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# taz.de -- Kuratorin zu Theaterfestival in Dresden: „Bei den Kontexten wird …
> Das „Fast Forward“-Festival bringt Regietalente aus Europa in Dresden
> zusammen. Ein Gespräch mit der Kuratorin über das Theater als Raum zum
> Streiten.
Bild: Jetzt in Dresden zu sehen: Sarah Canes „4.48 psychose“, in Belgrad in…
EuropäerInnen aller Länder, vereinigt euch! So könnte das Motto des
diesjährigen Theaterfestivals „Fast Forward“ lauten, das vom 14. bis zum
17. November in Dresden stattfindet und Theaterleute aus ganz Europa
zusammenbringt. Mit Blick auf die sächsischen Landtagswahlen im September,
bei denen die AfD als zweitstärkste Kraft hervorging, und bevorstehende
Kürzungen im Kulturhaushalt sind Kulturformate wie das „Fast Forward“
wichtiger denn je.
taz: Frau Orti von Havranek, Europa gilt als der alte und keineswegs
homogene Kontinent, aber [1][beim „Fast Forward“-Festival] geht es um
Nachwuchs und junge Regie!
Charlotte Orti von Havranek: Ja, aber wir zeigen auch, dass es
unterschiedliche Verankerungen von Theater in verschiedenen Gesellschaften
gibt und damit vielleicht unterschiedliche Gründe, Theater zu machen.
taz: Und die Inszenierungen müssen auch nicht in ein Konzept passen,
richtig?
Orti von Havranek: Ich laufe nicht mit einem bestimmten Bild im Kopf los,
sondern gucke, was da ist. Wenn man erforschen möchte, was der Nachwuchs
tut, muss man sich bewusst sein, dass man selbst nicht zu dieser Generation
gehört. Also offen bleiben für das, was da ist, und keinem die eigenen
Kriterien aufdrücken.
taz: Ich dachte bisher, im Theater bleibe man immer jung.
Orti von Havranek: Ich fing mit 19 Jahren an zu studieren und las mit 20
zum ersten Mal einen [2][Text von Heiner Müller]. Jetzt versuchen Sie mal,
als 20-jährige westdeutsche Germanistikstudentin einen solchen Autor zu
verstehen, wenn Sie den Kontext der Gesellschaft, in der er geschrieben und
gedacht hat, überhaupt nicht kennen. Dieses fehlende Wissen um die Kontexte
können Sie jetzt auf die meisten europäischen Länder übertragen. Aber genau
hier fängt es natürlich an, spannend zu werden, besonders im Theater.
taz: Gilt das nicht noch mehr für die Transformationsgesellschaften des
ehemaligen Ostblocks, die ja oft Schwerpunkt des „Fast Forward“-Festivals
waren?
Orti von Havranek: In diesen Gesellschaften ist die Auseinandersetzung
zwischen den Generationen ein großes Thema, also zwischen den noch vom
Sozialismus Geprägten und den danach Geborenen, wenn man so will der
Fast-Forward-Generation. Ich habe unterwegs unterschiedlich viel Zeit, auf
dieses Hinterland einzugehen, und merke natürlich, wie oberflächlich das
eigene Wissen über die Länder um uns herum bleibt.
taz: Schwerpunkte ergeben sich also ungewollt, wie in diesem Jahr der
frankofone Akzent?
Orti von Havranek: Er hat sich dieses Jahr so ergeben, weil die beiden
französischen und die beiden belgischen Arbeiten zusammen mit den anderen
vier Inszenierungen für mich inhaltlich und formal eine größtmögliche
Bandbreite zeigen. Natürlich versuche ich, diese Prozesse so lange wie
möglich offenzuhalten. Manchmal sehe ich in verschiedenen Ländern viel
Ähnliches. Aber Verschiedenheit finde ich für das Festival spannender, weil
das die Kunstform erweitert.
taz: Sie kuratieren das Festival seit 2018. Ist mit ihrer persönlichen
Auswahl nicht auch eine Machtposition verbunden?
Orti von Havranek: Klar, ich verteile etwas, weise Sichtbarkeit zu. Das tun
viele am Theater, wenn sie zum Beispiel entscheiden, welche Regisseure
inszenieren oder welche Spieler ein Ensemble bilden. Man muss sich fragen
lassen, wie man mit dieser Verantwortung umgeht. Und Transparenz üben.
taz: Kann sich in sieben Dresdner Festivaljahren bei Ihnen eigentlich
Routine einstellen?
Orti von Havranek: Theater ist immer neu. Ich habe als Tanz- und
Schauspieldramaturgin gearbeitet, kenne Routine bei den organisatorischen
Vorbereitungen, aber nicht bei künstlerischen Tätigkeiten. Ich glaube, ich
würde aufhören, wenn ich anfange, routiniert zu werden.
taz: Können Sie im Vergleich der Jahrgänge Veränderungen beobachten?
