| # taz.de -- Urteil zur Behandlung psychisch Kranker: Mehr Rechte im Zwang | |
| > Ärztliche Zwangsmaßnahmen wirken nicht in jedem Fall gegen die | |
| > Betroffenen. Eine Erwiderung auf einen Kommentar der Autorin Lea De | |
| > Gregorio. | |
| Bild: Eine ärztliche Zwangsmaßnahme könnte für diesen Menschen die angemess… | |
| Wann dürfen Menschen zwangsbehandelt werden? Ein [1][Urteil des | |
| Bundesverfassungsgerichts (BVerfG)] erklärte es für verfassungswidrig, dass | |
| ärztliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich in Krankenhäusern durchgeführt | |
| werden dürfen. Dieser Vorstoß löste in der taz Kontroversen aus. Die | |
| Autorin [2][Lea De Gregorio schrieb in einem taz-Text], dass sich Menschen | |
| nun unsicher fühlen würden, vor allem zu Hause oder in Einrichtungen wie | |
| Pflegeheimen und dem betreuten Wohnen. Gregorio befürchtet eine Ausweitung | |
| des Zwangs sowie die Einschränkung von Grundrechten. | |
| Gregorios Sicht ist nachvollziehbar, aber es gibt auch andere, die ihrer | |
| entgegenstehen: Das BVerfG-Urteil stärkt die Rechte Betroffener. Denn durch | |
| das Urteil ist jetzt klar, dass ärztliche Zwangsmaßnahmen, die nur im | |
| Krankenhaus durchzuführen sind, dem Grundgesetz widersprechen. Dahinter | |
| steht ein einfacher Gedanke: Ein Krankenhausaufenthalt kann die Gesundheit | |
| verschlechtern. Denn Behandlungen oder Eingriffe sind immer dann | |
| Zwangsmaßnahmen, wenn sie gegen den Willen des Patienten durchgeführt | |
| werden, egal wo sie durchgeführt werden. | |
| Im Fall, den das BVerfG zu entscheiden hatte, wollte ein Berufsbetreuer im | |
| Namen einer Frau mit paranoider Schizophrenie, eine zwangsweise ärztliche | |
| Behandlung mit einem Neuroleptikum durchführen lassen. In der Vergangenheit | |
| waren regelmäßig Fixierungen und das Anlegen einer Spuckmaske zum Transport | |
| ins Krankenhaus notwendig. Aber: Eine Behandlung im heimischen Umfeld | |
| könnte dies verhindern. Das Gericht erkannte, dass diese Erfahrungen auf | |
| andere Betroffene übertragbar sind: Eine ausnahmslose Behandlung im | |
| Krankenhaus kann durch den Ortswechsel und den Kontakt mit fremden Personen | |
| traumatisierend wirken, insbesondere für Demenzpatienten oder Menschen mit | |
| wahnhaften Erkrankungen. Doch Betroffenenverbände wie die | |
| Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe kritisieren das Urteil: Wenn | |
| Zwangsmaßnahmen ausgeweitet werden, würden sie häufiger angewandt. | |
| Diese Sorgen sind verständlich, aber unbegründet. Die meisten Kriterien im | |
| Gesetz zu ärztlichen Zwangsmaßnahmen bleiben nach wie vor bestehen. So darf | |
| medizinisches Fachpersonal eine Zwangsmaßnahme nur als letztes Mittel | |
| einsetzen, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden | |
| abzuwenden. Zudem muss der oder die Betreute aufgrund der psychischen oder | |
| geistigen Verfassung die Notwendigkeit der Maßnahme nicht erkennen können. | |
| Ebenso muss die betreuende Person ernsthaft versucht haben, den oder die | |
| Betreute von der Maßnahme zu überzeugen. Die wiederum dann nicht gestattet | |
| ist, sobald es eine weniger belastende Alternative gibt. | |
| ## Schutz vor sich selbst | |
| Das grundsätzliche Ziel, Gewalt in der Psychiatrie zu verhindern, ist | |
| richtig. Die Frage indes ist: Inwieweit muss ein Mensch vor sich selbst | |
