| # taz.de -- Dokumentationen über Prenzlauer Berg: Kulturschock in Bildern | |
| > Das Filmfestival Prenzlauer Berginale zeigt auf einer DVD elf | |
| > Dokumentationen über den heruntergekommenen Berliner Arbeiterbezirk von | |
| > früher. | |
| Bild: Verboten: „Wozu denn einen Film über diese Leute?“ (R.: Thomas Heise… | |
| Es mag schon sein, dass man in der DDR an einem Mangel an Bananen litt, | |
| Zigaretten dagegen gab es offensichtlich mehr als genug. Diesen Eindruck | |
| bekommt man jedenfalls, wenn man sich die Sammlung an Kurzfilmen anschaut, | |
| die im Prenzlauer Berg gedreht wurden und auf einer DVD zum | |
| Stadtteil-Filmfestival „Prenzlauer Berginale“ zusammengetragen wurden. | |
| Da wird im Wohnzimmer gequalmt, bei der Arbeit, auf dem Spielplatz, von | |
| Jugendlichen genauso wie von mehr oder weniger Kindern. Wahrscheinlich wäre | |
| das bei einer Zeitreise in die BRD der Achtziger – die meisten Fime auf der | |
| DVD stammen aus diesem Jahrzehnt – gar nicht so viel anders, rauchen war | |
| damals eben einfach noch schick, es fällt halt nur auf. | |
| Und dass man ständig auf derartige Details aus vergangenen Zeiten stößt, | |
| dazu noch aus einem untergegangenen Staat und speziell aus einem | |
| Ostberliner Stadtteil, den man kaum wiederzuerkennen vermag, das macht | |
| unheimlich viel Spaß bei diesen elf Dokumentationen. | |
| Der ganze Straßenzug voller Trabbis, die Hinterhöfe völlig kaputt und | |
| unsaniert, die Kohleöfen in den Wohnungen, Supermärkte gab es keine, | |
| sondern nur „Kaufhallen“, weil Anglizismen kaum vorkamen im Sprachgebrauch | |
| der DDR. Es ist eigentlich noch gar nicht so lange her, dass das der Alltag | |
| war in Ostberlin und gleichzeitig kann man kaum glauben, dass es diesen so | |
| überhaupt jemals ins unserer Stadt gegeben hat. | |
| Der längst totsanierte Prenzlauer Berg war einmal tatsächlich ein | |
| heruntergekommenes Arbeiterviertel. Sich das noch einmal zu | |
| vergegenwärtigen, löst regelrecht einen Kulturschock aus. In einem Film | |
| wird erwähnt, die Mieten haben damals nicht mehr als drei bis fünf Prozent | |
| des Nettoeinkommens eines Bürgers betragen. An der Stelle denkt man sich | |
| endgültig: Ist ja verrückt. | |
| ## Festival wird nachgeholt | |
| Die Prenzlauer Berginale hat in diesem Jahr zum fünften Mal stattgefunden. | |
| Zumindest ein bisschen. An vier Dienstagen im März hätte sie im Kino | |
| Babylon laufen mit Filmen im und über den Prenzlauer Berg sollen. Ein | |
| Termin konnte wahrgenommen werden. Dann kam der Corona-Lockdown. Nächstes | |
| Frühjahr soll das Filmfestival nachgeholt werden. Bis dahin hilft die DVD. | |
| Der Prenzlauer Berg war und ist immer noch gerne Kulisse für Berlin-Filme. | |
| Klassiker von „Solo Sunny“ bis „Sommer vorm Balkon“ wurden hier gedreht. | |
| Die Prenzlauer-Berginale-Filme dagegen sind eher schmucklose, weitgehend | |
| unbekannte Dokumentationen. Kleine DEFA-Filme oder Übungen angehender | |
| Regisseure an der Filmhochschule, so auch von dem längst etablierten | |
| Dokumentarfilmer Thomas Heise. | |
| Dessen Film von 1980 mit dem Titel „Wozu denn einen Film über diese Leute?“ | |
| gehört mit zu den Filmen auf der DVD, die in der DDR gleich verboten | |
| wurden. Heise wurde über einen Freund auf ein Brüderpaar aufmerksam | |
| gemacht, das er dann porträtierte. Dem Freund wurde von den Brüdern das | |
| Motorrad geklaut. Anstatt zur Polizei zu rennen, machte er die Diebe selbst | |
| ausfindig und erzählte Heise von den beiden, der sich von diesen dann vor | |
| der Kamera aus derem Leben erzählen ließ. | |
| Heises Dozent an der Filmhochschule soll dann die titelgebende Frage | |
| gestellt haben: „Wozu denn einen Film über diese Leute?“ Kleinkriminelle | |
| hätte es schließlich in der DDR gar nicht geben sollen, da wollte man nicht | |
| auch noch Filmemacher auf diese loslassen. Gut, dass Heise sich von dem | |
| Einwand nicht abhalten ließ. Es gibt tolle Szenen in dem Film. | |
| Etwa wie sich die beiden Brüder mit einem Freund in der Kneipe treffen und | |
| der ihnen Aufnahmen der neuesten heißen Scheiben aus dem Westen andrehen | |
| will. Pink Floyd, Deep Purple, Kraftwerk, alles vorhanden. Oder wie stolz | |
| Poster von Paul Stanley und Gene Simmons in vollendeter Kiss-Schminke hoch | |
| gehalten werden. Kiss, sagt der eine der Brüder, das sind „ungefähr fünf | |
| Mann“, vielleicht, räumt er ein, aber auch nur vier. | |
| ## Alltagsszenen ohne Kommentare | |
| Irre Plots wie bei Netflix-Dokumentationen oder das nervige | |
| An-die-Hand-nehmen des Zuschauers durch einen Erzähler, wie das heute bei | |
| den Recherche-Filmen der Öffentlich-Rechtlichen üblich ist, gibt es bei | |
| diesen Dokumentationen nicht. Nur in dem Film über das Gaswerk, das dort | |
| stand, wo sich heute der Thälmannpark befindet, und das Anfang der | |
| Achtziger abgerissen wurde, werden propagandamäßig die Vorteile des | |
| sozialistischen Staats gepriesen. | |
| Ansonsten wird einfach nur der Alltag beobachtet, meist ohne groß zu | |
| kommentieren, und das reicht völlig aus für interessante Geschichten. Etwa | |
| für die über das Denkmal der Käthe Kollwitz am Kollwitzplatz in einem | |
| Kurzfilm von 1971. Passanten werden befragt, wie sie es denn finden würden, | |
| dass Kinder ständig auf dem Denkmal herumklettern würden. Die meisten sehen | |
| das eher kritisch und reagieren typisch deutsch und ordnungsliebend. | |
| Die Pointe kommt zum Schluss und im Abspann als kritischer Seitenhieb | |
| gegenüber den spießigen Interviewten. Es wird angemerkt, dass der Erbauer | |
| des Denkmals sich ausdrücklich gewünscht habe, dass Kinder auf der | |
| gusseisernen Käthe herumtoben. | |
| 26 Dec 2020 | |
| ## AUTOREN | |
| Andreas Hartmann | |
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