# taz.de -- Theater im Kosovo: Frust über westliche Arroganz | |
> Kann Theater ein Motor der Veränderung sein? Beim Festival „Kosovo | |
> Theatre Showcase 2021“ in Prishtina scheint das ganz gut zu | |
> funktionieren. | |
Bild: In „Die Rückkehr von Karl May“ brauchen deutsche Theater Hilfe | |
In der Fußgängerzone von Prishtina sieht man zwei menschliche Silhouetten | |
aus dem Boden auftauchen. Ihre Körperumrisse sind aus halbtransparentem | |
Material gefertigt. Das ist ein Werk des Bildhauers Eroll Murati. Er will | |
damit auf die mehr als 1.600 verschwundenen Kosovaren des letzten Krieges | |
hinweisen. Ihr Schicksal rückte in der Normalisierung des Lebens in den | |
letzten Jahren in Prishtina zunehmend in den Hintergrund. Eine offene Wunde | |
stellt das ungeklärte Schicksal der Verschwundenen dennoch dar. | |
Auch für Theatermacher sind die Kriegsfolgen weiter ein Thema. Das gleich | |
neben Muratis Installation aufragende Nationaltheater war in den letzten | |
Tagen einer der Spielorte des Festivals Kosovo Theatre Showcase. Es wurde | |
zum vierten Mal von der umtriebigen freien Gruppe Qendra Multimedia | |
veranstaltet. Herz und Seele von Qendra Multimedia ist der Dramatiker und | |
Autor Jeton Neziraj. | |
Sein Stück „Balkan Bordello“, inszeniert von seiner Frau und | |
Kunst-Partnerin Blerta Neziraj und mit Performerinnen und Performern aus | |
den USA, Serbien und Kosovo erarbeitet, geht mit Wucht und großer Lust an | |
der Provokation das Thema Krieg und Kriegsfolgen an. | |
Neziraj greift dabei auf die Figurenkonstellation von Aischylos’ | |
„Orestie“-Trilogie zurück. Statt eines Königspalasts ist allerdings ein | |
ramponiert wirkendes Motel Handlungsort. Hierhin kehrt Kriegsheld Agamemnon | |
zurück. Bei dieser, von George Drance, einem Schauspieler des | |
kooperierenden La Mama Theatre aus New York verkörperten Figur, kann es | |
sich um einen Warlord der Balkankriege handeln, aber auch einen | |
Irakveteranen der U. S. Army oder einen Afghanistanveteranen der | |
Bundeswehr. Er findet seinen Platz zu Hause schon besetzt vor und wird von | |
Ehefrau Klytämnestra (Onni Johnson, ebenfalls von La Mama) kühl ins | |
Jenseits geschickt. | |
## „Wir wollen eure Tanzstudios nicht“ | |
Die antike Vorlage wird um zahlreiche zeitgenössische Elemente erweitert. | |
Agamemnon-Sprößling Orest ist schwul und trifft als urban geprägter | |
Re-Migrant im eher rückständig wirkenden Motel ein. Sein Liebhaber ist ein | |
motorisch hyperaktiver Modern-Dance-Lehrer. Immer wieder wirbt er bei | |
Mitspielern und Publikum für Workshops und verspricht Trauma-Bearbeitung | |
und Persönlichkeitsentwicklung durch Bewegungstraining. Sein Tanzstudio ist | |
eine Metapher für die vielen Zivilisierungsaktivitäten des Westens im | |
Balkan allgemein. | |
„Wir wollen eure Tanzstudios nicht“, lautete denn auch der spontane | |
Titelvorschlag für eine Rezension des Stücks. Den machte eine aus Albanien | |
kommenden Teilnehmerin eines Theaterkritik-Workshops, den der Autor dieses | |
Artikels im Rahmen des Festivals durchführte. Der Frust in der Region ist | |
groß über das Verhalten der internationalen Hilfskräfte. „Viele von ihnen | |
haben eine Söldnermentalität. Sie gehen von Krisenort zu Krisenort und | |
kennen sich nur oberflächlich mit der Situation vor Ort aus. Sie treten | |
dabei mit dem Selbstverständnis auf, die angeblich wilden Balkanvölker | |
zivilisieren zu müssen“, kritisiert Neziraj gegenüber der taz. | |
In einem weiteren Stück, „Die Rückkehr von Karl May“, vertieft Neziraj | |
diese Aspekte. Das Projekt entstand im Rahmen des [1][Post-West-Festivals | |
der Berliner Volksbühne]. Neziraj formt es clever um in eine | |
Entwicklungshilfe dynamischer kosovarischer Theatermacher für die – in der | |
damaligen Amtszeit von Klaus Dörr tatsächlich – kriselnde Volksbühne und | |
die insgesamt blutarmen deutschen Theaterinstitutionen. | |
Diese nassforschen Behauptungen kombiniert Neziraj mit einem Wirbel von | |
Klischees. Karl May’sche Beschreibungen der unterentwickelten Skipetaren, | |
durch deren Berglandschaft sein Alter ego Kara Ben Nemsi einst ritt, werden | |
verknüpft mit Bildern von Deutschland als mal absurdem, mal tückisch | |
gemeinem Bürokratiestaat. | |
## Das Geld aus der Diaspora | |
Natürlich ist es eine komplexe Beziehung, die den Westen mit dem Kosovo | |
