# taz.de -- Dresdner Theaterfestival „Fast Forward“: Egoismus des Patriarch… | |
> Deutsche Schnitzeljagd, ein eindrückliches Stück aus Polen: Zum 11. Mal | |
> fand das Dresdner Festival für junge europäische Regie, „Fast Forward“, | |
> statt. | |
Bild: Sprechen über Erfolg in Nadir Sönmez’ „Ama“ statt „aus aller Er… | |
Jede kritische Rezeption der dreieinhalb Dresdner Festivaltage wird | |
überstrahlt vom Gefühl der Erleichterung. Das Theater ist nach der | |
digitalen Notlösung im Vorjahr dahin zurückgekehrt, wo es hingehört. Auf | |
die Bühnen, in die Räume der sinnlichen Erfahrbarkeit und des unmittelbaren | |
Austausches. „Festivalmutter“ Charlotte Orti von Havranek zeigte sich am | |
Donnerstagabend glücklich über eine „Eröffnung in Echtzeit“ und wirkte a… | |
Moderatorin auch so locker. | |
Sozialverhalten ließ sich am trefflichsten beim am wenigsten kunstvollen | |
Festivalbeitrag wieder entdecken. Wer wandert in einer Gruppe schweigend? | |
Zu einem solchen Marsch über zweimal sechs Kilometer lud Studio Beisel | |
jeweils um die Mittagszeit ein. Die beiden Anfangdreißiger Laurenz Raschke | |
und Kajetan Skurski haben bei Heiner Goebbels studiert, halfen im Vorjahr | |
bei der digitalen Ersatzgestaltung des Festivals und betreuen im aktuellen | |
Jahrgang dessen Website. | |
## Nur nichts überinterpretieren! | |
Ihr deutscher Beitrag „Der Verlauf – ein Landschaftsstück“ ist eine frü… | |
sogenannte Schnitzeljagd, neudeutsch Geocaching. Man traf sich am Kleinen | |
Haus des Staatsschauspiels und folgte den besonders unter den Graffiti der | |
angrenzenden Neustadt schwer erkennbaren gelben Zahlen- und | |
Symbolmarkierungen. Der Weg ist gespickt mit anspielungsreichen Sprüchen, | |
dazu Acts wie ein Kletterknotenseil. | |
Am Ziel trifft man die beiden Planer von Studio Beisel, die am Rand einer | |
kraterförmigen riesigen Baustoffgrube in der Dresdner Heide harmlosen Tee | |
kochen. Es wird geplaudert, aber aufgelöst wird die unterwegs aufgebaute | |
Spannung nicht. Nur nichts überinterpretieren! | |
## Die Formate müssen passen | |
Skurriles, manchmal Infantiles an den Grenzen des dramatischen Genres | |
kennzeichnete bereits die Jahre vor diesem, am 11. 11. eröffneten 11. | |
Jahrgang des Festivals „[1][Fast Forward“]. Staatsschauspiel-Intendant | |
Joachim Klement brachte bei seinem Amtsantritt in Dresden 2017 dieses junge | |
Festival aus Braunschweig mit. Auch wenn die Jugend der Akteure und vor | |
allem der Regisseure und Regisseurinnen nicht eo ipso ein Vorzug sein mag, | |
so prädestiniert sie doch für Versuch und Experiment bei Stoffen und | |
Ästhetik. | |
Besonderes Interesse verdienten die Beiträge aus ost- und | |
südosteuropäischen Ländern, die auch 32 Jahre nach dem Zusammenbruch des | |
Ostblocks als Transformationsgesellschaften gelten müssen. Sie sind in | |
diesem Jahr aber in der Minderheit. Das sei zufällig so, stellt Charlotte | |
Orti klar. „Die Formate müssen passen“, erklärt sie angesichts der | |
besonderen Aufführungsbedingungen in diesem und im vorigen Jahr. Die fünf | |
Live-Aufführungen liefen sämtlich auch im Stream, drei weitere nur online. | |
## Herz der Finsternis | |
Der Preis für die beste Regie bietet jährlich die Chance, bekannter zu | |
werden, vielleicht sogar Bleibendes in der Stadt zu hinterlassen. Denn es | |
winkt ein Auftrag des Dresdner Staatsschauspiels. Die Preisverleihung fand | |
am späten Sonntagabend erst nach Redaktionsschluss statt. | |
