorgt das | |
Bundesverfassungsgericht dafür, dass sich Menschen nun zu Hause unsicher | |
fühlen. | |
Eine kleine Gruppe betrifft das Urteil besonders: Diejenigen, die eine | |
gesetzliche Betreuung haben und in Wohnheimen leben. Es trifft damit | |
zugleich Menschen, die schon im Alltag am stärksten in ihrer | |
Selbstbestimmung eingeschränkt werden und in der öffentlichen Wahrnehmung | |
wenig Beachtung finden. Durch die ambulante Behandlung sind sie dem Zwang | |
einmal mehr ausgeliefert. Insgesamt ist der Beschluss aber ein beklemmendes | |
Signal für alle, die schon einmal in eine Psychiatrie eingewiesen wurden. | |
Jeden und jede von uns könnte das früher oder später treffen. | |
## Zwang findet Einzug in die eigene Wohnung | |
Das Anliegen, Betroffenen einen traumatisierenden Transport in die Klinik | |
zu ersparen, ist berechtigt. Dass sich das Bundesverfassungsgericht in der | |
Entscheidung für die Ausweitung psychiatrischen Zwangs in das private | |
Wohnumfeld auf das Grundgesetz bezieht, scheint vor dem Hintergrund der | |
geäußerten menschenrechtlichen Bedenken jedoch absurd. Nicht nur weil Zwang | |
zunehmen könnte und mit dem Beschluss ein Eingriff in das Wohnumfeld | |
einhergeht. | |
„Wir sind verwundert, dass in dem vom Bundesverfassungsgericht | |
eingeleiteten Stellungnahmeverfahren keine Selbstvertretungsorganisation | |
explizit von Menschen mit psychosozialen Behinderungen angefragt wurde“, | |
schreibt der Verein Kellerkinder. | |
Mit Abstand betrachtet, zeigt das Urteil und die Diskussion darüber, wie | |
selten die Stimmen von Betroffenenverbänden gehört werden. Die | |
[5][Menschenrechte von psychisch Kranken] haben in unserer Gesellschaft zu | |
wenig Wert. | |
6 Dec 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Bundesverfassungsgericht/!6048403 | |
[2] /Urteil-zu-Psychopharmaka/!5787808 | |
[3] /Psychiatrie-in-Bremen/!5569256 | |
[4] /Psychiatrische-Betreuung-zu-Hause/!6008370 | |
[5] /Versorgung-psychisch-Erkrankter/!6049485 | |
## AUTOREN | |
Lea De Gregorio | |
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