| # taz.de -- Filme aus Osteuropa: Kämpfe und ihre Narben | |
| > Das Filmfestival Cottbus zeigt als Forum für osteuropäisches Kino eine | |
| > Auswahl aktueller Produktionen und mehrere Sonderprogramme. | |
| Bild: Rockt den ganzen Film: Zofia Stafiej als 17-jährige in „Jak Najdalej S… | |
| Ola ist gerade zum dritten Mal durch die Führerscheinprüfung gerauscht. Ihr | |
| Vater, der in Irland das Geld für die Familie in Polen verdient, hat ihr | |
| ein Auto versprochen, sobald sie einen Führerschein hat. Mit ihrer Mutter | |
| und ihrem behinderten Bruder lebt Ola in Warschau. Um Geld zu verdienen, | |
| arbeitet Ola in einer Autowäscherei. Das Auto und ihren Vater in Irland | |
| besuchen, ist Olas Plan für einen Ausbruch aus der Enge des eigenen Lebens. | |
| Doch dann kommt ein Anruf aus Irland: der Vater ist bei einem Arbeitsunfall | |
| ums Leben gekommen. Auf Spurensuche fährt Ola nach Irland und findet ein | |
| Gewirr von Arbeitsvermittlern, Subunternehmern und inoffiziellen | |
| Absprachen. Piotr Domalewskis „Jak Najdalej Stad“ („I Never Cry“) wirft | |
| einen nüchternen Blick auf die polnische Arbeitsemigration nach Irland und | |
| Hauptdarstellerin Zofia Stafiej rockt in ihrem Leinwanddebüt den Film. „I | |
| Never Cry“ ist einer der Filme des diesjährigen Filmfestival Cottbus, das | |
| seit einer Woche und noch bis Ende des Monats online stattfindet. | |
| Das Festival in Cottbus ist eine der zentralen Foren für osteuropäisches | |
| Kino in Deutschland. Seit 1991 präsentiert das Festival jedes Jahr eine | |
| Auswahl aktueller Produktionen, ergänzt um Länderschwerpunkte und | |
| Themenprogramme. Die Auswahl, die das Festival online gestellt hat, ist | |
| riesig. Neben den Wettbewerben gibt es die Überblicksschau Spektrum, | |
| Länderschwerpunkte zu russischem, polnischem und tschechischem Film, einen | |
| Themenschwerpunkt zur Wende der 1990er Jahre und den Folgen in Osteuropa | |
| und ein Programm zum Zweiten Weltkrieg aus osteuropäischer Perspektive. | |
| Gleich zwei der russischen Filme greifen die Geiselnahme im Moskauer | |
| Dubrowka-Theater von 2002 auf, mit dem tschetschenische Separatist:innen | |
| einen Rückzug der russischen Truppen erzwingen wollte. Alexey A. Petrukhin | |
| erzählt die Ereignisse in „The Last Trial“ als Thriller, während Ivan I. | |
| Tverdovskiy die Ereignisse in „Conference“ im Rückblick aufgreift. Im | |
| Zentrum von Tverdovskiys Film steht die Ordensschwester Natasha, die das | |
| Attentat überlebt hat. Auch ihre Tochter Galya zählt zu den Überlebenden. | |
| Als Natasha eine Gedenkfeier organisiert, treten die Konflikte zwischen | |
| Mutter und Tochter offen zu Tage. Zentrum des Films ist die Gedenkfeier, | |
| bei der das Geschehen in Zeitzeugenstimmen wieder lebendig wird. | |
| Das Themenprogramm zum Zweiten Weltkrieg entfaltet ein beeindruckend | |
| komplexes Bild der Kämpfe und der Narben, die diese hinterlassen haben. Der | |
| litauische Regisseur Jurgis Matulevičius greift die Geschichte eines | |
| Massakers an Jüdinnen und Juden in Kaunas auf. Ein fiktiver Filmdreh in den | |
| 1960er Jahren wird zum Ausgangspunkt einer Geschichte von Verdrängung und | |
| Opportunismus. Andrzej Winiszewski begibt sich in „Unvergessene | |
| Geschichten“ auf eine Spurensuche in der polnischen Kleinstadt Trzębiel. | |
| Neben Filmen aus der Gegenwart, finden sich auch einige Klassiker: Milo | |
| Harbichs „Freies Land“, gedreht direkt nach Kriegsende in der Westprignitz. | |
| Aleksander Fords „Pierwszy Dien Wolnosci“ („Der erste Tag der Freiheit“… | |
| ein beeindruckend vielschichtiges Familienporträt einer deutschen | |
| Ärztefamilie, die bei Kriegsende nicht nach Westen flieht. Michail | |
| Kalatosow Überklassiker „Letyat zhuravli“ („Die Kraniche ziehen“), der… | |
| überheroischen sowjetischen Filmen der Zeit individuelle Töne | |
| gegenüberstellt. Zu Kalatosows Film gibt es auf der Website des Festivals | |
| ein kluges, aufschlussreiches Gespräch mit der Autorin und Kuratorin | |
| Barbara Wurm. | |
| Auch in der Online-Ausgabe macht das Filmfestival Cottbus deutlich, welche | |
| Leerstelle durch die weitgehende Abwesenheit osteuropäischen Kinos im | |
| Kinoalltag klafft. Man sollte jede Gelegenheit nutzen, um diese reichen, | |
| vielfältigen Filmländer im Blick zu behalten. Ein Onlinefestival ist dafür | |
| eine hervorragende Gelegenheit. | |
| 20 Dec 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Fabian Tietke | |
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