| geschützt werden? Zwang darf nur angewandt werden, wenn der Nutzen größer | |
| ist als der Schaden, den der Betroffene sich selbst oder anderen zufügen | |
| könnte. Manchmal können Menschen nicht für sich selbst sorgen. Daraus | |
| sollte jedoch kein „Recht auf Verwahrlosung“ während einer psychischen | |
| Krise folgen. In Einrichtungen warten Mitarbeitende mitunter eine | |
| Eskalation ab, weil sie rechtlich erst dann reagieren dürfen. Manchmal | |
| leiden Betroffene unnötig lange, hierbei geht es nicht nur um Medikamente, | |
| sondern auch um Zahnbehandlungen, Knochenbrüche, Routineuntersuchungen. | |
| Die Konsequenzen der Nichtbehandlung sieht man insbesondere an Menschen, | |
| die weitgehend außerhalb des Systems und ohne Betreuung leben. In | |
| [3][unseren Städten gibt es Wohnungslose,] manche von der Welt entrückt, | |
| die sich aus Mülltonnen ernähren und sich in Alufolie wickeln statt in | |
| Kleidung. In diesen Fällen sind klare Vorgaben, die nötigenfalls | |
| Zwangsmaßnahmen einschließen, die bessere Lösung. Im Idealfall können sich | |
| Betroffene wieder neu sortieren und selbstbestimmter leben. | |
| Unabhängig davon ist der Zwang an viele Kriterien gebunden. Behandelnde | |
| entscheiden nicht allein über eine Zwangsmaßnahme, sondern es bedarf | |
| weiterhin der Genehmigung des Betreuungsgerichts. Und: Niemand kommt nach | |
| Hause und verabreicht unkontrolliert Medikamente. Der Deutsche Richterbund | |
| argumentiert, dass sich im ambulanten oder teilstationären Bereich eher | |
| Möglichkeiten finden lassen, eine Zwangsbehandlung gänzlich zu vermeiden. | |
| Eine Einstellung auf ein neues Medikament bedeutet oft, dass der Betroffene | |
| für Wochen in eine Klinik muss. Andreas Brilla, Vorsitzender des Deutschen | |
| Richterbunds in Baden-Württemberg, sagt: „Menschen im Pflegeheim müssen ab | |
| und zu ertragen, dass sie die Medikamente nehmen müssen. Das bedeutet aber | |
| viel weniger Stress, als wenn sie über Wochen in die Klinik gehen.“ | |
| ## Das Urteil wägt sorgfältig ab | |
| Das Urteil wägt also zwischen der staatlichen Schutzpflicht gegenüber | |
| hilfsbedürftigen Menschen und dem Recht auf deren Selbstbestimmung sehr | |
| genau ab. Sowohl bei der Anwendung als auch bei der Vermeidung von Zwang | |
| geht es um das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Das muss oberste | |
| Priorität haben. Gleichzeitig erkennt das Gericht an, dass die Situation | |
| der Betreuten entschärft werden kann, wenn zumindest der Ort des Zwangs | |
| noch frei wählbar ist. | |
| Das Bundesverfassungsgericht hat mit seinem Urteil das Thema | |
| Selbstbestimmung auch in schwierigen Lebenslagen und psychischen Notlagen | |
| auf die politische Agenda gesetzt. Das ist gut so. Damit ist klar, dass | |
| Zwangsmaßnahmen zu vermeiden sind, aber auch alternative Ansätze wie die | |
| Psychosebegleitung ausgebaut werden müssen. Das ist ein positives Signal | |
| und unterstützt speziell Menschen [4][in akuten psychotischen Krisen]. Der | |
| Gesetzgeber ist nun aufgerufen, sich noch einmal mit diesen Fragen | |
| auseinanderzusetzen. Denn aktuell gibt es für manche Menschen eher zu wenig | |
| als zu viel Behandlung. | |
| 18 Dec 2024 | |
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| ## AUTOREN | |
| Sean-Elias Ansa | |
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