verbindet. Für große Beliebtheit hierzulande sprechen nach den | |
US-Präsidenten Bill Clinton und George Bush benannte Straßen. Ohne die Nato | |
gäbe es den Staat Kosovo wohl nicht. Ohne das Geld, das Kosovaren aus der | |
Diaspora zur Unterstützung der Untergrundbewegung UÇK schickten, ebenso | |
wenig. Diesen Aspekt bearbeitete die kosovarische und Schweizer | |
Koproduktion „Swiss Connection“ des Theaters Winkelwiese Zürich. Heute ist | |
das Geld aus der Diaspora wichtig für das Überleben in der fragilen | |
hiesigen Ökonomie. | |
Der Frust über westliche Arroganz ist dennoch groß. „Wir wollen nicht, dass | |
die internationalen Helfer verschwinden. Wir wissen, wie wichtig sie für | |
den Kosovo sind. Auch dieses Festival ist mit Geld aus Europa, unter | |
anderem auch vom Goethe-Institut, finanziert. Aber wir wollen eine | |
Zusammenarbeit auf Augenhöhe“, meint Neziraj. | |
Seine Kritik kommt durchaus bei einigen Entscheidern an. Kosovos [2][neuer | |
Premierminister Albin Kurti] lächelte bei der Premiere von „Balkan | |
Bordello“ verschmitzt in seine Maske, als es um das Verhalten der | |
Internationalen ging. Und Carin Lobbezoo, Botschafterin der Niederlande im | |
Kosovo und ebenfalls im Premierenpublikum, versprach Neziraj, die | |
Aufführung ihren Botschafterkolleginnen und Kollegen ans Herz zu legen, | |
ohne sie vorzuwarnen, dass es dabei auch um das eigene Verhalten gehe. | |
## Indikator für Veränderungen | |
„Balkan Bordello“ kann zugleich als Indikator für Veränderungen im Land | |
gelten. Als das Stück 2017 das erste Mal aufgeführt wurde, damals mit | |
Spielern und Spielerinnen aus Kosovo, gab es noch wütende Proteste von | |
Kriegsveteranen. Die blieben dieses Mal aus. Statt dessen kam der | |
Premierminister. Die kosovarisch-serbisch-US-amerikanische Koproduktion, an | |
der auch serbische Schauspieler beteiligt sind, geht diese Woche nach | |
Belgrad. Das ist ein weiteres Zeichen der Annäherung. Ob dort Polizeischutz | |
nötig ist, wird man sehen. | |
Herausfordernde Momente gibt es einige. Agamemnons Stellvertreter etwa wird | |
vom serbischen Schauspieler Ivan Mihailović verkörpert. Die Figur brüstet | |
sich nicht nur mit seinen Kriegsverbrechen, darunter auch Vergewaltigungen | |
von Frauen und Erschießungen von Homosexuellen. Zurückgekehrt in die | |
Heimat, brechen seine eigenen, lange unterdrückten gleichgeschlechtlichen | |
Begierden durch. Gastgeberland Serbien ist zwar für eine einfallsreiche | |
LGBT-Bewegung bekannt, sorgt aber auch häufig durch homophobe Attacken für | |
Schlagzeilen. | |
Theater in der Region bleibt also ein Motor für einen gesellschaftlichen | |
Wandel. Es verändert sich dabei auch selbst und emanzipiert sich aktuell | |
vom Wüten gegen die politischen Zustände. Mehrere Produktionen beim | |
Festival nahmen individuelle Konflikte und Alltagsprobleme in den Blick. | |
Mit sehr lebendigen Dialogen überzeugte „The Birthday“ des kroatischen | |
Dramatikers Ivor Martinić. Thema ist das Auseinanderbrechen einer aus drei | |
Generationen bestehenden Familie angesichts der schweren Krankheit des | |
Sohnes. | |
## Was ist vorgezeichnet im Leben? | |
In einer Art schwarzen Messe zelebrierte der 14-köpfige Cast des Theaters | |
von Gjakova in der Produktion „Plus 18“ den Ausbruch zweier Männer aus | |
ihrem jeweiligen familiären Wohlstandsgefängnis. Dabei wurde viel | |
Bühnenblut vergossen – aber eben nicht in einem Kriegs-, sondern in einem | |
ganz privaten Amokstück. In dem auch formal überzeugenden Bühnenexperiment | |
– Spielraum ist die schmale Gasse zwischen zwei gegenüberliegenden | |
Zuschauertribünen – werden elementare Fragen angesteuert: Was ist | |
vorgezeichnet im Leben? Wie groß ist der eigene Gestaltungsspielraum? Wie | |
mächtig schlägt das Pendel zurück, wenn man sich zu sehr vom eigenen Kern | |
entfernt? | |
Die Vielfalt der ästhetischen Ansätze und der rege Austausch mit den | |
Nachbarländern überzeugte bei diesem Festival. Um diese Entwicklung zu | |
vertiefen, wurde während des Festivals die Plattform [3][seestage.org] | |
vorgestellt, die Texte zum Theater in der Region sammelt. | |
8 Nov 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Interkulturelles-Festival-der-Volksbuehne-Berlin/!5691502 | |
[2] /Parlamentswahl-im-Kosovo/!5751966 | |
[3] https://seestage.org/ | |
## AUTOREN | |
Tom Mustroph | |
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