Orti von Havranek: Wenn ich auf die Geschichte von „Fast Forward“ seit 2011
schaue, [3][also beginnend in Braunschweig] mit der Kuratorin Barbara
Engelhardt, erinnere ich mich an eine Diskussion zum Verhältnis von Theater
und Publikum. Manche der Künstler sagten damals, dass sie beim Produzieren
nicht ans Publikum denken. Aber die Frage danach, welche Erfahrungsräume
man dem Publikum eigentlich anbietet, beginnt, meiner Wahrnehmung nach,
eine immer stärkere Rolle zu spielen. Das Nachdenken über das Theater als
gesellschaftliche Kunstform hat einen größeren Stellenwert bekommen.
taz: Passt auf solche neue Hellhörigkeit das Modewort „Wokeness“? Es ging
doch zugleich immer wieder um Persönliches, Privates, Intimes, [4][etwa um
Depressionen], wie auch im aktuellen Jahrgang.
Orti von Havranek: Ich meine eher die Wachheit, etwas zu produzieren, was
dann Teil eines gemeinsamen Erlebnisses wird. Das ist natürlich keine neue
Entdeckung. Aber wir brauchen einfach Zeit und Räume, um uns die
Herausforderungen der heutigen Welt anzugucken. Daraus kann man Funken
schlagen. Reale Erfahrungen projiziert in die Fiktion eines Kunstraums.
Handeln auf Probe, wenn man so will.
taz: Dieser Jahrgang 2024 bringt eine Erweiterung der Kooperation mit
lokalen Kulturträgern, oder?
Orti von Havranek: Ohne das Kunsthaus Dresden wäre das französische Projekt
„Decazeville – la montagne qui brûle“ in der ehemaligen Kantine des
DDR-Computerherstellers robotron kaum möglich gewesen. In der
Video-Inszenierung von Nina Gazaniol Vérité geht es um eine vermeintlich
abgehängte Kleinstadt im Südwesten Frankreichs, um deren Bewohner und deren
Sehnsüchte. Für mich ist die Kantine so eine Art geheimes Zentrum von
Dresden.
taz: Wegen der zyklisch hier stattfindenden „Ostrale“, der Dresdner
Biennale für zeitgenössische Kunst?
Orti von Havranek: Eher wegen dem Skatepark daneben und dem Hygiene-Museum
im Hintergrund, und das Rathaus liegt gegenüber. Ein geschichtlicher Ort
für die Zeit nach 1945 und jetzt vielleicht ein Ort für ein anderes
Selbstbewusstsein, oder eine andere Mitte, jedenfalls für etwas, das mit
Nationalismus nichts zu tun hat.
taz: Hellerau und die Hochschule für bildende Künste zählen ja schon zu den
bewährten Partnern.
Orti von Havranek: Das ist vielleicht auch wichtig mit Blick auf die Frage,
was die junge Generation auszeichnet. Also Kooperation, Zusammenarbeit,
eine Kultur des Miteinanders und weniger Konkurrenzverhalten. Deshalb sind
[5][Sparmaßnahmen und Kahlschläge bei unseren Partnern wie Hellerau fatal],
weil sie zunichtemachen, was wir in den vergangenen Jahren praktiziert
haben, nämlich miteinander und voneinander zu lernen.
taz: Möchten Sie etwas herausheben aus der gewohnten Mischung von
kammerspielartigen intimen Performances und größeren Ensembles?
Orti von Havranek: Ich hänge immer an allen Arbeiten. Entscheidend bei
einer Inszenierung ist für mich, dass Thema, Motivation und Form eine
Aussage ergeben, über die man anschließend streiten kann.
taz: Und doch stellt sich damit die Frage nach der Jury. Der
Vorjahrespreisträger Salim Djaferi mit der Soloperformance „Koulounisation“
ist ein derart gefragter Solist, dass er die „Belohnung“ mit einer
Inszenierung am Dresdner Staatsschauspiel gar nicht wahrnehmen konnte.
Orti von Havranek: Bisher noch nicht, ja. Aber wir mussten nach 2012 auf
die Inszenierung der zweiten „Fast Forward“-Preisträgerin [6][Marta
Górnicka] auch mehr als zwei Jahre warten. Das Festival möchte gern ein
Sprungbrett für Talente sein, und wir sind es oft auch über den Preis
hinaus.
12 Nov 2024
## LINKS
[1] /Dresdner-Theaterfestival-Fast-Forward/!5811147
[2] /Schlachten-im-Maxim-Gorki-Theater/!5921719
[3] /Junges-Theater/!5249590
[4] /Kolumne-Great-Depression/!t5799366
[5] /Budgetkuerzungen-in-der-Kultur/!6026421
[6] /Chorstueck-mit-ukrainischen-Frauen/!5967140
## AUTOREN
Michael Bartsch
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