# taz.de -- Olaf Scholz und Boris Pistorius: Demontage eines Kanzlerkandidaten | |
> Scholz oder Pistorius? Für ihre Entscheidung hat die SPD-Spitze viel Zeit | |
> gebraucht. Für ihren Kandidaten und für die Partei war das nicht | |
> hilfreich. | |
Bild: Olaf Scholz am 22. November in Berlin, am Abend zuvor hatte sich die Part… | |
Kurz nach halb acht am Donnerstagabend ploppt auf der Webseite der SPD und | |
den Medienkanälen ein Video auf. Boris Pistorius, | |
SPD-Verteidigungsminister, erklärt der Parteibasis, dass er nicht als | |
Kanzlerkandidat zur Verfügung stehe. Er betont: „Es ist meine souveräne | |
Entscheidung.“ Das mag man glauben oder nicht – zu Wochenbeginn hatte | |
Pistorius noch erklärt, man solle nichts ausschließen –, aber nun herrscht | |
Klarheit: Olaf Scholz, der amtierende Kanzler, wird auch Kanzlerkandidat | |
für die Bundestagswahl am 23. Februar 2025. Am Montag soll er von den | |
Parteigremien offiziell gekürt werden. | |
Eigentlich eine Formalie, noch nie hatte die Sozialdemokratie es anders | |
gehalten. Diesmal machte es die SPD-Spitze aber so spannend, dass man | |
sich schon fragte, ob sie sich in der Parteizentrale von der | |
Wahlkampfplanung aufs Krimischreiben verlegt hatten. Tagelang ließen die | |
beiden Parteivorsitzenden Saskia Esken und Lars Klingbeil sowie | |
Generalsekretär Matthias Miersch eine vor allem medial befeuerte Debatte | |
schwelen: Wer ist der geeignetste SPD-Kanzlerkandidat – Olaf Scholz oder | |
Boris Pistorius, der aktuell populärste Bundespolitiker? | |
Zunächst meldeten sich nur Politiker:innen aus Orts- und | |
Kreisverbänden zu Wort, später auch Bundestagsabgeordnete und | |
Ex-Vorsitzende. Sie rieten mehr oder weniger unverblümt, Pistorius gegen | |
Scholz einzuwechseln. Der Schwelbrand drohte zum Flächenbrand zu werden. | |
Doch bis zuletzt zögerten Klingbeil, Esken und Miersch ihn auszutreten und | |
ließen sich auch nicht in die Karten schauen. | |
Am Donnerstagnachmittag traf man sich zu letzten Beratungen. Doch eine | |
Stunde, bevor das Video mit Pistorius’ Verzichtserklärung viral ging, | |
wussten selbst hochrangige Politiker:innen der erweiterten | |
Parteiführung und auf Länderebene nicht, für wen sich die Spitze | |
entschieden hatte. Einig waren sich aber alle, dass die Entscheidung zügig | |
fallen müsse. Die Diskussion um die Kandidatenfrage dauere schon viel zu | |
lange. Die Wortwahl reichte von „nicht glücklich“ über „extrem schädli… | |
Eine aktuelle Umfrage bescheinigt der SPD 14 Prozent in der | |
Wähler:innengunst, damit liegt sie weit hinter der Union und gleichauf mit | |
den Grünen, die man eigentlich auf Abstand halten will. Die Rede ist nun | |
von „Führungsversagen“. Die SPD, das steht fest, geht zerzaust und mit | |
einem [1][Kandidaten ins Rennen, dem selbst die eigene Partei nur bedingt | |
vertraut.] | |
## Ein Moment der Euphorie in der SPD | |
Die Sozialdemokraten befinden sich also in einer ähnlichen Situation wie | |
die Union 2021. Da kombinierte CSU-Chef Markus Söder Ergebenheitsadressen | |
an den Kanzlerkandidaten Armin Laschet mit gezielter Demontage. Nichts | |
reduziert die Aussicht auf Wahlsiege so zuverlässig wie eine in sich | |
gespaltene Partei. | |
Wie konnte es so weit kommen? Wieso verspielte die SPD das Momentum nach | |
dem Bruch der Ampel? Politikberater Frank Stauss, der Scholz 2011 und 2015 | |
im Hamburger Wahlkampf beriet, kann nur den Kopf schütteln: „Man hat es | |
versäumt nach dem Ampel-Aus Fakten zu schaffen, am besten gleich am | |
nächsten Tag.“ | |
Wahrscheinlich verpassten Scholz und die SPD-Führung am 7. November einen | |
Steinmeier-Moment. Der amtierende Bundespräsident hatte 2009 exemplarisch | |
