| # taz.de -- Roman „Kosovos Töchter“: Bis der Mann den Verstand verliert | |
| > Ralph Hammerthalers Roman „Kosovos Töchter“ erzählt von einer | |
| > Verschwörung gegen das Patriarchat. Sein Protagonist ist ein naiver | |
| > Deutscher. | |
| Bild: Demonstrantinnen in Prishtina am Internationalen Frauentag | |
| Die Frau ist der Schlauch, in dem Ware transportiert wird. Heißt es im | |
| Kanun, jenem Gewohnheitsrecht, das seit Jahrhunderten das Leben der | |
| bäuerlichen Bevölkerung in Albanien regelt und Frauen nahezu jegliche | |
| Rechte abspricht. Dolche sind das neue Modeaccessoire der Frau in den | |
| [1][Straßen von Prishtina], schreibt Ralph Hammerthaler in seinem Roman | |
| „Kosovos Töchter“. Sie gucken glänzend und aufwändig verziert aus den | |
| Handtaschen oder werden links an der Hüfte getragen, die Verschleierten | |
| bewahren sie an Halsketten. | |
| Er erzählt, wie eine neue feministische Bewegung in der Hauptstadt des | |
| Kosovo entsteht, jenem kleinen, komplizierten und hierzulande kaum | |
| bekannten Land, das 2008 seine Unabhängigkeit erklärte – und dessen Krieg | |
| um ebendiese 1998 für die deutschen Grünen ihre schwerste Zerreißprobe | |
| bedeutete. 2013 war der Berliner Schriftsteller Ralph Hammerthaler der | |
| erste Stadtschreiber überhaupt in der kosovarischen Hauptstadt Prishtina, | |
| 145.000 Einwohner. Mittlerweile sind auch Theaterstücke von ihm auf | |
| Albanisch übersetzt. | |
| Sein Roman unternimmt zum Glück gar nicht erst den Versuch, zu behaupten, | |
| er wisse als Mann nach drei Monaten Recherche alles von der Lage und dem | |
| Kampf der Frauen vor Ort – ohnehin ist die feministische Bewegung „V“ | |
| fiktiv, eine wilde, magisch-realistische Fantasie, in der die Frauen zum | |
| Schluss als Vogelschwarm vereint und befreit von den Balkonen in die Luft | |
| fliegen. | |
| Allerdings hat jene Partei, die in „Kosovos Töchter“ von den Frauen | |
| gekapert wird, ein reales Vorbild: [2][Vetëvendosje!], übersetzt etwa | |
| „Selbstbestimmung“, ist eine junge linke Bürgerbewegung, die viele | |
| Künstler*innen versammelt und die Utopie eines „Großalbanien“ vertritt. | |
| Auch Hammerthaler hat von weiblichen Freiheitskämpfen während seiner fünf | |
| Kosovo-Aufenthalte einiges mitbekommen. „Kosovos Töchter“ ist dennoch aus | |
| der Sicht des ein wenig naiv-tölpeligen Deutschen Anton im Jahr 2016 | |
| erzählt, der in Prishtina einst als Soldat stationiert war und nun – | |
| todkrank – zurückkehrt, um dem Phantom einer Frau namens Molikë | |
| hinterherzujagen, was sich allerdings meist im beobachtenden Flanieren in | |
| den Cafés der Stadt erschöpft. | |
| ## Weibliche Utopie unerhörten Ausmaßes | |
| Wie durch Zufall landet er in einem Wohnblock, in dem nur Frauen wohnen, | |
| eine weibliche Utopie unerhörten Ausmaßes. Um da ohne Bedrohung leben zu | |
| können, müssen sie sich einiges einfallen lassen: reiche Sponsoren suchen, | |
| Wohngemeinschaften gründen, Kompromisse eingehen in den Grauzonen von | |
| Prostitution und ständiger Männerbegleitung. | |
| So wie die Aktivistin Veprore, die weibliche Hauptfigur, die sich in der | |
| Uni, in der sie Literaturwissenschaften lehrt, dem männlichen Vorgesetzten | |
| beugen muss, in der Freizeit mit ihrer Freundin Sunita aber gerne „Männer | |
| enthauptet“. Die Verführung als Sport zu betreiben, bis der Mann den – als | |
| begrenzt angenommenen – Verstand verliert, ist wohl die einzig mögliche | |
| Kontrolle über das eigene Sein, wenn man ansonsten mit dem Alibi-Ehemann in | |
| der Wohnung klarkommen muss. | |
| Schön sind die ersten, abgeklärt-verlockenden Flirt-Momente von Anton und | |
| Veprore im achten Stock erzählt. „Kosovos Töchter“ ist am besten, wenn es | |
| zu hart elliptischen, atmosphärischen Dialogen kommt, schwächer ist der | |
| Roman, wenn den Figuren zu viel historische Erklärung in den Mund gelegt | |
| wird – trotz radikaler Kürze und süffig lesbaren Alltagssounds. | |
| ## Beiläufig-pragmatischer Sex | |
| Immer häufiger begleitet Anton Veprore von nun an zu Vorträgen und Treffen | |
| mit Ortsgruppen, hat auch, eher beiläufig-pragmatischen Sex mit ihr, | |
| erlebt, wie sie im Theater eine heftig umkämpfte Spottlesung des Kanun | |
| vorbereitet, es bei einer Veranstaltung zur Massenpanik kommt. | |
| Schön ist auch, wie der Autor am Rande immer wieder beobachtungssatte | |
| Details einflicht: dass die Busse immer noch Anzeigen deutscher Provinzorte | |
| tragen. Dass in der Bar Dit’ e Nat’ Musik von Joy Division läuft. Dass | |
| Kosovarinnen das Bundeswehrradio „Andernach“ hören. Dass in der | |
| Fußgängerzone Spielzeug-Kalaschnikows verkauft werden. | |
| Ohnehin ist das Militär, sind ausländische Soldaten, Nato, Wachtposten der | |
| KFOR, „interkulturelle Einsatzberater“ der Bundeswehr, immer noch | |
| allgegenwärtig im ehemaligen Kriegsgebiet – in einer Nebenhandlung erfahren | |
| wir, wie der deutsche Soldat Dennis sich in Bela verliebt, die vielleicht | |
| auch anders heißt. | |
| Das ist eine selbstironische wie melancholische Männerfantasie, wie vieles | |
| an diesem Buch, in dem die Frauen durchweg cleverer, selbstbewusster und | |
| kämpferischer gezeigt werden als die Männer, aber letztlich doch nur im | |
| Schneckentempo weiterkommen, bis ihnen die Fantasie der sterbenden | |
| Hauptfigur im wahrsten Sinne des Wortes Flügel verleiht. | |
| 29 Dec 2020 | |
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| ## AUTOREN | |
| Dorothea Marcus | |
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| Sead Husić | |
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