Ein Kandidat für den Jury- oder Publikumspreis beeindruckte aber schon zum | |
Auftakt. Das 1945 gegründete TR-Theater Warschau geht mit „Serce“ zurück | |
auf das „Herz der Finsternis“, eine erschütternde Kolonialerzählung von | |
Joseph Conrad aus dem Jahr 1899. Autor und Regisseur Wiktor Baginski ist | |
ein polnischer Schwarzer oder ein schwarzer Pole, spricht also authentisch | |
und überzeugend. | |
## Suche nach dem afrikanischen Vater | |
Über Autobiografisches hinaus verquickt dieses Vierpersonenstück in nur | |
hundert Spielminuten Kolonialerbe und Rassismus mit mehreren zeitlosen wie | |
auch brisanten Gegenwartsthemen. Die polnische Debatte über Abtreibung und | |
traditionell egoistisch-patriarchalische Männerrollen durchdringen und | |
überlagern das Hauptthema von Herkunft und Hautfarbe, also der Suche nach | |
dem Vater, mithin nach einem Teil der Identität. | |
Ein junger Mann, der wie alle Rollen von Weißen gespielt wird, sucht seinen | |
afrikanischen Vater und kopiert ihn zugleich ungewollt. Auch er schwängert | |
eine Studentin, ohne sich um die diskutierte Abtreibung oder ein mögliches | |
Kind zu kümmern. Später erst erfährt er schockiert, dass er doch Vater | |
geworden ist, selbst aber einer Vergewaltigung entstammt. Baginski steigert | |
das eindrucksvolle Spiel noch durch kurze Choreografien, Lieder, | |
Lichteffekte und vor allem ahnungsvolle, in Rastern aufgelöste Videos. | |
## Warum nicht soziale Pornos drehen? | |
Eine Parodie auf die heutige Künstlerszene, die man früher „Boheme“ genan… | |
hätte, kam aus der Türkei. Ihr geht es vor allem um Erfolg, auch beim Sex, | |
nicht mehr darum, „aus aller Erfahrung positive Lehren zu ziehen“. Warum | |
nicht soziale Pornos drehen? Flott und freizügig lässt Regisseur Nadir | |
Sönmez in „Ama“ seine fünf Mitspieler reden und vertraut im kahlen | |
Proszenium dabei ausschließlich der Tragfähigkeit seines Textes und der | |
Ausdrucksfähigkeit seiner ausgezeichneten Darsteller. | |
Nach der seuchenbedingten Stagnation des Vorjahres wurde also „Fast | |
Forward“ 2021 seinem Namen eher wieder gerecht. | |
15 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Staatstheater-sichtet-Nachwuchs/!5355552 | |
## AUTOREN | |
Michael Bartsch | |
## TAGS | |
Staatsschauspiel Dresden | |
Theater | |
Festival | |
Theater | |
Zeitgenössischer Tanz | |
Stadtland | |
Kosovo | |
Rache | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Die „Gas-Trilogie“ am Theater in Dresden: Energie bis zum Systemkollaps | |
Das Staatsschauspiel Dresden entdeckt mit der „Gas-Trilogie“ den Dramatiker | |
Georg Kaiser wieder. Die Thematik ist erstaunlich aktuell. | |
Inklusives Theater in Uruguay: Tanzlastige Informance | |
In Montevideo fand das erste Inklusionsfestival für performative Künste | |
Uruguays statt. Bewerbungen gab es aus aller Welt. | |
Studie zu kultureller Teilhabe in Berlin: Zögerlichen Zugang zur Kultur | |
Die Berliner vermissten im Lockdown ihre Kultur, besagt eine Studie. Weil | |
die Angst vor dem Virus nach wie vor groß sei, bleibe es bei der Sehnsucht. | |
Theater im Kosovo: Frust über westliche Arroganz | |
Kann Theater ein Motor der Veränderung sein? Beim Festival „Kosovo Theatre | |
Showcase 2021“ in Prishtina scheint das ganz gut zu funktionieren. | |
Regisseur über Rache: „Kunst kann Gefühle transformieren“ | |
Was haben Menschen davon, Rache zu üben? Regisseur Akın Emanuel Şipal über | |
starke Emotionen und sein Stück „Mutter Vater Land“ am Bremer Theater. |