gezeigt, wie man mit einer Mixtur aus Chuzpe und Machtinstinkt Fakten | |
schafft. Frank-Walter Steinmeier, Kanzlerkandidat der SPD, nachdem er in | |
einer Intrige Kurt Beck als SPD-Chef abgesetzt hatte, verlor die Wahl 2009 | |
krachend. Noch am Wahlabend rief er sich zum neuen Oppositionsführer und | |
Fraktionschef aus. Er werde aus „der Verantwortung nicht fliehen“, so die | |
leutselig formulierte Kampfansage. Damit überrumpelte er die fassungslose | |
SPD-Linke. Kein Machtvakuum, kein Aufstand, der Raum für Personaldebatten | |
blieb geschlossen. | |
Nicht so diesmal. Als Olaf Scholz am Abend des 6. November erst den | |
FDP-Finanzminister entließ und dann ankündigte, die Vertrauensfrage zu | |
stellen, um Neuwahlen zu ermöglichen, erlebte die SPD einen Moment der | |
Euphorie. Die Abgeordneten der Fraktion, die sich spätabends zur Sitzung im | |
Reichstag trafen, empfingen den Kanzler mit Standing Ovations. Aus den | |
Kreisverbänden kamen Glückwünsche – „starke Rede“, „gut gemacht, Ola… | |
Doch der Rausch war schnell vorbei, der Kater setzte ein. | |
Zunächst die quälende Debatte über den richtigen Termin für die | |
Vertrauensfrage, dann die Diskussion um die Kanzlerkandidatur. Nervosität | |
machte sich unter den Abgeordneten breit. Nach der Wahlrechtsreform ist der | |
Bundestag auf 630 Sitze gedeckelt, aktuell hätten nur noch 88 statt 207 | |
SPD-Abgeordnete einen Platz. Erst waren es nur einzelne Stimmen, doch | |
daraus drohte am Montag des 18. November [2][eine Stimmung zu werden.] | |
## Schlechter kann man einen Putsch kaum vorbereiten | |
Wiebke Esdar und Dirk Wiese, Sprecher:innen der SPD-Landesgruppe | |
Nordrhein-Westfalen, ließen auf Anfrage des WDR mitteilen, dass es in den | |
Wahlkreisen „viel Zuspruch für Boris Pistorius“ gebe. Das derzeitige | |
Ansehen von Olaf Scholz sei hingegen stark mit der Ampel verknüpft. Im | |
Klartext: Du bist unten durch, Olaf, mach Platz für Boris. | |
Nicht nur der Fakt, dass Esdar und Wiese auch Sprecher:innen der beiden | |
stärksten Flügel der Fraktion, der Parlamentarischen Linken und der | |
Seeheimer, sind, machte das Statement brisant. Sondern auch, dass sich | |
Scholz zu diesem Zeitpunkt beim G20-Gipfel in Rio um Weltpolitik kümmerte. | |
Er schmiedete mit dem brasilianischen Präsidenten eine Allianz gegen Hunger | |
und Armut und sprach mit dem chinesischen Staatspräsidenten über Handel und | |
den Krieg in der Ukraine – war also weit weg und konnte sich nicht wehren. | |
Noch 14 Tage zuvor war Scholz einer ähnlichen Situation zuvorgekommen. | |
Während er beim Treffen der EU-Staatschef:innen in Budapest weilte, wollte | |
die FDP das Ende der Ampel verkünden. Nun erwischte ihn ein ähnliches | |
Komplott aus der eigenen Partei kalt. | |
Doch schlechter kann man einen Putsch kaum vorbereiten. Mitglieder der | |
Landesgruppe und der Parteiströmungen erklärten umgehend, das Statement sei | |
nicht abgestimmt gewesen. Zudem mehrten sich Solidaritätsbekundungen für | |
den Kanzler. | |
Scholz gab sich in Rio unbeeindruckt. Am Abend des selben Tages – in | |
Deutschland weit nach Mitternacht – erscheint er in weißem Hemd zu einem | |
Hintergrundgespräch mit Journalist:innen im Delegationshotel an der | |
Copacabana. „Wo wollt ihr mich haben?“, fragt er seinen Sprecher. „Wo du | |
willst“, entgegnet jener, Scholz entscheidet sich für die Terrasse. Der | |
Wind weht lau vom Meer, das sanfte Klatschen der Wellen dringt ans Ohr. | |
Scholz tritt locker auf, wirkt entspannt, sendet die Botschaft: Nun seid | |
doch mal nicht so aufgeregt, läuft doch alles nach Plan. | |
## Machtkämpfe sind der SPD nicht fremd | |
Am nächsten Tag wird er in vier Fernsehinterviews immer mit dem gleichen | |
Wortlaut wiederholen: „Die SPD und ich wollen gemeinsam gewinnen und wir | |
haben ja auch schon gezeigt, dass wir das können.“ Er vermeidet das K-Wort; | |
sich in der angespannten Lage selbst zum Kanzlerkandidaten zu küren, käme | |
wohl nicht gut an in der Partei, die stolz ist auf ihre basisdemokratische | |
Entscheidungshoheit. Doch Scholz macht in Rio auch klar: Hier stehe ich. | |
Wenn die Partei mich weghaben will, dann muss sie mich schon von der | |
Terrasse tragen. Beziehungsweise aus dem Kanzleramt. | |
Machtkämpfe sind der SPD nicht fremd, doch seit dem Abgang von Andrea | |
Nahles 2019 ist „Geschlossenheit“ das geflügelte Wort im Willy-Brandt-Haus. | |
Die ist nun dahin. Trotz aller taktischen Vorbereitungen im Vorfeld des 6. | |
November – so richtig vorbereitet auf das Ampel-Aus war man in der | |
SPD-Führung eben doch nicht. Zudem ist das strategische Zentrum im | |
Willy-Brandt-Haus geschwächt. Generalsekretär Miersch ist keine zwei Monate | |
im Amt, er ersetzte kurzfristig den erkrankten Kevin Kühnert. Und Lars | |
Klingbeil, der Architekt des Wahlsieges von 2021, von dem es immer hieß, | |
„der kann Prozesse“, und der sich stärker als für einen Parteivorsitzenden | |
üblich in den Wahlkampf 2025 einschaltete, taugt dann wohl doch nicht zum | |
Kanzlerkiller. Werte wie Loyalität und Solidarität sind ihm wichtig. Bis | |
zuletzt stellte er sich schützend vor Kühnert, erklärte tapfer, der sei | |
der richtige Generalsekretär. | |
Zudem gab es auch berechtigte Zweifel an Pistorius. Kann der | |
Verteidigungsminister auch als Wirtschaftsexperte, Pflegefachmann oder | |
Sozialsystemerklärer glänzen? Anders als Scholz, der in allen Themen | |
drinsteckt, ist Pistorius kein Generalist, hat sogar öffentlich erklärt, er | |
habe von Wirtschaft keine Ahnung. | |
Bedenken gegen den Verteidigungsminister, der Deutschland „kriegstüchtig“ | |
machen will und bei der Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern | |
Gesprächsbereitschaft zeigt, kamen auch aus den Ost-Landesverbänden. „Der | |
Wahlkampf wird schwer, mit Pistorius wäre er doppelt so schwer geworden“, | |
so eine Abgeordnete. | |
Pistorius stellt sich nun hinter den Kanzler. „Olaf Scholz ist ein starker | |
Kanzler und er ist der richtige Kanzlerkandidat“, so Pistorius in seiner | |
Videobotschaft. So wiederholt er es auch später in der Fraktion. | |
## Scholz ist gelöst nach dem gewonnenen Machtkampf | |
Um 20.30 Uhr am Donnerstag treffen sich die Abgeordneten zur digitalen | |
Konferenz. Neben Pistorius sprechen auch Klingbeil und Esken, Miersch und | |
Scholz. Das Treffen endet nach 30 Minuten. Mit „Einen schönen Abend und | |
Glückauf“ verabschiedet Mützenich die Abgeordneten. Selbstkritische Worte | |
ob der Länge des Verfahrens? Fehlanzeige. In der Fraktion so berichtet ein | |
Teilnehmer herrsche derzeit eine angespannte Ruhe. | |
Am Freitagmorgen treten Klingbeil und Scholz bei einer Konferenz von | |
Kommunalpolitiker:innen auf. Klingbeil belässt es bei einer kurzen | |
Rechtfertigung „Hätte man so eine wichtige Frage wie die Kanzlerkandidatur | |
wirklich übers Knie brechen sollen?“ Er will nach vorn schauen. Wenn die | |
SPD eins könne, dann kämpfen. „Die Aufholjagd beginnt jetzt.“ | |
Wie die aussehen könnte, skizziert Scholz. Er lobt sich für seine | |
Besonnenheit, nicht den Marschflugkörper Taurus zu liefern und eine | |
Eskalation im Krieg in der Ukraine verhindert zu haben. „Besonnenheit und | |
Unterstützung – das gibt’s nur mit der SPD.“ Er wirbt für Investitionen… | |
eine moderate Reform der Schuldenbremse. Er will das Thema bezahlbaren | |
Wohnraum jetzt mal wirklich angehen. Es gebe zu viele Projekte für „tolle | |
Leute mit tollem Einkommen – so wie mich.“ Aber zu wenige Wohnungen für | |
Leute, die normal verdienen. | |
Auch Scholz blickt nach vorn auf den 23. Februar. Das sei nicht nur der | |
Geburtstag von Lars Klingbeil, sondern auch der seiner Frau Britta Ernst. | |
„Es muss also gut gehen.“ Einige lachen, der Schlussapplaus ist warm. Die | |
Kommunalpolitiker:innen sind vor allem dankbar, dass es jetzt eine | |
Entscheidung gibt. | |
Scholz ist im Rio-Modus, gelöst nach dem gewonnen Machtkampf. Den | |
Juso-Bundeskongress an diesem Wochenende, erspart er sich dennoch, Absage | |
aus „Termingründen“. Der Empfang wäre wohl ein paar Grad kälter gewesen. | |
Doch die Partei übt sich nun in Geschlossenheit. Esdar und Wiese erklären | |
am Freitag: In der kommenden Wahlauseinandersetzung vertraue man „auf Olaf | |
Scholz und auf seine Regierungserfahrung gerade in Krisensituationen“. Kann | |
die SPD den Trend noch drehen? Wahlkampfberater Stauss schließt es nicht | |
aus. Bei Friedrich Merz sieht er noch erhebliche Stolpergefahr. „Und es gab | |
schon Beispiele, dass Leute, die keine Chance hatten, gewonnen haben. Olaf | |
Scholz gehört dazu.“ | |
Aber, dass es so funktioniert wie 2021, ist derzeit unwahrscheinlich. | |
23 Nov 2024 | |
## LINKS | |
[1] /Pistorius-laesst-Scholz-den-Vortritt/!6050903 | |
[2] /Kanzlerkandidat-Debatte/!6050629 | |
## AUTOREN | |
Anna Lehmann | |
Stefan Reinecke | |
## TAGS | |
Boris Pistorius | |
Olaf Scholz | |
SPD | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
wochentaz | |
GNS | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Kolumne Die Woche | |
Lesestück Interview | |
Bundeskongress | |
Bundesrat | |
Schwerpunkt Bundestagswahl 2025 | |
Umverteilung | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
SPD-Generalsekretär über Klima und Wahl: „Im Herzen bin ich ein Rot-Grüner… | |
Wieder GroKo? SPD-Generalsekretär Matthias Miersch ist skeptisch. Er | |
befürchtet energiepolitische Rückschritte und will am Heizungsgesetz | |
festhalten. | |
Bundeskongress der Jusos: Was Scholz von Esken lernen kann | |
Scholz hätte ein Gutes daran getan, sich dem Unmut der Jusos zu stellen. | |
Nicht zuletzt ist es der Nachwuchs, der den Wahlkampf auf der Straße führt. | |
III. Weltkrieg, Femizide, Wagenknecht: Eine düstere Woche | |
Küppersbusch über die Besonnenheit der SPD, die Gefahr vom III. Weltkrieg | |
zu sprechen und eine Krankenhausreform. Und ein Wagenknecht-Selfie. | |
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf: „Das ist unsere Bedingung“ | |
Juso-Chef Philipp Türmer über die „Shit-Show“ der SPD und was er Olaf | |
Scholz erzählen will, wenn er ihn demnächst trifft. | |
Jusos treffen sich zum Bundeskongress: Widerwillige Wahlkämpfer:innen | |
Die Debatte um die Kanzlerkandidatur will die SPD-Führung hinter sich | |
lassen. Doch auf ihrem Bundeskongress rechnen die Jusos noch mal mit der | |
Parteispitze ab. | |
Abstimmung im Bundesrat: Krankenhausreform mit Ach und Krach | |
Im Bundesrat hat sich keine Mehrheit gefunden, um Lauterbachs Reformprojekt | |
zu stoppen. Im Januar soll das Gesetz in Kraft treten. | |
Pistorius lässt Scholz den Vortritt: Der beschädigte Kandidat | |
Nach dem Verzicht von Pistorius auf die SPD-Kanzlerkandidatur ist der Weg | |
frei für Scholz. Er behält das Manko, dass seine Partei ihm nur bedingt | |
vertraut. | |
Aktienpaket-Vorschlag: Die CDU möchte allen Kindern ETFs zum Geburtstag schenk… | |
Um die wachsende Ungleichheit zu bekämpfen, fordert die CDU ein Aktienpaket | |
für jedes Kind. Interessant, aber sorgt das wirklich für Gerechtigkeit? |